Eine wilde Jagd
Triggerwarnung für dieses Kapitel: Beschreibung einer Tierjagd (Wunden und Blut, aber keine detaillierte oder grausame Beschreibung)
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Jisungs Pov:
„Chan, ihr müsst weiter nach rechts", wies Minho den Streitwagen dicht neben uns an und fügte dann entschlossen hinzu. „Wenn wir die wilden Stiere noch vor der nächsten Biegung des Flusses nahe genug ans Wasser treiben, können wir mehr von ihnen erlegen, ehe sie fliehen."
Ich hatte während des kurzen Austausches zwischen Minho und Chan alle Hände voll zu tun. Wortwörtlich, denn ich bemühte mich, die Zügel richtig zu halten, um die Pferde in die gewiesene Richtung laufen zu lassen. Außerdem waren wir recht schnell, was durch den sandigen Untergrund deutlich begünstigt wurde. Es fühlte sich fast so an, als würden die Pferde zu den vorauslaufenden Stieren aufschließen wollen und mir dabei die Zügel entreißen, um endlich selbstbestimmt loszupreschen.
„Machen wir! Aber dafür müssen wir noch schneller werden. Und ihr solltet ihnen auf der linken Seite eine vorzeitige Flucht unmöglich machen!", rief Chan zurück und umfasste die Umrandung des Wagens, auf dem er mit Jeongin stand, fester, als Jeongin die beiden Pferde bereits nach rechts lenkte.
„Sind schon dabei", erwiderte Minho und unvermittelt spürte ich seine Präsenz wieder dicht hinter mir und seine Stimme drang an mein Ohr. „Halte die Zügel straff und lenk sie weiter nach außen links. Wenn ich es dir sage, halte dich gut fest und lass die Zügel locker." Und dann fühlte es sich für einen Moment so an, als würde er mich gleich fest umklammern, doch er platzierte seine Arme nur knapp neben meinem Körper, der schon fast an die dünne Forderwand des Streitwagens gedrückt war. Er gab mir dadurch zusätzlichen Halt, und seinem Befehl folgend, straffte ich die Zügel und zog sie langsam nach links, um nicht zu unerwartet die Richtung zu ändern.
Diese Kurskorrektur bedeutete, dass wir noch eine Weile länger auf dem sandigen Wüstenboden fahren würden, während rechts von uns nun der eher überschaubare Grünstreifen des Nils lag. Da das Flussufer hier etwas steiler verlief, hatte die Nilschwemme weniger Raum, um den fruchtbaren Schlamm abzulagern, und folglich war die Vegetation auch weniger stark ausgeprägt.
Voller Konzentration veranlasste ich die Pferde dazu, sich noch etwas mehr nach links zu wenden und dann hörte ich schon Minhos Befehl. „Und jetzt lass sie laufen, Jisung."
Einen winzigen Moment zögerte ich, weil ich so viel Verantwortung für das Gelingen dieser Mission trug – was ich noch nicht einmal gewollt hatte. Dann aber erinnerte ich mich daran, dass Minho gleich hinter mir war und jederzeit die Kontrolle übernehmen konnte. Also lockerte ich den Klammergriff um die weichen Lederriemen und ließ sie über meine Handflächen gleiten.
Die Veränderung war sofort spürbar. Sobald die Pferde erkannten, dass man sie nicht mehr zurückhielt, ging ein Ruck durch den Wagen und die Räder ächzten, als wir plötzlich nach vorn schossen. Mein Herz schlug bis zum Hals und der Wind peitschte mir entgegen, während die zwei Pferde liefen, als sei der Teufel persönlich hinter ihnen.
„Genau so", versicherte mir Minho und ich spürte, wie sich seine Arme noch etwas näher an meinen Körper pressten, als ich kurz schwankte. „Sie wollen der Herde folgen und werden automatisch langsamer, wenn sie sich ihnen zu sehr annähern. Das ist unsere Gelegenheit."
Ich war zwar nicht sicher, ob ich genug von Jagdstrategien verstand, aber irgendwie leuchtete es mir ein. Deshalb nickte ich nur, zum Zeichen, dass ich ihn gehört hatte und suchte kurz mit den Augen nach den Wildstieren, die wir zuvor in einer kleinen Talsenke aufgescheucht hatten und nun zum Nil trieben, um eine Flussbiegung als natürliche Falle zu nutzen.
Die Pferdehufe wirbelten den Wüstensand ebenso auf wie die fliehenden Stiere, und vermutlich sah man uns von Weitem nur als Staubwolke. Und jetzt, da ich die Zügel nur locker halten musste, sodass ich später wieder die Kontrolle übernehmen konnte, war mir die Möglichkeit vergönnt, meine Finger ebenso an der Umrandung festzukrallen. Zwar vertraute ich Minho, aber man wusste nie, was als Nächstes passieren würde.
