Glaubensfragen
Jisungs Pov:
Mein Donnerstagmorgen verlief sehr ruhig und die Vorlesung, die ich besuchen musste, nutzte ich vielmehr dazu, meine Erkenntnisse zu dem Rätsel aufzuschreiben und zu sortieren. Ich wusste, dass Yeosang und ich der Lösung immer näherkamen und allein diese Tatsache machte mich nachdenklich. Zum einen war da die Frage, wen oder was wir am Ziel dieser Erkundungen finden würden und zum anderen die Ungewissheit, wie wir damit umgehen sollten, wenn wir es entdeckten.
Als ich diesmal den Raum für mein Tutorium betrat, war ich immer noch etwas abwesend und bemerkte zunächst gar nicht, dass die Stunde bereits begonnen hatte. Ich blickte immer noch auf meinen Notizblock, auf dem mittlerweile ein buntes Durcheinander aus Verbindungslinien, Kreisen und notierten Erklärungsversuchen zu erkennen war. Erst als es merklich still im Kurs blieb, sah ich auf und beeilte mich, meine Arbeitsmaterialien auszupacken und die Präsentation zu starten.
„Entschuldigt bitte, ich war noch in Gedanken... aber jetzt widmen wir uns gemeinsam den klausurrelevanten Themen. Am Dienstag haben wir bereits über die speziellen Grabbeigaben, den Ritus des Sterbens und der Bestattung gesprochen. Ich hoffe, ihr habt euch alles Wichtige notiert. Also dann, beginnen wir doch mit einem Exkurs in die Mythologie. Fallen euch wichtige altägyptische Gottheiten ein und auch Besonderheiten dieser Götter wie zum Beispiel ihre Funktion oder bestimmte Erscheinungsformen?" Die Frage nach den Funktionen oder auch den Wirkungsbereichen der Götter war beinahe eine Fangfrage, denn was das betraf, waren diese erdachten, übernatürlichen Wesen äußerst vielseitig.
Sogleich schnellten einige Hände in die Höhe und beruhigt darüber, dass die Studierenden nicht unwissend waren, gab ich einem Mädchen in der zweiten Reihe die Chance zu sprechen.
„Professor Bassir hat ausführlich vom Sonnengott Re gesprochen, er wird mit Falkenkopf und Sonnenscheibe dargestellt. Er ringt jeden Tag mit der Schlange Apophis, die selbst eine Gottheit darstellt."
Ich nickte zustimmend und ergänzte noch rasch: „Du hast gerade zwei sehr wichtige Götter genannt. Vor allem Re, auch Ra genannt, wurde in Ägypten weithin verehrt. Man sagte sogar, Re sei die Sonne selbst. Dies unterscheidet die ägyptische Schöpfungsgeschichte von vielen anderen. Die Sonne wird nicht durch ein übernatürliches Wesen erschaffen, sondern sie existiert bereits in der Form eines Gottes."
Der etwas schüchterne Junge aus der letzten Stunde meldete sich ebenfalls und ich bedeutete ihm mit einer Geste, weitere Götter zu nennen.
„War es nicht auch so, dass Atum als Gott der Schöpfung angesehen wurde? Ist er dann also der oberste Gott?", fragte er und ich musste zugeben, dass er damit ein Thema angesprochen hatte, das nicht so leicht zu beantworten war.
„Ja und nein, im Götterkult der Ägypter herrschte kein Konsens über den Stammbaum der Götter", erklärte ich. „Es gibt verschiedene Versionen der Geschichte und manchmal ist Re der oberste Gott, manchmal Atum, in anderen Erzählungen sind sie es irgendwie beide und ihre Bedeutung wird gleichgesetzt. Eine klare Benennung ist also beinahe unmöglich." Ich zuckte kurz mit den Schultern, da ich es auch nicht besser beschreiben konnte. Die einzigen, die es möglicherweise detaillierter erklären könnten, waren seit mindestens zweitausend Jahren tot.
Dennoch schien der Junge meine Erläuterung zu verstehen und dankte mir mit einem Nicken.
Natürlich meldeten sich auch die beiden Vorzeigestudenten aus der letzten Reihe und ich gab dem Dunkelhaarigen die Chance, mich mit seinem Wissen zu beeindrucken. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass er mir seine Nummer zugesteckt hatte und ich ihm bisher nicht geschrieben hatte. Einen Moment hielt ich mein Verhalten für unhöflich, andererseits wollte ich in ihm auch keine falschen Hoffnungen wecken, was keine Antwort auch zu einer Antwort machte.
