Hier und jetzt


Jisungs Pov:

„Wir sind da", verkündete mir der junge Mann mit den Sommersprossen und den stechend grünen Augen.

Als ob ich das nicht bemerkt hätte.

Schließlich waren wir durch ganz Memphis geritten, bevor wir den gut befestigten Weg zum Anwesen von Ani Hamed eingeschlagen hatten. Auch wenn meine Wahrnehmung durch die anhaltenden Schmerzen, die sich bei zu schnellen oder ungeschickten Bewegungen offenbarten, leicht getrübt war, so hatte ich meine Umgebung nicht vollständig ignoriert.

Ein großer Innenhof tat sich nun vor uns auf und mehrere Diener eilten uns entgegen, um das Gepäck und die Pferde in Empfang zu nehmen.

Mit einem minimalen Ziehen an den Zügeln brachte ich mein liebes Pony also zum Stehen und machte mich auf das Absitzen gefasst. Dazu schwang ich mein Bein über den Pferderücken, stützte mich nahe der Schulterpartie des Ponys ab und rutschte dann möglichst vorsichtig auf der linken Seite nach unten. Felix hatte sich bereits so hingestellt, dass er mich notfalls auffangen konnte und ich war ihm mehr als dankbar für die Unterstützung. Ein kleiner Ruck ging durch meinen Körper, als ich auf dem Boden landete, und sogleich stützten mich Felix Hände, als ich einen Schritt nach hinten taumelte. Das Brennen und Ziehen in meinem Rücken war durch die Bewegung wieder schlimmer geworden und ich sog scharf die Luft ein.

„Komm, ich bringe dich jetzt schon zu deinen und Seungmins Räumlichkeiten." Dankbar nickte ich dem Großwesir zu und tapste mit kleinen, unsicheren Schritten durch die langen Gänge des geschmackvollen Anwesens. Es war zwar nicht so groß wie der Palast des Pharaos, aber dennoch eindrucksvoll und ähnlich prunkvoll ausgestaltet. Auch hier liefen eine Menge Bedienstete umher und verbeugten sich gleich, sobald sie uns auch nur erblickten.

Das einzige, was ich jetzt noch wollte, war, mich hinzulegen und auszuruhen. Meine ganze Kraft war in den letzten Stunden dafür verbraucht worden, mich aufrecht im Sattel zu halten, mich nie zu viel zu bewegen und gleichzeitig die Bilder des heutigen Geschehens aus meinem Kopf fernzuhalten. Doch es hatte nur wenig geholfen. Immer wieder sah ich die blanke Klinge vor meinem geistigen Auge aufblitzen, das Blut aus der Wunde strömen und mein Rücken erinnerte mich bei jedem Schritt aufs Neue an den rücksichtslosen Hieb der Peitsche.

„Eine von Minhos Wachen wird Seungmin und dich später zum Festsaal begleiten, aber noch hast du ein wenig Zeit, dich auszuruhen und umzuziehen", verkündete Felix.

„Bitte was?" Ich blieb mitten im Gang stehen und starrte ihn wahrscheinlich ziemlich entgeistert an, da ich mit vielem gerechnet hatte, aber nicht damit, dass ich mich in kürzester Zeit schon wieder in der Öffentlichkeit zeigen musste. Und dann auch noch unter diesen Umständen. Mich überkam die Sorge, dass mein Körper das nicht durchstehen würde.

„Ani Hamed gibt zu Ehren unserer Ankunft heute ein Festessen. Alle hohen Beamten und Priester aus Memphis werden anwesend sein. Auch in den nächsten Tagen werden Minho und ihr immer wieder solchen Gastmählern beiwohnen." Der Braunhaarige warf mir einen besorgten Blick zu. „Ich bin davon ausgegangen, du wüsstest das bereits."

Mit einem leisen Seufzen blickte ich zu Boden, schüttelte den Kopf und folgte dem Großwesir dann zu einer hohen Tür, die er für mich öffnete. „Dann empfehle ich dir, dich jetzt noch ein bisschen auszuruhen, Jisung. Ich bin mir sicher, du schaffst das." Er wollte mir wohl ein aufmunterndes Lächeln schenken, aber meiner Meinung nach misslang es ihm kläglich.