Unvermittelt ertönte hinter mir ein leises Lachen und ich spürte, dass sich Minhos Haltung sekundenlang entspannte. „Es gibt nicht Großartigeres, als sich so frei zu fühlen. Sieh nur, wie die Pferde laufen. Sie tun es einfach, weil sie es können."
Ich verstand Minhos Begeisterung irgendwie und gleichzeitig machte mir dieser Moment der ungezügelten Freiheit Angst. Es war so ursprünglich und beinahe banal, was wir hier taten. Zum Einen eröffnete es mir eine vollkommen neue Sicht- und Denkweise über diese Zeit, zusammen mit einer schier überwältigenden Empfindung. Andererseits konnte ich nicht alles so einfach loslassen, wie diese Zügel. Für mich waren da noch zu viele Gedanken, die mich davon abhielten, frei zu sein. Dennoch tat ich mein Bestes, um es Minho nachzuempfinden.
Ich straffte meine Haltung und beobachtete die Pferde, deren Körper sich streckten und so geschmeidig bewegten, als wären sie zum Rennen geboren. Es war ein ästhetischer Anblick und ich konnte in ihm Schönheit und Stärke erkennen, die sich gegenseitig vollendeten. Ich erkannte, was Minho in diesem Augenblick fühlen musste. Er sog diese Stärke und die Geschwindigkeit in sich auf. Er konnte sie mit seinen eigenen Kraftreserven messen und vermutlich war es ebenso eine Art Machtverhältnis, was sich hier widerspiegelte: Trotz der Wildheit dieser Situation hatte er eine gewisse Kontrolle, denn er war der Jäger, derjenige mit einem todsicheren Plan und den scharfen Waffen. Er hatte den entscheidenden Vorteil.
So wie Minho es vorausgesehen hatte, verlangsamten die Pferde ihren Lauf, als sie sich den Rindern Stück für Stück näherten. Schließlich liefen sie schon fast gleichauf mit den Nachzüglern und die Herde schlug die gewünschte Richtung zum großen Fluss ein.
„Nimm die Zügel wieder etwas fester, aber lass sie laufen, bis ich etwas anderes sage. Erst dann wirst du ganz langsam das Tempo drosseln. Keine zu schnellen Bewegungen", wies mich der Pharao an, und seine Hände lösten sich beide von der Umrandung, um erneut nach seinem Bogen zu greifen. Bei diesem halsbrecherischen Lauf der Pferde wollte ich ihn beinahe bitten, sich wieder festzuhalten, doch sein Stand auf dem Wagen blieb sicher und ausbalanciert, selbst als er den Pfeil einhakte und die Sehne spannte. Dann sirrte der erste Pfeil und einer der nahen Stiere brach zusammen und blieb auf dem Wüstenboden liegen.
„Halte das Tempo", befahl mir Minho, als der Boden allmählich fester wurde. „Es sind nur noch ein paar hundert Fuß bis zur Ufersenkung. Wir haben genug Zeit, anzuhalten."
Da sich meine Tätigkeit momentan auf das Halten der Zügel beschränkte, sah ich mich nach der Absenkung um und erblickte sie nach wenigen Sekunden rechts vor uns. Die ersten Rinder würden sie bald erreicht haben und wenn wir nicht mitten in die Menge geraten wollten, mussten wir meiner Meinung nach bald abbremsen.
„Jetzt, Jisung. Die Zügel", erinnerte mich Minho und schon wieder sirrte ein Pfeil mitten in die davonlaufende Herde.
Geistesgegenwärtig straffte ich meine Haltung, wickelte die Zügel einmal mehr um meine Handflächen und begann dann behutsam, die Lederriemen zu spannen, um den Pferden zu signalisieren, dass sie ihre Geschwindigkeit drosseln mussten. Sie reagierten mit einem Schnauben und einem unwilligen Schütteln des Kopfes, doch ich ließ mich nicht beirren und versuchte es weiter. Die Beharrlichkeit zahlte sich aus, denn allmählich hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass mein Körper beständig nach hinten gezogen wurde. Immer wieder prüfte ich nun die Entfernung zum abfallenden Ufer und versuchte einzuschätzen, wie viel Weg und Zeit es mich noch kosten würde, die Tiere abzubremsen.
Aber ich machte mir unnötig Sorgen. Schon kurze Zeit später fielen die braunen Pferde vom Galopp zurück in einen flotten Trab, den ich jederzeit anhalten konnte.
