Die Zeit ohne sie

Triggerwarnungen: Angst, seelischer und körperlicher Schmerz, Selbstzweifel, Trauer, Verdrängungsmechanismen 

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Jisungs Pov:

Eine seltsam beklemmende Empfindung durchströmte mich und im nächsten Moment fuhr ich ruckartig in die Höhe. Mit einem lauten Japsen sog ich trockene, warme Luft in meine Lungen und tastete mit den Fingern suchend den Boden um mich herum ab. Zusätzlich riss ich meine Augen auf und versuchte in der vollkommenen Schwärze vor mir irgendetwas zu erkennen. Irgendwo schräg links von mir glomm ein ganz schwacher Lichtschein und ich bemühte mich, diesen besser zu lokalisieren. Nachdem sich meine Augen durch mehrmaliges Blinzeln und kurzes Warten an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte ich eine kleine, rote Kerze. Es war allerdings keine richtige Wachskerze, sondern eine von der Sorte, die man elektrisch leuchten ließ und die nicht verlosch, solange die Batterie geladen war.

Das Engegefühl in meiner Brust wurde merklich schlimmer, doch ich verdrängte die offensichtlichen Tatsachen erfolgreich mit den viel grausameren Geschehnissen der letzten Stunden.

Minho war tot. Meine Babys... und ich, ich sollte auch nicht mehr leben.

Mit wild klopfendem Herzen und einer schrecklichen Befürchtung, die mir wie ein Nachtalp im Nacken saß, der nur auf die passende Gelegenheit wartete, zuzuschlagen, tastete ich meinen Bauch ab und stoppte dann abrupt mitten in der Bewegung.

Mein Bauch war flach – vollkommen flach. Ich spürte nur die leichten Muskeln, die ich vor meiner vermuteten Schwangerschaft auch schon hatte. Da war kein Spannungsgefühl, keine sanfte Rundung, keine festen Tritte oder kleine Bewegungen. Nichts.

Habe ich sie tatsächlich verloren? Sind sie überhaupt jemals da gewesen?

Die Verzweiflung über diese erdrückende Ungewissheit und Machtlosigkeit trieb mir wieder die Tränen in die Augen. Eigentlich hatte ich geglaubt, gar keine Tränen mehr übrig zu haben, doch nun liefen sie mir in feinen Rinnsalen über die Wangen und kitzelten leicht, als sie an meinem Kinn anlangten und dann den Hals hinabrannen.

Wo sind sie? Wo sind meine Kinder? Haben sie je existiert? Verdammt, was ist nur geschehen?

Meine Gedanken schafften es nicht, sich von diesen Fragen zu lösen. Vielleicht war es auch eine Art Selbstschutz, da bei meinen Kindern immerhin noch der Hauch einer Hoffnung zu bestehen schien, während mein Geliebter unumstritten tot war. Sogleich manifestierte sich das Bild seines blutüberströmten Gesichts vor meinem inneren Auge und ich schluchzte haltlos auf, während ich seinen Namen wie ein Mantra wiederholte: „Minho, Minho..."

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich selbst beruhigen konnte. Aber irgendwann versiegten die Tränen und ein leises Schniefen löste mein heiseres Flehen und die gemurmelten Liebesbekundungen, die ungehört verhallten, ab. Schließlich versuchte ich, mich aufzurappeln, um hinüber zu der schummrigen Lichtquelle zu gehen. Zunächst waren meine Schritte sehr wackelig und mein Kopf dröhnte, da ich durch das Weinen und vielleicht auch durch die schlechte Luft hier drin Kopfschmerzen bekommen hatte. Als ich die elektrische Kerze an mich nahm, erblickte ich auf dem Boden neben ihr einen verwelkten Blumenstrauß und mehrere schon verdorrte und abgefallene Blütenblätter.

Wer wohl die Blumen hier abgelegt hat? Zusammen mit der Kerze sieht es fast nach einem modernen Grabschmuck aus.

Mein logisches Denken verknüpfte keinen der gesehenen Aspekte mit mir oder meinem Verschwinden. Alles, was nicht zentral mit meinen schlimmsten Sorgen zu tun hatte, wurde zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht verarbeitet – geschweige denn durchdacht. So, als hätte sich ein schützender Nebel der Unsichtbarkeit über den größten Teil meines Verstandes gelegt, um mich ja nicht zu überfordern und damit einen weiteren Kollaps zu riskieren.

