Geteilter Verlust

Jisungs Pov:

„Wie wäre es stattdessen mit Edelsteinen... vielleicht Smaragde oder Rubine?", hörte ich da schon meine eigene Stimme.

Minho hob eine Augenbraue und dann versetzte er noch zielsicher die Holzfigur, die er gerade zwischen den Fingern hielt, trat daraufhin vom Tisch zurück und kam stattdessen zu mir. Der Pharao ließ sich mit einem geringen Abstand neben mir auf dem Divan nieder und dachte einen Augenblick lang nach.

„Wieso gerade diese Materialien, Jisung? Ihre Verarbeitung ist aufwendig und das Einfügen in den Stein wird nicht leicht, selbst für die besten Handwerker."

Nun durfte ich also zusehen, wie ich mich aus dieser Situation herausredete.

Entschlossen hob ich den Blick, begegnete dem von Minho und sagte dann: „Ein so mächtiger Herrscher wie ihr sollte nur das Beste für sich beanspruchen. Zusätzlich haben die Edelsteine einige bemerkenswerte Eigenschaften, wenn sie auf Licht treffen. Stellt euch vor, wie toll sie im Licht der Fackeln funkeln, und die Oberfläche kann bei richtiger Bearbeitung wie eine glitzernde Wasseroberfläche aussehen."

Interessiert betrachtete mich Minho und schon wieder blinzelte er so niedlich wie eine Katze, die in der Sonne lag und sich den Pelz wärmte. Meine Erläuterung schien ihn nicht nur nachdenklich zu stimmen, sondern obendrein zu amüsieren.

„So so, nur das Beste für mich..." Die Grübchen um seine Mundwinkel vertieften sich. „Habe ich nicht bereits das Beste ausgewählt, Jisung? Oder sollte ich eher sagen: den Besten?"

Hilflos starrte ich den jungen Pharao an und versuchte meinem Gehirn eine sinnvolle Antwort zu entlocken, doch alles, was die Synapsen noch hindurchließen, war: Ist das jetzt ein Kompliment? und Will er mit mir flirten?

Als Minho bemerkte, dass er mich zu keiner verbalen Antwort bewegen konnte, ließ er es auf sich beruhen und fragte stattdessen: „Wieso kennst du dich so gut mit Edelsteinen aus?"

Eine gute Frage. Soll ich darauf nun wahrheitsgemäß antworten? Das würde er mir ohnehin nicht glauben. Also muss ich wohl eine Halbwahrheit erzählen, die nicht sein eigenes Grab oder mein Vorwissen über seine Bestattung beinhaltet.

„Ich habe in Kerma einmal einen Händler gesehen, der verkaufte solche Edelsteine und Schmuckstücke. Er hat mir viel darüber erzählt und mir einige seiner schönsten Funde gezeigt."

Dass das Internet und eine gute Allgemeinbildung den größeren Wissensanteil ausmachen, muss er ja nicht erfahren.

Mein Gegenüber schien die Geschichte zu schlucken, denn der Dunkelhaarige summte leise und betrachtete mich eingehend. Sein Blick wanderte erst zu meiner Brust, dann besah er sich rasch meine Hände und schließlich blickte er hinab zu meinem Schoß.

„Hast du jemals vor deinem Leben im Palast ein Schmuckstück oder Ähnliches besessen?", fragte er sanft und endlich verstand ich, worauf seine Musterung abzielte. Ich trug, wie so häufig, keinen aus Gold gefertigten Armreif oder einen edelsteinbesetzten Gürtel, wie die anderen des Harems es zu tun pflegten. Ich war schlicht gekleidet und schien kaum Gefallen an dem verfügbaren Schmuck oder Reichtum zu finden – selbst dann nicht, wenn Minho mir einige der erlesensten Stücke selbst geschenkt hatte.

