Das Gewicht einer ganzen Welt

Triggerwarnungen für dieses Kapitel: Selbstzweifel, Kindheitstrauma

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Jisungs Pov: 

„Wo-wo bin ich hier?"


Ein leichter Schauer lief über meinen Rücken, als der junge Mann neben mir nun begann, sanft meine Schulter zu streicheln und somit ungeahnt eine Menge an Gefühlen in meinem Inneren auslöste. Zunächst war da das übermächtige Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit. Ich brauchte dringend jemanden, den ich umarmen konnte. Kurz dachte ich an Yeosang und mein Herz wurde noch schwerer.

Aber dann kämpfte sich zeitgleich ein weiteres Gefühl an die Oberfläche. Heftig und unnachgiebig machte es sich in mir breit und ich wusste nicht, wie ich es eindämmen sollte: Verwirrung, Verwirrung darüber, dass ich plötzlich hier war, dass ich in einem hellen, einladenden Raum stand und nicht in einem nachtschwarzen Verlies von den Schergen des Pharaos gefoltert wurde. Keiner glaubte mir, da verstand ich beim besten Willen nicht, weshalb man mich nicht einsperrte. Naja, obwohl... irgendwie schien dieser Ort doch ein weiteres Gefängnis zu sein, denn ich konnte nicht weg, das hatte Felix deutlich gesagt.

Der junge Mann mit der sanften Stimme trat ein wenig näher und ohne dass ich etwas gesagt oder getan hätte, griff er vorsichtig nach meinen Oberarmen und hielt mich fest. Er zog mich sogar dichter an sich und plötzlich hob er seine Hand, um über meine Wange zu streichen. Zunächst zuckte ich zurück, da ich erwartete, dass er mir wehtat. Doch seine Fingerspitzen wischten lediglich hauchzart über meine Wange und dann erst bemerkte ich, dass ich weinte.

Ganz unbemerkt hatten sich ganze Tränenströme einen Weg über mein Gesicht gebahnt und tropften bereits auf das helle Gewand, das ich am Leib trug.

„Nicht weinen. Du musst dir keine Sorgen machen, du bist hier sicher", murmelte mein Gegenüber beruhigend und zog mich noch enger an sich. Seine Arme legten sich schützend und wärmend um meinen Rücken und ich ließ mich mehr und mehr in die Umarmung sinken. Wie ein Damm, der in meinem Inneren brach, strömten zahllose Tränen über meine Wangen, meine Sicht verschwamm und ich schluchzte verzweifelt auf. Erst jetzt – als ich im Arm gehalten wurde – kam ein weiteres, viel endgültigeres Gefühl hinzu, das mich nur noch mehr zum Verzweifeln brachte.

Machtlosigkeit.

Ich war allein. Ich war an einem vollkommen fremden Ort. Ich wusste nicht, wie ich wieder zurück in meine Zeit gelangen sollte.

Schon fast reflexartig und aus Gewohnheit tastete ich nach der Kette und dem Lapislazuli um meinen Hals, doch fand ihn nicht. Also schluchzte ich noch heftiger und schlang meine Arme haltsuchend um den trostspendenden Körper vor mir.

Nichts war mehr an seinem Platz. Nichts war, wie es sein sollte. Ich hatte nichts. Ich war ein Nichts.

Meine Beine gaben nach und für einen Moment hatte auch mein Gegenüber Schwierigkeiten, mich zu halten.

„Beim großen Osiris", murrte eine Stimme hinter mir und plötzlich stützte mich ein weiteres Paar Arme. „Seungmin, wir bringen ihn erst einmal zum Schlafsaal. Er muss sich ausruhen", stellte die gleiche Stimme rational fest.

Noch immer bebte mein Körper und ich hatte nicht genug Kraft, um mich von allein aufrecht zu halten. Es war einfach zu schwer – die Wahrheit war zu schwer und lastete auf meinen Schultern wie eine ganze Welt.

Nur halb bekam ich mit, wie wir einen Nebenraum betraten und plötzlich lief ein weiterer Junge auf uns zu. „Bei den Göttern. Was ist denn los mit ihm?"

„Wir haben jetzt keine Zeit, Niki. Gehst du bitte und holst Wasser?" Diese sanfte Stimme gehörte dem Braunhaarigen, der mich von Felix in Empfang genommen hatte.