Ich fand an der Stelle, an der ich gelegen hatte, kein Blut, was mich ein wenig beruhigte. Der Boden unter meinen Füßen, an denen noch immer die hochgeschnürten Sandalen saßen, war glatt behauen, aber ich erkannte feine Risse in den einzelnen Granitplatten, und bei genauerer Betrachtung meiner Umgebung bemerkte ich, dass ich auf einer erhöhten Plattform stand. Genauer gesagt auf der Plattform in Minhos Grabkammer – so viel schien mir mein Gehirn zumuten zu können. Mit drei oder vier wackeligen Schritten trat ich hinüber zu der Seite, an der die Stufen in den massiven Stein gehauen worden waren. Dennoch zögerte ich, die schmale Treppe hinabzusteigen, und sah mich nochmal auf der Plattform um. Hinter mir ragte aus der Dunkelheit die einsame Katzenstatue hervor und ihre smaragdgrünen Augen schienen mich genau zu beobachten.

Habe ich mir meine Schwangerschaft tatsächlich eingebildet? War nichts davon real?

Erneut legte ich eine Hand auf meinen flachen Bauch und versuchte zu begreifen, was passiert war.

All die schrecklichen Erinnerungen trübten mein Urteilsvermögen und ich stand gebrochen und einsam da, bis mich die Schwärze der Grabkammer beinahe selbst eingenommen hätte. Keines der vor mir liegenden Scherbenteile wollte sich zu einem stimmigen Bild zusammenfügen lassen und ich blinzelte mehrmals, um nicht wieder zu weinen. Denn dann würde ich den Weg die Treppe hinab nicht schaffen.

Warum bin ich nicht auch tot? Hätte ich nicht einfach zusammen mit Minho sterben können?

Von der Schuld erdrückt, dass ich meinen Liebsten nicht hatte retten können, tapste ich langsam die Stufen hinab und stützte mich zusätzlich an der Wand ab. Unten angelangt blickte ich mich suchend in der Grabkammer um, als könnte sie mir die Antworten auf all meine Fragen liefern. Doch die kleine Kerze in meinen Händen war nicht einmal stark genug, um den Innenraum zu erhellen. Wie sollte sie dann überhaupt helfen, meine Gedanken zu erleuchten, zu denen selbst ich den Schlüssel nicht fand?

Also gab es zunächst nur ein Ziel für mich: Diesem Raum und der Dunkelheit zu entkommen. Hier würde ich nichts mehr finden, was mir weiterhalf.

Mit unsicheren, vorwärtstastenden Schritten durchquerte ich die Kammer. Dabei kam ich auch an einem kleinen, aufgeschütteten Geröllhaufen vorüber, aber erneut schützte mich mein zielgerichteter Verstand davor, diese Information zu genau zu analysieren. An dem verengten Durchgang angelangt, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand, ließ mich in die Hocke sinken und vergrub mein Gesicht in den Händen. Noch nie hatte ich mir so sehnlich die schützende und beruhigende Berührung von Minho gewünscht wie in diesem Moment. Fast glaubte ich, seine Stimme in meinem Kopf zu hören, wie sie mich ermutigte, weiterzusuchen und nicht aufzugeben. Ich erinnerte mich an seine Worte, dass er immer bei mir sein wollte, und gerade zog ich aus dieser Vorstellung Hoffnung. Hoffnung, die ich dringend benötigte, um überhaupt einen Schritt weiterlaufen zu können.

Ich bin ganz allein. Felix hat gesagt, ich soll in der Grabkammer warten. Aber Minho... er würde wollen, dass ich weitersuche, dass ich für unsere Kinder kämpfe und sie wiederfinde.

Entschlossen stemmte ich mich nach oben, erhob mich schwankend und trat aus der Grabkammer hinaus. Mein Fokus war nun stärker denn je auf etwas gerichtet: Ich musste meine Kinder finden. Ich muss sie beschützen und bei ihnen bleiben. Ich musste dieser unerträglichen Dunkelheit entkommen.

Den dumpfen Schmerz meines Körpers ignorierend lief ich zwischen den beiden wachenden Katzenstatuen hindurch und nahm die wenigen Stufen hinab zu dem langen, kunstvoll bemalten und behauenen Gang. Zu beiden Seiten lagen altertümliche Speere säuberlich aufgeschichtet, doch ich blendete sie vollkommen aus. Je weiter ich dem Gang folgte, desto schmaler wurde er, und schlussendlich fand ich eine Stelle, an der ein Metallgitter über dem Boden angebracht war und darunter schien es weit in die Tiefe zu gehen.