„Sehr gut, jetzt haben wir sie." Minho klang enthusiastisch und noch während der Fahrt, griff er nach seinem bereitliegenden Köcher und sprang vom Wagen, als das Tempo und die Nähe zur Uferböschung es ihm erlaubten. Unerschrocken und voller Tatendrang rannte er los und ich musste mich stark zusammenreißen, den Wagen nicht aus Versehen gegen die nächste Palme zu manövrieren, während ich eher Minhos Lauf verfolgte und gebannt zusah, wie er mehrmals die Bogensehne mit immer neuen Pfeilen zurückzog, sich seine Muskeln dabei anspannten und die Geschosse so präzise und schnell flogen, dass man sie kaum mit dem bloßen Auge verfolgen konnte.
Er musste wahrhaft die Augen eines Falken und die Reflexe einer Wildkatze haben, denn soweit ich es erkennen konnte, traf er jedes Mal und es beeindruckte mich mehr als es sollte, diesem Mann bloß dabei zuzusehen, wie er etwas Lebendiges zur Strecke brachte.
Den Wagen hatte ich mittlerweile gestoppt und ich erkannte, dass Jeongin und Chan nicht mehr weit weg waren. Sie hatten ihren Streitwagen nicht ganz so halsbrecherisch gelenkt und dadurch dafür gesorgt, dass alle Rinder zum Ufer hin liefen. Die anderen Jäger, Soldaten und Bediensteten folgten langsamer und sammelten das bereits erlegte Wild ein.
Mittlerweile hatte die Herde auch bemerkt, dass sie sich in einer ungünstigen Position befand und einzelne Tiere brachen nach links aus, um der Senke zu entfliehen. Einige warfen sich ebenso mutig ins Wasser und schwammen los. Aber ich achtete mehr auf Minho, der nun ein Stück an der Böschung entlanglief und dann sogar einige Meter den Hang hinabschlitterte, sodass ich ihn kaum noch sah.
Was ich dafür jedoch umso deutlicher beobachten konnte, waren die hohen Büsche auf der rechten Uferseite, die etwas flacher abfiel. Die Sträucher und hohen Büsche wackelten auf einmal verdächtig und dann weiteten sich meine Augen vor Schreck, als ich einen breiten grauen Rücken sah und dann auch einen massigen Kopf, der sich wütend herumwarf. Und dann nahm der graue Koloss Kurs auf den Standort, wo ich Minho vermutete.
„Da ist ein Nilpferd!", schrie ich Jeongin aufgebracht zu und gestikulierte wild, weil ich mir nicht anders zu helfen wusste. Der Jüngere schien einen Augenblick zu benötigen, bis er mich verstand und dann noch einen zweiten, ehe er das riesige Tier ebenfalls erblickte und sich seine Augen alarmiert weiteten.
Dann passierte alles gleichzeitig. Ich kletterte von der Plattform des Streitwagens, um zur Böschung zu laufen und Minho zu warnen. Chan hatte sich im selben Moment vom Wagen geschwungen und rannte mit etwas, das nach einem Speer aussah, ebenfalls in Richtung der Senke und dann war da noch das Nilpferd, das mittlerweile ungeahnt schnell auf Minho zurannte.
Dieser schien das Tier inzwischen bemerkt zu haben, denn er hatte seinen Bogen fester umgriffen und zog die Bogensehen so weit und kraftvoll zurück, dass das Holz des Bogens knackte. Er zielte auf den Kopf des Tieres und der Pfeil flog zielgerichtet. Aber trotz der enormen Kraft prallte er beinahe nutzlos an der dicken, ledrigen Haut des Nilpferds ab und nur ein dünner, roter Striemen blieb zurück.
Nun wirklich von Panik ergriffen, starrte ich hinab zu Minho und malte mir schon aus, wie das Tier ihn in vollem Lauf niedertrampeln würde. Aber da hatte Chan seinen Pharao beinahe erreicht und warf ihm noch, während er den Hang hinabschlitterte, eine Waffe zu. Erst jetzt bemerkte ich, dass es zwei Speere waren, die Chan mitgenommen hatte – beide besaßen eigentümliche Spitzen, beinahe als hätten sie Widerhaken.
Das bronzene Metall glänzte in der Sonne, als Minho die Waffe zielsicher fing und sogleich wieder das Nilpferd fokussierte, das noch immer wütend auf ihn zuraste.
Mein Herz drohte mir aus der Brust zu springen und ich glaubte, das Erzittern der Erde unter den schweren Tritten des Tieres zu spüren.
Wieso tut er denn nichts?
