Der Herr des Tempels

Jisungs Pov: 

Bald jedoch stellte ich fest, dass das Warten zu einer Qual werden könnte, denn allmählich wurde mir schummrig und ein oder zweimal bildete ich mir dank der Rauchschwaden sogar ein, die Statue würde sich langsam zum Gesang bewegen.


Endlich endeten die Gesänge und wir konnten uns erheben – was jedoch nicht bedeutete, dass wir den Tempel verließen. Denn nun wurden dem Gott die Opfergaben dargereicht und man konnte weitere Gebete anschließen oder seine Wünsche und Hoffnungen separat mitteilen. Auch zu uns traten zwei der Priesternovizen und reichten uns die ausgewählten Gaben an, sodass Minho und ich sie nur noch dem Gott zu Füßen legen mussten. Ich tat meine Pflicht und platzierte einige Früchte und Schmuckstücke auf dem Sockel der Statue, obwohl meine Lungen mittlerweile brannten und dunkle Schatten an den Rändern meines Sichtfeldes auftauchten.

Nach weiteren fünf Minuten hielt ich es endgültig nicht länger im Inneren des Tempels aus, und nachdem ich Minho mitgeteilt hatte, dass ich mich kurz zurückziehen musste, schleppte ich mich die schwach ausgeleuchteten Gänge entlang in Richtung des Eingangsbereiches. Das schummrige Halbdunkel des Säulensaals trug nicht unbedingt zu meiner Orientierung bei und das aufkommende Schwindelgefühl machte alles noch komplizierter. Dennoch bemühte ich mich verbissen, nicht schon auf halbem Wege schlappzumachen. Ab und an legte ich eine kurze Pause ein, lehnte mich an die Kalksteinwand, atmete eher flach und versuchte, das Kratzen im Hals mit einem Räuspern zu bekämpfen.

Schließlich trat ich hinaus ins Sonnenlicht und schleppte mich noch einige Meter weiter, um von dem Durchgang und den herausströmenden Rauchschwaden wegzukommen. Mit einem erleichterten Japsen sog ich dort die frische, unverbrauchte Luft in meine Lungen und stützte mich möglichst unauffällig an einem der hohen, runden Pfeiler ab. Allmählich klärte sich mein Geist und die unerträgliche Benommenheit und der Schwindel ließen nach.

„Geht es Euch gut, königlicher Gemahl?"

Ich wandte den Blick zurück zum Eingang und entdeckte einen der Novizen des Karnaktempels. Seine schlichte Robe und das abrasierte Haar wiesen ihn deutlich als einen solchen aus. Er wirkte noch recht jung, aber in dieser rauen Welt musste er sich seinen Lebensunterhalt bereits selbst verdienen. Ich schätzte ihn auf etwa vierzehn oder fünfzehn, und seine wachen, hellen Augen betrachteten mich beinahe besorgt, während er näherkam. Ich sah ihm an, dass er seine Frage gleich noch einmal stellen würde, wenn ich nicht endlich antwortete, und da er mir recht freundlich vorkam, beschloss ich, die Wahrheit zu sagen.

„Mir geht es gut, ich vertrage nur all den Rauch nicht besonders."

Unvermittelt lachte der Junge glockenhell und nickte bekräftigend. „Das verstehe ich nur zu gut, Majestät. Zu Beginn meiner Ausbildung im Tempel hatte ich auch große Probleme mit dem Atmen und den tränenden Augen. Sogar wenn ich am Abend auf meiner Strohmatte lag, wurde ich das Gefühl nicht los, etwas Schweres würde meine Brust zusammendrücken... Aber irgendwann gewöhnt man sich wohl daran." Er hob kurz die Schultern, so als würde er ein Achselzucken andeuten, dann jedoch wurden seine Wangen feuerrot und er sah verlegen zu Boden. „Verzeiht mir, dass ich so ungezügelt daherredete. Sicher wolltet ihr das alles gar nicht hören."

Ich lächelte, schüttelte den Kopf und versuchte, ihn mit meinen nächsten Worten zu beruhigen. „Nein, mach dir darüber keine Gedanken. Im Gegenteil, ich bin dankbar für deine aufrichtigen Worte."

Plötzlich schälte sich ein brauner Haarschopf aus dem Dunkel des Haupteinganges und zwei smaragdgrüne Augen blitzten wachsam auf, als sie die Szene zwischen dem Novizen und mir analysierten. Felix hielt eine Hand schon am Heft seines Dolches, während er mit energischen, beinahe drohenden Schritten auf uns zulief, und rasch trat ich nach vorn, um ihm mitzuteilen, dass hier keine Gefahr für mich bestand. „Felix, ich bin wohlauf. Ich wollte nur aus diesem stickigen Raum heraus und dieser Junge hat sich freundlich mit mir unterhalten." Ich deutete auf den etwas eingeschüchtert dreinblickenden Priesternovizen und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Wie heißt du überhaupt?", fragte ich ihn nun, um die Situation weiter zu entschärfen.