Ob er auch noch an das Gespräch mit Changbin denken muss, das sie heute Vormittag geführt haben? Und bitte was bleibt mir auch für eine Wahl, als weiterzumachen?

Ich hatte keine anderen Optionen, als die Zähne zusammenzubeißen, und diesen Abend und alle folgenden zu überstehen.

Einfach nett lächeln und hübsch aussehen. Am besten nicht zu viel sprechen und niemandem zur Last fallen... Das ist jetzt offenbar meine Aufgabe.

Stumpf nickte ich dem jungen Mann mit den grünen Augen zu und trat in die Gemächer, die für mich und eine weitere Person zurecht gemacht worden waren. Seungmin war noch nicht hier und gerade hatte ich auch keine Ambitionen, ihn zu suchen oder zu fragen, wo er steckte. Ich zog die Tür ins Schloss und lief zu der weichen Anhäufung von Decken und Kissen, ließ mich so behutsam wie möglich darauf sinken, drehte mich auf den Bauch und umschlang eines der Kissen mit beiden Armen. Dann schloss ich die Augen und versuchte, meinen Körper zu entspannen und Ruhe in all dem Chaos zu finden. Doch sogleich tauchte wieder die Horrorszene vor meinem inneren Auge auf.

Blut. Zorn. Schmerz. Hektik. Grausamkeit. Hilflosigkeit.

Meine Finger gruben sich fester in das Kissen, als ich erneut durchlebte, wie der Mann vor mir starb.

Auch als Seungmin zehn Minuten später den Raum betrat, lag ich noch wach und vollkommen regungslos auf meinem Lager. Der braunhaarige Junge eilte sogleich zu mir und beugte sich neben mir herab.

„Jisung. Wie geht es dir?" Seine Hand strich fürsorglich über meinen Arm und ich drehte meinen Kopf schwerfällig in seine Richtung.

„Es wird sicher bald besser werden, Minnie", murmelte ich schwach und blinzelte den anderen an. Dieser seufzte tief und sah mich dann tadelnd an. „Das hätte böse enden können, Jisung. Dieser Mann hätte noch viel Schlimmeres tun können. Und weist du eigentlich, wie gefährlich es ist, sich vor ein verängstigtes Tier zu stellen? Es hätte dich treten oder sogar niedertrampeln können, wäre es in Panik geraten."

Diese Möglichkeit hatte ich bis jetzt gar nicht beachtet, aber Seungmin hatte Recht.

Ich bin sehr unvorsichtig gewesen und habe vorschnell gehandelt. Mir hätte auch wesentlich Schlimmeres passieren können. Aber geht es wirklich noch schlimmer? Noch tragischer und aussichtsloser?

„Ich musste dem Tier helfen. Niemand sonst hat es getan", gab ich schnippisch zurück und vergrub mein Gesicht wieder in dem Kissen. Diesmal hörte ich ein leises, resigniertes Seufzen. „Aber dabei musst du doch nicht dein eigenes Leben riskieren, Sungie. Dieses Leben ist ebenso kostbar und wichtig wie das in der Ewigkeit."

Diesmal antwortete ich gar nicht und mein Freund erhob sich nach einer Weile des Schweigens.

„Na gut, ruh dich noch ein wenig aus. Ich suche dir etwas zum Anziehen heraus und lege es dir zurecht. Wenn du schlafen kannst, dann wecke ich dich in einer halben Stunde – vielleicht auch etwas eher."

„Danke", nuschelte ich lediglich und versuchte mich tatsächlich zu entspannen.

Doch es half nichts. Für mich gab es keine Möglichkeit, Schlaf oder Erholung zu finden. Deshalb stand ich nach zehn quälend langen Minuten auf und beschloss, mich umzuziehen. Seungmins Kleiderwahl war tadellos und ich wusch mir vorsichtig das Gesicht, den Hals und meine Arme, bevor ich in das kurze Leinengewand schlüpfte. Der Stoff war so weiß, wie es eben ohne moderne Bleiche möglich war, und hatte hübsch blaue Stickereien. Die Schuhe aus weichem Leder, die hochgeschnürt werden mussten, bereiteten mir diesmal einige Sorgen. Da ich meinen Rücken krümmen musste, um sie zu binden, war es eine Tortur, und schließlich half mir Seungmin dabei.