Minho stand mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper da und verlagerte sein Gewicht allmählich, bis er seine Knie etwas beugte, als würde er gleich in die Luft springen wollen. Er hatte die Waffe fest umschlossen, aber noch nicht angehoben.
Wenn er sie werfen will, muss er das bald tun.
Aber Minho tat nichts dergleichen. Als das Nilpferd kurz vor ihm war, den Kopf drohend gesenkt, schickte ich mich an, die Augen zu schließen, um das Unausweichliche nicht mit ansehen zu müssen.
Wird es wirklich so enden?
Aber dann sah ich die schnelle Bewegung doch noch, riss die Augen wieder auf und beobachtete ungläubig, wie Minho in der allerletzten Sekunde zur Seite sprang, sich noch im Sprung halb drehte und den Speer mit vollem Körpereinsatz auf die Flanke des Tieres schleuderte. Diesmal riss die ledrige, graue Haut auf, als sei sie nur eine dünne Membran gewesen, und die Spitze der Waffe bohrte sich tief ins Fleisch.
Als Minho sah, dass er getroffen hatte, rannte er los. Und zwar nicht weg von dem verwundeten Tier, sondern genau darauf zu. Er wich dem wütend zuschnappenden Maul aus und bekam das Ende des Speers zu fassen. In der selben Sekunde war Chan von der anderen Seite nahe genug gekommen, um einen ebenso gezielten Treffer an der anderen Flanke zu landen.
Und nun arbeiteten die beiden erfahrenen Kämpfer präzise und schnell. Noch bevor das riesige Tier wirklich verstand, was geschah, nutzten beide ihr gesamtes Körpergewicht, um sich gegen die Speere zu stemmen und sie tiefer in das Fleisch- und Muskelgewebe eindringen zu lassen.
Und dann brach das Nilpferd einfach zusammen. Dumpf wie ein Fels traf es flach auf dem Boden auf und blieb reglos liegen, nachdem es nur kurz getaumelt war. Hastig sprangen Minho und Chan zurück, um nicht von dem massigen Leib begraben zu werden, aber dieser bewegte sich keinen Zentimeter mehr.
Ich selbst schnappte vollkommen verzweifelt nach Luft und ließ mich auf den Boden sinken, um nicht mehr das Gefühl zu haben, jeden Augenblick gleich umzukippen. Diese Szene vor mir war gleichzeitig brutal und tödlich, aber ebenso aufregend und unerwartet gewesen. Sie hatte mir vor Augen geführt, wie fragil wir Menschen tatsächlich waren, aber welche Stärke in uns ruhte, wenn wir an uns selbst glaubten – ernüchternd und beflügelnd zugleich.
„Geht es dir gut, Jisung? Minho ist nichts passiert", beschwichtigte mich Jeongin, der mittlerweile neben mir kniete und meinen Rücken streichelte. „Es sah zwar sehr gefährlich aus, aber das ist nicht das erste große Wildtier, das Minho erlegt."
Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle hinab, obwohl mich die Worte nicht vollends beruhigten.
„Komm, lass uns zu ihnen gehen."
Seltsamerweise schaffte ich es ohne Probleme, aufzustehen und Jeongin zu folgen. Meine Beine waren noch intakt und hatten den Dienst nicht quittiert. Und als Chan Jeongin erblickte, lächelte er strahlend und deutete auf das erlegte Tier. „Das war unbeschreiblich. So einen großen Nilpferdbullen habe ich selten gesehen." Dann entdeckte er auch mich und schenkte auch mir ein Lächeln. „Danke für die Vorwarnung. Du hast gute Augen, wenn du ihn so früh im Unterholz gesehen hast, Jisung."
Nun wandte sich auch Minho zu mir um und seine Augen funkelten, so als würden die Endorphine des gewonnenen Kampfes direkt durch sie hindurchfließen. „Danke, Kätzchen. Das war eine sehr erfolgreiche Jagd. Ich sollte dich ab jetzt immer mitnehmen."
Ich stieß nur einen komischen Laut aus, der sagen sollte, dass ich mir solche Schocksekunden nicht jeden Tag wünschte, und daraufhin erschien auch auf Minhos Gesicht ein zartes Lächeln.
„Keine Sorge, wir werden nicht bei jedem Mal einem Nilpferd begegnen... manchmal werden es auch Löwen, Nashörner oder Elefanten sein."
Hat er gerade einen Witz gemacht? Humor steht ihm.
Und weil ich wirklich sehr erleichtert war, kicherte ich und sagte das Erstbeste, was mir einfiel: „Dann ist ja gut, ich dachte schon, es würde irgendwann langweilig mit dir werden."
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