Die erste Wissende

Jisungs Pov: 

Seit nunmehr einer Woche wartete ich auf die ersehnte Einladung des Pharaos. Ich hatte nicht erwartet, je so auf eine Gelegenheit zu hoffen, Minho wiederzusehen. Doch tief in mir wusste ich, dass ich gern Zeit mit dem jungen Pharao verbrachte – als würde mich das Adrenalin dann lebendiger als sonst fühlen lassen. Allein ein Blick auf ihn könnte vermutlich unter der strahlend hellen Sonne Ägyptens den Funken auslösen, der wiederum einen Flächenbrand entfachen würde. Nur wie ich dieses Inferno dann wieder löschen sollte, erschloss sich mir bisher nicht, und deshalb war ich sehr dankbar, gerade im Schatten eines großen, aufgespannten Sonnensegels zu sitzen und die Gedanken schweifen lassen zu können.

Blinzelnd betrachtete ich die hellen Stoffbahnen über mir, die mit detailverliebten Stickereien verziert waren. Große, braune Kamele zogen vor blassgelben Sanddünen auf dem Stoff von rechts nach links und ein gezacktes Muster säumte den Rand, während bunte Kordeln ganz sanft in der leichten Briese hin und her schwangen. Allmählich wurde ich sogar etwas schläfrig, vermutlich da ich den beständig hin- und herschwingenden Kordeln zu lange mit den Augen gefolgt war.

Also richtete ich meinen Blick rasch auf meine nahe Umgebung. Der von Mauern umgebene Garten, der direkt neben den Räumlichkeiten des Harems lag, bot zur Zeit einen angenehmen Rückzugsort für mich, da ich hier stundenlang meinen Gedanken nachhängen konnte und sich nur ab und an einer der anderen zu mir gesellte.

Vor etwa zehn Minuten hatte sich Yeji zu mir unter das Sonnensegel gesetzt und sich bald schon entspannt zurückgelehnt, während sie ein Stück frische Feige aß. Der süßliche Geruch der Frucht erfüllte die Luft und als ich zur Seite sah, beobachtete ich, wie die wässrige Flüssigkeit der Feige über Yejis Finger lief, als sie beherzt zubiss und dann genießend kaute.

„Nimm dir doch auch ein Stück, Jisung", forderte sie mich auf und deutete auf das goldene Tablett mit den verbleibenden Feigenspalten.

Zögernd griff ich nach einem Teil der in Achtel geschnittenen Feige und biss ein kleines Stück der saftigen Frucht ab. Erst als ich das angenehme Aroma auf der Zunge schmeckte, bemerkte ich, wie erfrischend dieses war und ich biss beim zweiten Mal herzhaft in das Fruchtfleisch. Innerhalb von Sekunden hatte ich mein Stück bis auf die Schale abgenagt. Während ich also nach einem zweiten Stück griff, grinste Yeji, lehnte sich zu mir herüber und piekte mir in die Wange.

„Jetzt siehst du aus wie ein Nagetier, das sich die Backen vollschlägt", witzelte sie, und ich drehte mich weiter in ihre Richtung, um sie anzusehen. Doch sie grinste nur fröhlich vor sich hin und lehnte sich gegen die weichen Kissen.

„Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem du mir versprochen hast, du würdest mir erzählen, was deine wahre Geschichte ist?"

Diese Aussage von ihr erwischte mich eiskalt und so unerwartet, dass ich mitten im Kauen innehielt und sie nun anstarrte, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen.

Wieso spricht sie mich gerade jetzt darauf an?

Natürlich hatte ich mir zwischenzeitlich Gedanken darüber gemacht, was ich ihr in diesem Fall sagen sollte. Insgeheim hatte ich wohl auch befürchtet, dass es eher früher als später zu diesem Gespräch kommen würde. Dennoch war mein Verstand momentan so leer, dass ich nicht genau wusste, wie ich am besten reagieren sollte.

Nachdem ich damals Yejis Unterhaltung mit dieser Ryujin aus der Küche belauscht hatte, war ich mir zwar sicher gewesen, dass sie keine bösen Absichten mir gegenüber hegte, dennoch stellte jeder Mitwissende für mich ein Risiko dar. Yeji hatte mich vor Ryujin verteidigt, und dennoch war ihr Minhos Wohl sicherlich weitaus wichtiger als meines. Ich sollte mir also schleunigst etwas einfallen lassen.

Unbehaglich schluckte ich das Stückchen Feige herab, das ich gerade gekaut hatte.

Verdammt, denk nach Jisung!

Langsam lehnte ich mich zurück, wobei mich die katzenartigen Augen Yejis genau beobachteten, und exakt in diesem Moment beschloss ich, etwas zu riskieren.

„Ich erinnere mich und ich werde dir meine Geschichte erzählen, aber dafür musst du mir etwas versprechen. Dieses Wissen musst du für dich behalten. Nicht einmal Minho darfst du davon erzählen, das möchte ich zur richtigen Zeit selbst tun – wenn ich jemals den Mut aufbringe", murmelte ich den letzten Satzteil.