Da antwortete der Dunkelhaarige laut und deutlich: „Wenn wir aber versuchen, einen Schöpfungsmythos abzuleiten, entstanden nach Re und Atum die Götter Schu, ein Luftgott mit einer Feder auf dem Kopf, und Tefnut, die Göttin der Feuchtigkeit, dargestellt mit einem Löwenkopf." Der junge Mann grinste mir wissend entgegen und fuhr dann fort. „Gemeinsam mit ihren Kindern Geb, dem Gott der Erde, und Nut, der Himmelsgöttin, die zuständig für die Sterne ist, erschufen sie Raum, Zeit und diese Welt, die sich die Ägypter als eine Scheibe von vier Säulen getragen vorstellten."
Eines musste ich ihm lassen, er war ziemlich intelligent und normalerweise mochte ich es, mich mit solchen Menschen zu unterhalten. Sicher konnte man prima mit ihm diskutieren und Wissen austauschen. Vielleicht sollte ich doch in Erwägung ziehen, mich mit ihm zu treffen. Allerdings musste ich ihm dann klarmachen, dass diese Beziehung auf rein platonischer Ebene bleiben würde, da ich nicht an Männern interessiert war. So wie ich ihn einschätzte, würde er das verstehen.
„Das war kürzer und prägnanter zusammengefasst, als ich es gekonnt hätte", gab ich freimütig zu und wandte mich dann an seinen Sitznachbarn. „Möchtest du gleich mit der nächsten Generation weitermachen?"
Der Blondschopf verstand den Wink mit dem Zaunspfahl und nickte enthusiastisch, bevor er sogleich weitere Gottheiten vorstellte. „Die nächste Generation sind dann tatsächlich die Götter, die wohl am bekanntesten sind und häufig in Geschichten und Mythen erwähnt werden. Also da hätten wir Osiris, den Gott der Unterwelt, der meist als Mumie dargestellt wird. Er steht für die Wiedergeburt und das ewige Leben. Dann gibt es noch seine Frau Isis, die Schutzgöttin und Mutter Ägyptens. Sie wird mit Kuhhörnern und Sonnenscheibe dargestellt und soll gefürchtet worden sein, da sie Tote beim Eintreten in die Unterwelt verstummen lassen konnte. Dies war so schrecklich, weil die Verstorbenen dann dem Totengott mit Schakalgesicht, Anubis, nicht ihren Namen sagen konnten und somit zu ewiger Finsternis verdammt waren. Und dann ist da noch Seth, der Gott des Bösen und der Vernichtung, er wurde meist mit einem Fabeltierkopf dargestellt, der sich nicht exakt einem Wesen zuordnen lässt."
„Sehr gut." Da ich auch noch etwas zu meinem eigenen Tutorium beitragen wollte, lehnte ich mich locker an meinen Tisch und erklärte dann. „Osiris, Isis und Seth...diese drei Götter haben eine recht bewegte Geschichte zusammen, deren Auswirkungen wir schon in der letzten Stunde angerissen haben. Es gibt zwar wieder verschiedene Versionen, doch ich erzähle euch die bekannteste und verbreitetste Variante: Seth missgönnte seinem Bruder Osiris die Herrschaft über das fruchtbare Land Ägypten und ebenso die Anerkennung und Liebe der Menschen zu ihrem Beschützer. Also beschloss Seth, seinen eigenen Bruder zu überlisten und zu töten. Er lockte ihn in einen Sarkophag, der genau für ihn abgemessen war, und verschloss diesen, warf ihn ins Meer und regierte nun anstelle von Osiris über das reiche, friedliche Land. Aber Isis, die Frau des Osiris, gebar einen Sohn, Horus. Dieser besaß zwei besondere Augen, das rechte stand für die Sonne und das linke für den Mond. Horus soll die Schwingen eines Vogels besessen haben und wird deshalb mit einem Falkenkopf dargestellt. Als der junge Gott also die Geschichte des Verrats hörte, entschied er, seinen Vater zu rächen und begann einen Krieg gegen Seth. Er wollte die rechtmäßige Herrschaft über sein Land zurück, aber im Zweikampf stach ihm sein Onkel das linke Auge aus und besiegte Horus. Hier streiten sich die Quellen, ob das Auge nur herausgerissen, oder tatsächlich zerstört wurde. Jedenfalls irrte der junge Gott einige Zeit orientierungslos und entmutigt umher, bis er sein linkes Auge, das Mondauge, mithilfe des Mondgottes Thot wieder heilen konnte. So erlangte er neue Stärke und bekämpfte seinen machtversessenen Onkel erneut, stieß ihn vom Thron und wurde selbst zum Kriegs-, Königs- und Himmelsgott."