Tief atmete ich durch und antwortete diesmal wahrheitsgetreu. „Ein einziges, eure Majestät. Es war ein Lapislazuli, in etwa so groß wie ein Skarabäus, aber etwas ovaler und an einigen Stellen von strahlenden, weißen Flecken durchzogen und mit winzigen, goldenen Punkten übersäht, die wie tausende Himmelskörper funkelten. Ich hatte ihn bereits als Säugling bekommen, ohne dass meine Eltern mir je sagen konnten, von wem." Ich bemerkte die Verblüffung auf Minhos Gesicht, aber redete bereits weiter. „Also sah ich ihn als glückliches Zeichen an, trug ihn stets, und je länger ich ihn bei mir hatte, desto vertrauter wurde er mir. Ich verbrachte viel Zeit damit, jede einzelne Facette des Steins zu betrachten. Dabei habe ich festgestellt, wie viel Schönheit in einem so winzigen Teil dieser ganzen Welt liegt."

Minho bedachte mich mit einem verständnisvollen Blick und ohne es kontrollieren zu können, tastete ich unterbewusst nach dem Edelstein. Als ich ihn auch diesmal nicht fand, ließ ich die Hand resigniert sinken und seufzte betrübt. „Er ist-war ein wichtiger Teil meiner selbst. Und ich habe ihn bei meiner Flucht hierher verloren." Es nochmal so auszusprechen, schmälerte das Verlustgefühl kein bisschen, und ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals herab. „Aber ich- ich wollte euch damit nicht in eurer Entscheidung beeinflussen oder euch bevormunden, eure Majestät."

Ein leises Glucksen ertönte neben mir und dann strich Minhos Hand warm und tröstend über meinen Unterarm.

„Dafür ist es wohl längst zu spät, Jisung. Mich berührt deine Geschichte und deshalb habe ich beschlossen, deinem Rat zu folgen und einige Smaragde als Augen für meine beiden Katzen auszuwählen." Seine Finger streichelten weiterhin zärtlich auf und ab. „Außerdem haben Erinnerungen große Bedeutung. Dass du eine so wichtige Erinnerung mit mir teilst, ist eine Ehre, weshalb ich versuchen will, deinen schmerzlichen Verlust in einen Gewinn für uns beide zu verwandeln."

Ergriffen starrte ich Minho an und nickte nur. Seine Hand glitt meinen Unterarm hinab und es störte mich kein bisschen, als sie zärtlich nach meiner Hand tastete und diese umschlang. „Und womöglich finde ich für dich sogar einen Edelstein, der deinen zarten Hals so hervorragend ziert wie dein einstiges Schmuckstück."

Meine Augen weiteten sich und mein Herz setzte einen Takt aus, als die Tiefe und Bedeutsamkeit dieser Geste auch in meinem Verstand ankam. Minho hatte mir ein Versprechen gegeben, das mehr Wertschätzung und Zuneigung zeigte als alles Bisherige.

Unfähig etwas zu denken oder zu sagen, blickte ich nur in die Augen des jungen Pharaos und versuchte zu verstehen, warum er das für mich tat.

„Ich- ich danke euch", murmelte ich leise und merkte, wie sich meine Wangen erhitzten, als Minho sich nach vorn beugte, sodass er mir tief in die Augen sehen konnte.

„Oh, Kätzchen~ du bekommst alles, was dein Herz begehrt~" Minhos Hand war noch immer um meine geschlungen, während er die zweite nun langsam anhob, an meine Wange legte und zärtlich zu meinem Kinn hinabstrich. Die Berührung war so federleicht, dass ich im ersten Moment nicht einmal realisierte, welche Absicht dahinterstand. Erst als sein Daumen liebevoll kleine Kreise auf meine Wange malte, sendete mein Hirn einen letzten, verzweifelten Impuls.

Verdammt, er will mich küssen.

Und vielleicht will ich es ja auch.

Also bewegte ich mich keinen Millimeter und ließ den Pharao näherkommen. Wie eine Statue saß ich da und starrte auf die fein geschwungenen Lippen, die meinen bereits gefährlich nahe waren.

Schließlich brachte Minho offenbar nicht mehr die nötige Geduld auf, denn seine Hand an meiner Wange rutschte nach hinten zu meinem Nacken und er zog mich ihm die letzten Zentimeter beinahe ruckartig entgegen.

Weiche, warme Lippen trafen hungrig suchend aufeinander, vereinten sich in einem heißen Prickeln und schmiegten sich angenehm aneinander.