Der Junge beäugte Felix immer noch etwas skeptisch, wobei er gleichzeitig so wirkte, als würde er jeden Augenblick auf die Knie sinken und um sein Leben flehen, aber dann richteten sich seine Augen wieder auf mich, bevor er sie rasch auf den Boden vor mir fokussierte und antwortete: „Ich heiße Nafi, oh großer königlicher Gemahl."

Felix schien mittlerweile ebenfalls verstanden zu haben, dass von dem Jungen keine Bedrohung ausging, denn seine Haltung entspannte sich und dennoch stellte er sich dichter neben mich, um mir dann formell, wie er mich in der Öffentlichkeit nun einmal ansprechen musste, mitzuteilen. „Seine Majestät, der Pharao, hat mich beauftragt, Euch zu folgen und sicherzustellen, dass Euch nichts geschieht."

Zustimmend nickte ich, nahm die in Felix Stimme mitschwingenden Zweifel in Kauf und schenkte dann Nafi ein warmes Lächeln. „Wie gesagt, mir geht es bestens. Und in eurer beider Gesellschaft wird mir sicher nichts geschehen."

Nafi nickte eilig und seine großen, braunen Augen wurden noch runder. „Der Tempelbezirk ist bestens bewacht. Niemand würde es wagen, direkt vor den Augen der Götter eine sündhafte Tat zu begehen", versicherte er mir, woraufhin Felix nur leise schnaufte und sich demonstrativ sehr gründlich auf dem großen Vorplatz umsah.

Und wie es der Zufall so wollte, trat just in diesem Moment Senmut aus einem der Nebengebäude und blickte voller Hochmut und Verachtung in unsere Richtung, bevor er den Platz überquerte und dann zwischen den hoch aufragenden Steinsäulen wieder wie ein Schatten verschwand. Ich blickte noch einen Wimpernschlag länger auf die Lücke zwischen den Säulen, zwischen denen er verschwunden war, und dachte darüber nach, was bei meiner letzten Begegnung mit dem Hohepriester geschehen war – wie er seinen eigenen Sohn gedemütigt hatte. Wenn ich mich richtig erinnerte, war Senmut nicht einmal bei Seungmins Beisetzung dabei gewesen, geschweige denn hatte er irgendwelche Fragen bezüglich Seungmins Tod gestellt.

Wie eiskalt muss man sein, um sein eigenes Kind so wenig zu lieben? Ob er wohl auch aus einer langen Ahnenreihe mit unverarbeiteten Traumata stammt? Dennoch hätte er nie so mit Seungmin sprechen dürfen. Und was ist, wenn er in Wahrheit hinter dem Komplott gegen Minho steckt? Immerhin hat er mehr persönliche Rachegründe als die meisten anderen Personen. Könnte es sein, dass der Tod seines Sohnes doch etwas in ihm auslöst oder schon ausgelöst hat, was ihn Minho genug hassen lässt, um ihn ermorden zu lassen?

Bevor ich mich weiter mit dem verdächtigen Hohepriester befassen konnte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie Nafi sich unruhig bewegte und zum Haupteingang hinübersah. Nun kam auch noch Minho mit Changbin im Schlepptau auf uns zu und ich hatte das Bedürfnis, den Jungen zu beruhigen und ihn wissen zu lassen, dass ihm keine Gefahr drohte, nur weil er sich mit mir unterhalten hatte.

„Meinen Gemahl kennst du ja sicherlich", meinte ich gut gelaunt und lächelte Minho entgegen, um diese ganze Situation weniger unangenehm und förmlich zu gestalten. „Und der Mann neben ihm ist Changbin. Der Kommandant der Stadtwache."

Nafi nickte erneut voller Eifer, beinahe ehrfürchtig. „Ja, ihn kenne ich ebenfalls. Er war in den letzten Wochen öfter im Tempel, um mit unserem Hohepriester und mehreren anderen Priestern zu sprechen."

Bevor ich darauf näher eingehen konnte, spürte ich eine sanfte Berührung an meiner Schulter und dann ertönte Minhos weiche Stimme. „Jisung, bist du wohlauf?"

Ich musste kurz grinsen, weil mir diese Frage ziemlich häufig in der letzten Viertelstunde gestellt worden war, doch dann bejahte ich und blickte hinüber zu Nafi, der nun auf dem Boden kniete und die Stirn ehrerbietig auf den glattbehauenen Kalkstein drückte. Mittlerweile war ich es gewohnt, dass jeder Minho zu Füßen lag, und deshalb stellte ich mich an die Seite meines Mannes und sagte dann zu ihm: „Geliebter Gemahl, das hier ist Nafi. Er war sogleich zur Stelle und hat sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt. Du siehst also, ich war in bester Gesellschaft."