Ich fühlte mich schon jetzt vollkommen müde und ausgelaugt, doch meine Hoffnung trieb mich voran. Sie gab meinem Körper den eindeutigen Befehl, nicht schlappzumachen. Und dass ich dabei meine Rationalität komplett abschaltete und nicht einmal die offensichtlichsten Hinweise deuten konnte, war wohl ebenso auf meine traumatischen Erfahrungen der letzten Stunden zurückzuführen.

Mein Kopf arbeitete nicht mehr logisch. Er ließ mich nur wahrnehmen und gleich wieder verdrängen.

Ab und an lehnte ich mich an die Wand, machte eine kurze Pause und taumelte dann weiter, nur um schließlich an einer seltsam vertrauten Weggabelung anzukommen. Ich nahm rein instinktiv den Weg, der direkt vor mir lag, und bog nicht erst nach rechts ab. Erneut folgte ich dem Gang wie paralysiert und sagte mir innerlich, wie bei einem Mantra, dass ich weitergehen musste.

Nicht anhalten! Geh weiter! Du musst den Ausgang finden! Du musst sie finden!

Noch einmal bog der Grabgang nach links ab und auf einmal erblickte ich einen hellen Lichtschein vor mir.

Das muss es sein! Tageslicht!

Mit schnellen Schritten eilte ich auf den hellen Lichtstreifen zu, ließ die kleine Kerze unbeachtet auf den Boden fallen und stolperte dann endlich hinaus auf das kleine Plateau vor dem Grabschacht. Mit kräftigen, ruckartigen Atemzügen saugte ich die warme, frische Luft in meine Lungen und ließ mich von der heißen Mittagssonne wärmen. Die vertraute Hitze schenkte mir Zuversicht und linderte meine inneren Schmerzen etwas, die jetzt, da ich hier draußen stand, mit voller Härte zurückkehrten, als hätten sie nur darauf gewartet, zuschlagen zu können. Ein stechendes Ziehen fuhr durch meinen gesamten Körper und ich sackte in mir zusammen, während neue Tränen in meinen Augen brannten. Ich krümmte mich auf dem Boden zusammen, spürte den heißen Wüstensand zwischen meinen Fingern, als ich meine Hände zu Fäusten ballte, um gegen mein Leid anzukämpfen und nicht aufzugeben.

Plötzlich glaubte ich, in weiter Ferne eine Stimme zu hören.

Doch in meinem Zustand der Trauer konnte ich kaum reagieren, noch um Hilfe bitten. Erst als sich jemand neben mich kniete, mich sanft aufrichtete und dann einer zweiten, herbeieilenden Person etwas zurief, konzentrierte ich mich auf das Geschehen und den unbekannten Mann direkt vor mir.

Endlich konnte ich auch verstehen, was er gesagt hatte, denn er wiederholte es nochmal eindringlicher, während er mir mitleidig und ziemlich verwirrt entgegensah. „Schnell! Ruf einen Krankenwagen!"

Mit all meinen verbleibenden Kraftreserven hob ich meine Hand, packte eisern seinen Unterarm und zwang mich unter Schmerzen dazu, einen klaren Satz zu formulieren. „Wo sind sie?"

Mein Gegenüber blickte mich verständnislos an, drehte sich kurz zur Seite, so als würde er den anderen um Rat fragen wollen. Also formulierte ich meine Frage neu: „Wo sind meine Kinder?"

Bei dem ahnungslosen Gesichtsausdruck des Mannes bahnte sich letztendlich doch grenzenlose Trauer und Verzweiflung ihren Weg an die Oberfläche.

Es gibt keine Hoffnung, kein Wiedersehen.

Gequält schnappte ich nach Luft und bemerkte, wie bereits die schwarzen Punkte vor meinen Augen tanzten.

Es tut mir leid, Minho. Ich habe versagt. Ich konnte nicht einmal unsere Kinder beschützen. Ich habe versagt. Es tut mir leid.

Dann reduzierte sich meine Welt endgültig zu dunklen und hellen Farbflecken, zu bedeutungslosen Worten und scharfen Atemzügen, die in meiner Kehle schmerzten, als hätte ich Glas geschluckt.


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Ich stecke gerade mitten im Lernprozess für meine Prüfungen ... Ihr bekommt das zweite Kapitel entweder Samstag oder Sonntag, je nachdem, wie ich vorankomme. Ich hoffe, euch geht es allen gut und ihr habt euch ein wenig von den letzten Kapiteln erholt. ❤️

I love you, Stay.


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