Mein Puls schoss in die Höhe und meine Augen weiteten sich, bevor ich sie aus Reflex fest zusammenpresste und nur noch das überwältigende Gefühl spürte, das mich durchströmte. Dann bewegte Minho seine Lippen zart auf meinen und ganz automatisch tat ich das Gleiche. Zurückhaltend aber merkbar bewegte ich meine Lippen und gab Minho die Kontrolle über den Kuss. Ich befand mich mit ihm in Einklang, obwohl es mir so vorkam, als würden die zarten Küsse mich in einen endlosen Strudel ziehen, der mich immer tiefer und schneller mit sich riss, bis ich hoffnungslos unter Wasser gezogen wurde. Aber selbst unter Wasser konnte ich atmen – mit Minhos Lippen auf meinen schien selbst das Unmögliche möglich. Deshalb lehnte ich mich selbst in die Berührung und öffnete mutig meine Lippen ein kleines Stück – mehr aus Neugier als aus logischen Beweggründen.

Doch die sinnlichen Küsse des Pharaos wurden nur etwas inniger, aber arteten nicht in einer typisch kopflosen Knutscherrei aus, wie ich sie sonst kannte. Das hier war anders, ganz anders und das ließ mich schlagartig in die Wirklichkeit zurückfinden.

Atemlos löste ich mich von den samtigen Lippen und atmete tief durch. Mit geweiteten Augen betrachtete ich den jungen Pharao, der mir gegenüber äußerst vergnügt aussah. Ein wissendes Lächeln zierte sein Gesicht und als ich etwas unsicher hinab auf seine Lippen blickte, beugte er sich erneut über mich und presste unsere Münder für einen weiteren Kuss leidenschaftlich zusammen.

Ich war weiterhin vollkommen unfähig, mehr zu tun als die Geste zu erwidern. Nachdenken ging schon gar nicht mehr und einen Grund aufzuhören, fand ich ebenso wenig. Erst nach weiteren, durchaus innigen Küssen lösten wir uns und ich räusperte mich.

Erst jetzt sickerte in meinen Verstand, was da eben geschehen war. Ich hatte den Pharao geküsst. Und zusätzlich hatte es mir gefallen. Dennoch bat mich ebendieser Verstand nun eindringlich, mir über meine aktuelle Lage klar zu werden.

Was bedeutet das jetzt? Wird das etwas an meiner Situation ändern? Was ist mit meinen Prinzipien passiert und was mit den Geschichten, die ich über ihn kenne? Habe ich mit diesem Kuss schon etwas verändert? Sollte ich das überhaupt tun? Er könnte mich immer noch ohne Probleme loswerden, wenn ich ihm nicht mehr von Nutzen bin. Weshalb sollte er sich sonst einen ganzen Harem von jungen Männern und Frauen aufgebaut haben? Wir alle sind austauschbar für ihn und falls einer nicht will, wird es eben der nächste. Das sollte mir der Abend mit Hyunjin doch deutlich vor Augen geführt haben.

Möglichst unauffällig rutschte ich ein Stück zurück und griff geistesgegenwärtig wieder zu der Schriftrolle. „Ich-ich habe euch noch nicht alle Ersuche vorgetragen, eure Majestät", murmelte ich und hörte gleich darauf ein leises Lachen, gefolgt von einer Hand, die durch mein Haar strich und mich zärtlich kraulte.

„Es ist bewundernswert, dass du so pflichtbewusst bist, aber du musst nicht weiterlesen–"

„Ich möchte aber", unterbrach ich ihn rasch und presste dann die Lippen aufeinander, da es sehr unhöflich war, dem Pharao ins Wort zu fallen. Aber Minho nickte nur und erlaubte mir somit, einen kleinen Abstand aufzubauen, der mir ermöglichte, das Geschehen etwas nüchterner zu betrachten.

Meine Augen hefteten sich auf die Hieroglyphen und dann trug ich mit möglichst sicherer Stimme vor: „Akay Mussa erbittet von euch die Genehmigung einer Reise nach Lybien. Er möchte dort Gewürze und Vieh erwerben, um es hier gewinnbringend weiterzuverkaufen."

Minho schien von dieser Nachricht sehr angetan, denn seine Entscheidung fiel schnell.

„Das werde ich ihm gern gestatten. Akay hat ein gutes Gespür für Geschäfte und seine Gewürze sind die Besten, die man in ganz Theben erwerben kann."