Minho schien sofort zu verstehen und betrachtete den knienden Priester, bevor er ihn in freundlichem Tonfall aufforderte: „Du darfst dich erheben, Nafi. Mein königlicher Gemahl hat eine ausgezeichnete Menschenkenntnis, und wenn er dich für würdig erachtet, um dich mir vorzustellen, musst du etwas Besonderes sein."

Der junge Novize erhob sich hastig, hielt den Blick aber weiterhin brav gesenkt, während er mit roten Wangen und Ohren murmelte: „Habt Dank, Eure Majestät. Dieses Lob ist zu viel für einen einfachen Diener der Götter. Ich werde Euch in meinen nächsten Bitten besonders lobpreisen und für Eure göttliche Seele beten. Sicherlich werden die Götter Eure Güte ebenso erkennen wie alle Menschen, die Euch je begegnen durften, oh großer Pharao." Dann wandte er sich mit seinen nächsten Worten an mich. „Und Euch, königlicher Gemahl, wünsche ich, dass Euer Licht für immer so klar und wegweisend den Pfad vor Euch erhellt. Ihr habt mir an diesem Tag einen Augenblick der Freude und Wärme offenbart, den ich nie zu erhalten gewagt hätte. Deshalb werde ich auf ewig Euer Licht und Eure Güte bei mir tragen."

Ich war gerührt von dieser Ansprache und eine eigenartige Form des Weltschmerzes setzte sich in meiner Brust fest – als würden Nafis Worte so viel mehr beschreiben und so viel tieferen Sinn hervorbringen, dass ich nicht gleich verstand, was sie alles in mir auslösten. Doch dann neigte ich den Kopf und erwiderte andächtig. „Deine Worte waren so wunderschön, wie sie ehrlich sind. Ich wünsche dir ebenso alles Glück und Licht, das dieses Leben dir zu bieten hat."

Nach einer kurzen Pause schloss sich sogar Minho an. „Du hast nicht nur meinen Gemahl in kürzester Zeit beeindruckt, Nafi. Deine Redegewandtheit und deine Betrachtung der Welt sind bewegend und voller Hoffnung. Lerne fleißig und ich bin mir sicher, du wirst es weit bringen in diesem Leben." Dann wandte Minho sich an mich und bot mir seine Hand an. „Lass uns nun gehen, Jisung. Auf mich wartet in Theben noch ein Rat voller wissbegieriger und schwer zu vertröstender Beamter."

Andächtig nahm ich seine Hand, verschränkte unsere Finger und lächelte Nafi ein letztes Mal zu, bevor ich die wenigen Treppenstufen würdevoll hinabstieg und mit Minho gemeinsam zwischen den beiden Statuen von Ramses hindurchtrat.

Um sicherzugehen, dass Senmut nicht noch hinter einer der Säulen lauerte, spähte ich immer wieder nach links und versuchte, die Schatten der Steinmauern nach verdächtigen Bewegungen abzusuchen.

Dieser Mann ist kein guter Mensch. Ihm würde ich von allen am wenigsten vertrauen. Wie offen er seine Abneigung gegen Minho und mich zur Schau stellt, ist ganz sicher kein gutes Zeichen. Aber ich habe irgendwie die Befürchtung, dass er zu hochmütig ist, um sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Ob er seine Priester oder gar die Novizen zu irgendwelchen Taten anstiftet?

Endlich ließen wir den langen Vorplatz des Säulensaals hinter uns und die Sphingen tauchten wieder zu beiden Wegseiten auf. Rechts von uns erstreckte sich nun der heilige See, eine künstlich angelegte Wasserfläche, die sich ebenfalls aus dem Nil speiste. Links von uns befanden sich kleinere Kapellen, die verschiedene Pharaonen der 18. Dynastie hatten anlegen lassen. Und auf einem kleinen Areal direkt vor uns, das von einigen Akazien und Zypressen beschattet wurde, standen unsere Sänften.

Kurz wandte sich Minho um, sodass er zum Tempel zurückblicken konnte. „Ich weiß, weshalb ich diesen Ort meide... All der Reichtum und die Pracht, die hier ausgestellt werden, sind nicht für die Huldigung der Götter oder einen höheren Zweck gedacht. Alles an diesem Ort dient einer Selbsterhöhung der Machthungrigen."

Ich seufzte leise und zuckte die Schultern. „Dann lass uns gehen, Minho. Man kann nicht jeden bekehren und das ist auch nicht unsere Aufgabe."

Ein zustimmendes Summen ertönte. „Damit hast du recht, Kätzchen."


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Und traut ihr Senmut zu, sich an einem möglichen Attentat auf Minho zu beteiligen? 👀


I love you Stay. 💖

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