Yeji hatte interessiert den Kopf zur Seite geneigt und beäugte mich aufmerksam. „Dieses Versprechen kann ich dir nur geben, wenn du mir versicherst, dass mein Schweigen Minho auf keine Weise schadet." Ihre Stimme war scharf und ich verstand ihren Standpunkt.

Nichts anderes hätte ich von einer starken Frau wie ihr erwartet.

„Das wird es nicht, versprochen. Ich will weder ihm noch sonst einem von euch schaden. Vielmehr habe ich das Gefühl, ich soll euch helfen, etwas hier in Ordnung zu bringen oder zu verhindern."

Zumindest hoffe ich, dass ich das kann. Und ich hoffe ebenso, dass ich nicht gerade lüge, obwohl ich es nicht will.

Ich senkte den Blick und fügte dann leise hinzu: „Und womöglich hat diese Hilfe mit Minho zu tun, aber ich bin mir nicht sicher... Ich weiß nur, dass ich ihm beistehen will, sollte ihm eine schwere Zeit bevorstehen."

Alles konnte ich Yeji nicht verraten, aber irgendjemandem musste ich zumindest einen Teil des Ganzen anvertrauen und möglicherweise konnte sie mir weiterhelfen.

„Du hast ihn tatsächlich liebgewonnen, oder, Ji?"

Mein Verstand wollte schon vorschnell den Kopf schütteln und widersprechen, doch mein Herz zwang mich dazu, meine Worte weise zu wählen. „Es wäre eine Lüge, würde ich sagen, dass er mir vollkommen gleichgültig ist."

Ein vergnügtes Glucksen kam über Yejis Lippen und plötzlich stupste sie mir fest in die Seite, sodass ich zusammenzuckte. „Und schon wieder sprichst du wie ein Fremder... obwohl ich glaube, dass ich weiß, was du mitteilen willst." Sie lächelte mich offen, fast schon schelmisch an. „Du magst ihn aufrichtig, aber möchtest es nicht zugeben." Dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. „Du willst es nicht zugeben, weil das alles verändern könnte, habe ich Recht?"

Bei allem, was heilig ist, wieso muss diese Frau auch noch so verflucht clever sein?

„Du hast Recht, es könnte etwas verändern... vielleicht sogar den Lauf der Zeit und der weiteren Geschichte."

Nun runzelte Yeji die Stirn und schien gründlich über meine Worte nachzudenken. „Das klingt sehr ernst, Jisung. Aber es klingt ebenso wohlüberlegt und deshalb denke ich, ich kann dir vertrauen. Ich gebe dir also mein Einverständnis, selbst gegenüber Minho über das zu schweigen, was du mir anvertraust. Ich werde so lange schweigen, bis du mich von diesem Versprechen entbindest."

Erleichtert sah ich die junge Frau neben mir an. „Ich danke dir. Wirklich, von ganzem Herzen." Dann atmete ich noch einmal tief durch und sprach das laut aus, was ich schon seit knapp zwei Monaten akribisch vor meinem Umfeld verbarg: „Ich kann eure Gepflogenheiten nicht aufweisen oder eure kulturellen Eigenheiten verstehen, weil ich nicht aus dieser Zeit komme, Yeji. Ich stamme aus der Zukunft."

Nun lagen ihre tiefgrünen Augen unbeweglich und ergründend auf mir, und ich fragte mich schon, ob sie mich gleich auslachen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen blieb sie vollkommen still und ich wurde mit jeder verstreichenden Sekunde nervöser.

„Du meinst das wörtlich, oder? Du bist nicht aus dieser Zeit."

Ich nickte bestätigend und setzte dann vorsichtig hinzu. „Meine tatsächliche Lebenszeit wird, von eurer Zeitrechnung aus gesehen, in ungefähr 3500 Jahren beginnen... und es wird sich bis dahin unglaublich viel verändern."

Nun hörte ich doch ein leises, ungläubiges Luftschnappen und ich konnte förmlich die Zahnrädchen in Yejis Kopf ineinandergreifen sehen, während sie meine Aussage verarbeitete. Dann schüttelte sie kurz den Kopf und blickte anschließend prüfend zu mir.

„Und du bist aus dieser Zeit, aus der Zukunft, zu uns gekommen? Wie funktioniert sowas?"

Mit einem schmallippigen, resignierten Lächeln zog ich die Schultern hoch. „Wie das genau möglich ist, weiß ich selbst nicht. Ich habe in meiner tatsächlichen Lebenszeit mit einem guten Freund die Grabkammer von Minho gefunden und nachdem ich mich vor einem Erdbeben in seinem leeren Sarkophag versteckt habe, bin ich in eurer Zeit in der ebenso leeren Grabstätte aufgewacht."

Die Dunkelhaarige mir gegenüber schien plötzlich eine Art Erleuchtung zu haben. „Du warst also wirklich in Minhos Grabkammer, aber nicht weil du vor dem Krieg in Nubien geflohen bist und dich versteckt hast, sondern weil du in einer fremden Zeit aufgewacht bist." Ihre Augen glänzten, während sie weiterhin angestrengt überlegte. Plötzlich richtete sie ihren intensiven Blick erneut auf mich und für einen Moment befürchtete ich, sie würde jetzt sagen, sie könne mir diesen Unfug nicht glauben. Stattdessen kam eine ähnlich absurde Frage.