Ich sah mich im Kurs um, der vollkommen still vor mir saß. Viele Augenpaare ruhten auf mir und die Studierenden lauschten gebannt dem Mythos, den ich so knapp wie möglich erzählt hatte. Natürlich hätte ich ihn mit allerlei nebensächlichen Handlungssträngen und Ausschmückungen der grausamen Taten anfüllen können, aber ich wollte keinen ellenlangen Monolog vortragen. Deshalb versuchte ich nun einen eleganten Übergang zum folgenden Gespräch zu finden. „Und genau da kommt die damalige gesellschaftliche Aufteilung und die Gottesfurcht ins Spiel. Die alten Ägypter glaubten, dass ihre Könige von den Göttern vorherbestimmt wurden. Das bedeutet, Könige oder Pharaonen, wie man sie damals nannte, wurden von Geburt an für göttliche Kinder gehalten, denen die Herrschaft auf Erden gebührte. Ganz besonders verehrt wurde der Gott Horus und ein Pharao war gleichgestellt mit einem Sohn des Himmelsgottes oder sogar seine wahre Inkarnation höchstpersönlich. Die Bevölkerung sah ihren König als einen Gott... mal mehr, mal weniger. Teilweise wurden Pharaonen auch göttliche Fähigkeiten und Eigenschaften nachgesagt; sie wurden zu einem lebendigen Horus auf Erden erhoben."
Eine Studentin meldete sich und ich sah bereits an ihrer gerunzelten Stirn, dass sie etwas nicht ganz verstand.
„Aber warum hat man den Königen diese Macht zugestanden? Es muss doch einen Grund geben, dass man auf diese Idee kommt."
Ich lächelte wohlwollend und wandte mich an den gesamten Kurs.
„Kann sich jemand von euch vorstellen, weshalb die Menschen ihre Pharaonen so verehrten? Warum man einen einfachen Menschen gottähnlich behandelt?" Mir war bewusst, dass dieses Thema durchaus eine Grundsatzdiskussion auslösen konnte, die definitiv auch in die heutige Zeit transferiert werden konnte und den Glauben an sich in Frage stellte.
Das Mädchen mit den langen, braunen Haaren drehte sich zu ihrer Kommilitonin um.
„Ich schätze, so ist es leichter, die Herrschaft eines anderen Menschen über sich selbst zu akzeptieren. Wäre nichts an diesem Menschen besonders, warum sollte er dann über einem selbst stehen?"
Ich nickte zustimmend. „Sehr treffend formuliert. Wir würden aus heutiger Sicht nur noch selten erlauben, dass sich eine Person so über uns stellt. Unsere Bedingungen zu denen wir für jemanden arbeiten, ihm gehorchen oder in welcher Weise wir ihm Gefallen tun, hat sich stark gewandelt."
Ich machte eine Pause und blickte mich dann im Raum um.
„Befinden sich Gläubige unter euch?" Ich nahm wahr, dass sich etwa die Hälfte der gut dreißig Studierenden meldete. Tatsächlich hatte ich mit mehr Meldungen gerechnet, da wir uns in einem Land befanden, dass dem muslimischen Glauben stark zugewandt war. Doch gleichzeitig waren nicht alle Studierenden Einheimische. Viele meiner Kommilitonen kamen aus verschiedenen Ländern – von den Vereinigten Staaten, über Frankreich bis hin zu den Philippinen – und alle lernten und forschten gemeinsam, um die Geschichte dieser Welt besser zu verstehen.
„Ihr habt euren Glauben an einen Gott oder möglicherweise seid ihr ebenso Polytheisten, wie es die alten Ägypter mit ihren Göttern waren. Das Entscheidende am Vertrauen in eine höhere Macht ist, dass allein dieser Glaube einen Gesinnungswandel in uns bewirken kann: Er gibt uns eine Richtung und eine Denkweise vor, er kann uns schützen und beflügeln, er kann uns ebenso einschränken, aber das Wichtigste ist, dass wir selbst bestimmen können, wem und wie wir folgen, während es diese Freiheit damals noch nicht gab."
Die Studierenden machten sich Notizen und schienen meine Erklärung hinzunehmen, denn ich erkannte in ihren Gesichtern keine übergroßen Fragezeichen.
„In Ordnung, wenn es dazu keine Fragen gibt, dann können wir uns noch einigen anderen Gottheiten widmen. Fallen euch weitere Beispiele ein?"