Das Make-up bereitete mir langsam nicht mehr solche Kopfzerbrechen und ich trug den Kajal dezent unter dem Augenlid auf. Dann betonte ich meine Lippen und weigerte mich, wie fast immer, eine Puderschicht aufzutragen.

Gerade als ich mich noch ein paar Minuten setzten wollte, kündigte die Wache vor unserem Gemach Felix Eintreffen an, und ich runzelte die Stirn, da ich ihn nicht erwartet hatte. Der junge Mann trat ein und begrüßte Seungmin höflich. Anschließend blickte er zu mir herab und streckte mir seine Hand entgegen.

„Jisung, seine Majestät wünscht dich zu sehen."

Allein diese wenigen Worte schafften es, mich komplett aus der Bahn zu werfen und meine Angst zu entfachen.

Was will Minho jetzt von mir? Wird er mich nun für mein Fehlverhalten von heute zur Rechenschaft ziehen? Will er mich bestrafen, weil ich ihm Ärger gemacht habe? Oder ist er immer noch wütend wegen des Abends mit Hyunjin? Will er jetzt da weitermachen, wo er damals gestoppt hat?

Meine Panik steigerte sich so sehr, dass mein Puls in die Höhe schoss und förmlich im gesamten Körper zu spüren war. Und da ich mich nicht weigern konnte, fasste ich zögerlich nach Felix Hand, ließ mich von ihm auf die Beine ziehen und folgte ihm, als er durch die Tür in den Gang trat. Rasch versuchte ich, das Zittern meiner Hände zu verstecken. Stattdessen krallte ich sie in das Gewand und sah zu Boden, während ich ihm nachlief.

Der Weg zu den Gemächern des Königs war nicht so weit, wie ich vermutet hätte. Eigentlich mussten wir nur zweimal abbiegen und schon standen wir vor einer schweren Holztür, die von mehreren Wachen gesichert wurde, und einer der Männer kündigte nun unser Kommen an.

Felix öffnete selbst die Tür, doch trat dann zur Seite und bedeutete mir, allein hineinzugehen. Ich gab mein Bestes, um meine Angst niederzuhalten und stark aufzutreten, aber ich wusste nicht, ob es mir gelang, als ich den großen Raum, der wesentlich düsterer wirkte als die königlichen Gemächer im Palast, betrat. Mit wackeligen Schritten und zitternden Händen schritt ich in den Raum, hörte das Zufallen der Tür und hätte mich am liebsten in eine Ecke zurückgezogen.

Ich entdeckte Minho nahe einem der Fenster. Er stand dicht neben einem niedrigen Tisch, auf dem einige Kästchen und Behälter gestapelt lagen. Sein Rücken war mir zugewandt, während er etwas zu suchen schien, und dennoch sprach er vollkommen ruhig zu mir.

„Komm her."

Mein Gehirn reagierte rein instinktiv und ich lief zu ihm, aber stellte mich schräg hinter ihn. Dabei beobachtete ich jede seiner Bewegungen, um bereit zu sein, bei der kleinsten unheimlichen Geste die Flucht zu ergreifen. Eine Flucht, zu der ich vermutlich niemals den Mut aufbringen würde und deren Folgen unabsehbar waren.

Minho drehte sich zu mir um, ließ seinen Blick an mir herabgleiten und seine Miene verdüsterte sich kurzzeitig.

„Zieh dein Gewand aus", wies er mich forsch an und drehte sich zurück zum Tisch, um nach etwas zu greifen, das darauf lag.

Eine eisig kalte Hand griff nach meinem Herzen und gleichzeitig schnürte sich meine Kehle zu.

Ich hätte es wissen müssen. Er wird keine Rücksicht auf mich nehmen, nur weil ich verletzt bin. Er kennt keine Gnade und wird mich auch nicht länger verschonen, nachdem er nun weiß, dass ich ihn hingehalten habe. Er wird sich das nehmen, was er will.

Hier und jetzt.



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Und was denkt ihr, was wird Minho tun? 


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