„Bist du ein Gott?"

Nun war ich derjenige, der auflachte und dann nachdrücklich den Kopf schüttelte. Mir war bewusst, dass ich mit meiner nächsten Antwort vorsichtig sein sollte, was den ägyptischen Glauben betraf. Immerhin waren für Yeji und alle anderen in diesem Land die Götter wichtige Bezugspersonen und Schutzpatronen. Für Yeji musste es naheliegend sein, dass jemand, der in der Zeit reisen konnte und davon sprach, aus der Zukunft zu stammen, eine übernatürliche Erscheinung war. Aber wäre die Erklärung so simpel, dann hätte ich mich selbst schon am ersten Tag zurück ins Jahr 2024 geschickt.

„Nein, an mir ist nichts göttlich. Sonst hätte ich immerhin bewusst steuern können, dass ich hierher komme und das war nicht der Fall. Außerdem wüsste ich dann, weshalb ich hier bin."

Die junge Frau schien diese Erklärung zu akzeptieren. „Du hast Recht, du hättest nicht so verängstigt reagiert, als du hier ankamst." In den folgenden Sekunden schien sich eine neue Möglichkeit für sie zu ergeben, denn sie rutschte nun näher und sprach eindringlich zu mir. „Das heißt, du wurdest hierhergeschickt und du weißt nicht, wer dafür verantwortlich ist und warum es passiert ist. Vielleicht wollte ein Gott, dass du zu uns findest und hier etwas für uns tust. Aber wie finden wir heraus, was der Sinn deiner Reise ist?"

Ich ließ Yeji in dem Glauben, dass die Götter ihre Finger hier im Spiel haben könnten und zuckte bei der letzten Frage die Schultern. „Genau das weiß ich nicht und ich habe auch keine Ahnung, wie ich es herausfinden kann."

Es wäre etwas voreilig, ihr anzuvertrauen, dass ich denke, dass es beim Sinn meiner Zeitreise darum geht, Minhos Leben zu retten. Bei einer solchen Offenbarung würde sie mir nicht mehr vertrauen und denken, ich hätte ihr Schweigen mit falschen Versprechen erschlichen.

Yejis Blick schweifte gedankenverloren über den idyllischen Garten, bis er an der spiegelglatten Oberfläche des Sees hängenblieb. „Was ist, wenn die Götter dich hergeschickt haben, damit du Minho unterstützt... oder damit ihr zueinanderfindet. Vielleicht kann dein Wissen ihm helfen und alles wird einfach zur rechten Zeit geschehen."

Diese durchaus logische, aber ebenso fragwürdige Lösung wäre wirklich zu schön, um wahr zu sein.

„Selbst wenn es so ist, wann weiß ich, dass ich diese Aufgabe erfüllt habe? Werde ich danach zurück in meine Zeit geschickt? Immerhin habe ich dort ein Leben, Freunde, eine Arbeit... Das hier ist ganz anders, und ich weiß nicht, ob ich das ein ganzes Leben lang möchte oder überhaupt geeignet dazu bin, den Geliebten des Pharaos zu spielen."

Yeji schien sich gerade eine wohldurchdachte Antwort zurechtzulegen, aber wurde je von einem Sklaven unterbrochen, der zu ihr trat, sich ehrerbietig verneigte und dann mit ruhiger Stimme sprach, während er ihr einen kleinen Talisman überreichte.

„Ich bitte vielmals um Verzeihung für die Unterbrechung, aber eine gewisse Ryujin aus der Küche übergab mir diesen Anhänger mit dem Auftrag, ihn unverzüglich zu euch zu bringen. Ich soll euch bitten, sie umgehend aufzusuchen."

Verständnislos blickte ich zwischen dem Sklaven, dem Talisman und Yeji hin und her, wobei Letztere nun deutlich besorgt aussah. Sie nahm dem Mann den Anhänger ab und erhob sich rasch.

„Vielen Dank für eure Mühe, ihr dürft nun gehen." Ihre Stimme klang ungewöhnlich autoritär und als ihr Blick auf mich fiel, verkniff ich mir jegliche Frage, da ich deutlich erkannte, dass sie nicht die Zeit noch die nötige Geduld hatte, mir zu erklären, was gerade vorging. Deshalb akzeptierte ich ihre letzten Worte an mich auch mit einem Kopfnicken.

„Wir werden an einem anderen Tag weiter darüber sprechen, Jisung. Bis dahin ist dein Geheimnis bei mir sicher, immerhin dürfen wir den Lauf der Dinge nicht zum Negativen beeinflussen."

Anschließend machte sie auf dem Absatz kehrt und ich sah ihr prüfend nach, während sie zwischen den Säulen entlangeilte.

Ich hoffe, es war kein Fehler, ihr das alles anzuvertrauen. 


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Und was denkt ihr? War es eine gute Idee von Jisung, sich Yeji anzuvertrauen? 

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