Die dunklen Augen trafen auf meine, nahmen sie in Sekundenbruchteilen gefangen und beinahe wäre ich diesmal derjenige gewesen, der den Kuss begonnen hätte, aber eilig senkte ich den Blick wieder auf das Papyrusstück und las vor.

„Die letzte Bitte umfasst offenbar zwei Personen. Aziz Hatem ersucht eure Zustimmung für eine spezielle Angelegenheit, die einen seiner Söhne, einen Beamten in euren Diensten, betrifft. Offenbar hat dieser Sohn von seinen Bauern Abgaben unterschlagen und außerdem seine Sklaven schlecht behandelt und öffentlich gezüchtigt."

Ich verstand durchaus, weshalb diese unschöne Nachricht am Ende des Papyrusblattes stand und ich merkte an der Reaktion des jungen Pharaos sofort, dass diese Sache ernster war als von mir angenommen. Minhos Haltung spannte sich an und seine Augen funkelten erbost.

„Diese undankbaren Beamten glauben aber auch, sie könnten sich all ihre Freiheiten selbst nehmen", fauchte er und seine Hand ballte sich unvermittelt zur Faust. Seine Fingernägel bohrten sich in seinen Handballen und seine ganze Haltung veränderte sich schlagartig. Nun strahlte Minho mehr von dem furchteinflößenden Herrscher aus, als ich jemals gesehen hatte. Nicht einmal bei unserem ersten Treffen oder den folgenden missglückten Versuchen einer Einigung hatte er so erzürnt gewirkt.

Augenblicklich brachte ich noch etwas mehr Abstand zwischen uns und meine Sinne schalteten automatisch in eine Art Fluchtmodus.

Das da vor mir ist nicht länger der liebevolle, beherrschte Mann, den ich vor ein paar Minuten geküsst habe. Das ist wieder der gnadenlose Pharao dieses Landes, ein Mann mit kaltblütigem Gespür und einem Herzen aus Granit.

„Ich werde mich dieser Angelegenheiten selbst annehmen und ihn hinrichten lassen." Diesmal krampfte sich mein Herz vor Furcht zusammen und ein Beben lief bereits durch meinen Körper, als Minho lediglich die Hand hob und sie nach der Schriftrolle ausstreckte. Hastig übergab ich sie ihm und vermied einen Blick in sein Gesicht. Ich wollte nicht länger hier sein. Wer wusste schon, an wem Minho seine Wut ausließ, wenn niemand zusah.

Ich erhob mich mit etwas wackeligen Knien und verneigte mich dann möglichst würdevoll.

„Dann werde ich euch jetzt alleinlassen, eure Majestät. Ich will euch nicht stören, wenn ihr-" Minho erhob sich ebenfalls und in seiner Mimik erkannte ich zunächst Unverständnis, dann aber ebenso Frust und etwas Dunkles, was ich nicht zu deuten wusste. „Warum willst du gehen, Jisung? Ich würde dir nie-"

Aber noch während er sprach, wich ich zurück und sagte mit brüchiger Stimme: „Bitte, entschuldigt mich. Ich-"

„Nein, ich werde dich nicht entschuldigen. Wieso können wir nicht offen sprechen, Jisung? Wieso offenbarst du mir nicht, was dich von mir fernhält?" Nun hörte sich Minhos Stimme viel weniger wütend an – vielmehr enttäuscht.

Schuldbewusst sah ich zu ihm auf, aber kein Wort verließ meine Lippen – die Lippen, die der Pharao zuvor so liebevoll geküsst hatte. Als Minho meine Anspannung deutlich aus meiner Haltung las, ließ er besiegt die Schultern sinken. „Ich werde dich nicht zwingen, hierzubleiben. Es ist deine Entscheidung."

Und bevor der resignierte Ausdruck in Minhos sündhaft braunen Augen mir noch mehr seelischen Schmerz zufügen konnte, wandte ich mich auf dem Absatz um und floh wie schon so oft aus den königlichen Gemächern.

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Ich hoffe, ihr seid mir nicht allzu böse, dass ich euch diesen romantischen Moment schon wieder etwas getrübt habe... aber diese Geschichte lebt nun einmal von Jisungs Verlustängsten und seinen Bindungsproblemen... 

I love you Stay. 💖

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