Die meisten im Kurs sahen etwas ratlos drein oder mieden meinen Blick, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, zum Sprechen aufgefordert zu werden. Aber natürlich ließen mich die beiden Studenten aus der letzten Reihe nicht im Stich, also ließ ich den Blonden zuerst antworten.
„Es gibt auch noch Bastet, die Göttin der Freude, die häufig in Form einer Katze dargestellt wird und ihr Gegenstück Sachmet, die hingegen als die wütende und zerstörerische Göttin beschrieben wird. Und dann ist da noch Bes, ein kleinwüchsiger Gott, der die Häuser schützt und Musik und Tanz schätzt."
Wie zu erwarten, kamen die Antworten rasch und präzise und da ich nichts hinzuzufügen hatte, sah ich auffordernd zu dem Dunkelhaarigen, der schelmisch grinste. „Es gibt aber auch einen Gott der Fruchtbarkeit und Zeugungskraft... Min heißt er doch, oder?"
Kurz fragte ich mich, ob er mich in Verlegenheit bringen, oder einfach mein Wissen testen wollte. Möglicherweise war es auch ein komischer Flirtversuch und deshalb antwortete ich vollkommen ruhig und unbeeindruckt.
„Richtig, der Gott Min wird häufig mit einer Federkrone und einem erigierten Glied dargestellt, um seine herausragenden Eigenschaften für jeden sichtbar zu machen", vervollständigte ich die Informationen und hörte das unterdrückte Kichern aus einigen Richtungen, während der Dunkelhaarige immer noch grinste. „Kennst du noch andere Beispiele?" Der Student zuckte die Schultern und ich sah mich hoffnungsvoll im Kurs um. Da keiner weitere Götter nannte, musste ich wohl noch einige Denkanstöße geben.
„Was ist zum Beispiel mit der Göttin Maat? Sie ist für ihre Weisheit und die Gerechtigkeit bekannt, sicher habt ihr das Wort Maat bereits im Kontext der Vorlesung gehört."
Ein Mädchen meldete sich. „Ist das nicht auch die Bezeichnung für die von den Göttern gegebene Ordnung der Dinge?"
„Korrekt, sie bezeichnet das rechte Maß, ein Gleichgewicht, das aufrechterhalten werden musste und im alten Ägypten war ebenfalls der Pharao dafür zuständig, dass die gottgegebene Ordnung durchgesetzt wurde."
Ich sah auf meine Uhr und bemerkte bedauernd, dass es nur noch zwei Minuten bis zum Stundenende waren. Jedenfalls entschied ich mich für eine letzte Frage.
„Ist euch bei all den Aufzählungen zu den Eigenschaften und dem Aussehen etwas aufgefallen?"
Der gesamte Kurs schwieg und ich verstand, dass auch sie langsam am Ende ihrer Aufmerksamkeit angelangt waren. Gerade die letzten Minuten konnten sich dann noch ewig hinziehen wie Kaugummi, deshalb zeigte ich die nächste Folie, auf denen einige der Gottheiten mit ihren Erkennungsmerkmalen abgebildet waren. Ich beschloss, den Studierenden nur einen kleinen Anstoß mitzugeben.
„Das Faszinierende an den vielen Göttern ist außerdem, dass die Menschen sich ihre Gestalt und Wirkung ganz unterschiedlich vorgestellt haben. Ihr Aussehen und ihre Funktionen variierten, je nachdem was gerade benötigt wurde. Klar, ihr habt jedes Mal deutliche Zuordnungen getroffen, um mir die Beispiele zu beschreiben, aber später bei Ausgrabungen und Fundstücken wird diese Zuordnung nicht immer sofort eindeutig sein. Deshalb ist es entscheidend, nicht nur die Namen zu den Göttern zu kennen, sondern auch ihre Geschichte."
Damit beendete ich das Tutorium und entließ die Studierenden aus dem Raum. Zuvor aber schnappte ich mir noch ein Blatt, das ich vorgestern Abend noch beschrieben hatte und legte es den beiden wissbegierigen Studenten auf den Tisch.
„Bitteschön, ihr wolltet einige meiner Quellen. Ich denke, das dürfte euch bei den zukünftigen Recherchen helfen." Die beiden bedankten sich und ich überlegte schon, ob ich den Dunkelhaarigen ansprechen sollte, aber dieser schien es eilig zu haben. Also ließ ich die beiden gehen und blickte ihnen noch einen Augenblick lang gedankenverloren nach.
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