Nun wurde ich zu einem eigentümlichen Bett geführt, das aus einem zierlichen Holzgestell bestand und mit bestickten Decken bezogen war. Einige sandgelbe Kissen lagen am Kopfende und der Junge mit dem braunen Haar drückte mich in aller Vorsicht auf die Bettstatt nieder. „Hier, ruh dich etwas aus", murmelte er und warf mir einen mitleidigen Blick zu. Durch meinen Tränenschleier konnte ich es zwar nur undeutlich erkennen, doch er schien sich tatsächlich Sorgen um mich zu machen.

Noch immer wollte der Schmerz in meiner Brust nicht wirklich nachlassen. All die Erinnerungen an Yeosang kamen erneut hoch: Meine vielen Abenteuer mit ihm, die gemeinsamen Abende in Clubs, die Lerntage in der Uni.

Werde ich ihn überhaupt je wiedersehen? Habe ich je die Chance ihm zu sagen, dass ich ihn für den wichtigsten Menschen in meinem Leben halte? Dass er allein mir nach dem Tod meiner Eltern und meines Bruders die Kraft zum Weitermachen gegeben hat? Dass er die einzige Familie ist, die ich noch habe?

Die Pein schien unerträglich zu werden und ich wimmerte verzweifelt, griff nach einem Kissen und presste es heftig gegen meine Brust.

„Bitte, du musst dich beruhigen", murmelte eine Stimme wie aus weiter Ferne. „Wenn du so weitermachst, dann wirst du noch ohnmächtig." Eine kühle Hand legte sich an meine Wange und streichelte diese. „Egal was passiert ist, es wird alles wieder in Ordnung kommen."

Eine schöne Lüge.

„Seungmin, ich habe hier das Wasser. Was ist mit ihm? Wer ist er?" Mein Schluchzen wurde wieder lauter und wenn möglich noch verzweifelter.

„Psst~ er kann jetzt keine weitere Aufregung vertragen." Das war wieder die leise, engelsgleiche Stimme. Doch auch diese konnte mich jetzt nicht aus dieser finsteren Abwärtsspirale befreien und ich schnappte verzweifelt nach Luft. Es schien, als hätte mein Geist entschieden, all das aufgestaute und gut versteckte Leid meiner zerstörten Kindheit auf einmal herauszulassen, passend zu dem komplett vernichtenden Gefühl, dass mein gesamtes Leben gerade am seidenen Faden hing. Es fühlte sich an, als ob sich eine Flut aus Erinnerungen durch meinen Kopf walzte, eine unerträgliche Sturzwelle, die alles Gute hinwegspülte und nur noch die Einsamkeit, die Angst und tiefe Hoffnungslosigkeit übrigließ, die ich schon einmal durchlebt hatte. Mein Körper zitterte erschöpft und ich begann zu frieren, obwohl es im Raum ziemlich warm war.

„Das ist genug... ich sage den Bediensteten, dass sie Meister Horum holen sollen." Das war wieder diese neutrale Stimme, die nun dennoch etwas verunsichert klang.

„Nein, tu das nicht." Ein kühler Lappen legte sich unvermittelt auf meine Stirn und dann wurde ich näher an einen warmen Körper gedrückt. „Beruhige dich. Bei uns wird dir nichts geschehen. Du bist hier in Sicherheit." Dann sprach die beruhigende Stimme nicht mehr zu mir, sondern offenbar erneut zu dem anderen Mann. „Wenn wir Meister Horum holen lassen, dann wird es seine Majestät sofort erfahren. Aber er-", mir wurde sanft über den Arm gestreichelt, „-braucht gerade ganz sicher keine weitere Aufregung."

Jetzt war ein abfälliges Zischen zu hören und Schritte entfernten sich rasch.

Ohne es zu merken, hatte ich nach der Hand gegriffen, die mich immer noch streichelte. Ich war es zwar nicht gewohnt, mit einem Jungen Händchen zu halten, doch jetzt schob ich tatsächlich meine Finger zwischen seine und lehnte mich gegen ihn. Mein Körper wurde weiterhin von Schluchzern und rasselndem Luftholen geschüttelt und ich fühlte mich langsam so leer, dass ich nicht mehr wusste, was ich noch betrauern sollte.

Meine Augen schlossen sich flatternd und ich sah nur noch Schwärze. Da war nichts anderes als Dunkelheit, doch ich begrüßte sie fast schon. Sie passte zu meiner inneren Leere und meinem übermächtigen Wunsch, diesem Ort, dieser Zeit und allem, was um mich herum ohne mein Zutun geschah, zu entfliehen.

Doch genauso wenig sah ich in der Schwärze eine Lösung für meine Misere, als würde sich der Pfad vor mir im Wüstensand verlaufen, als hätte ihn der scharfe Wind bereits verweht und unter einer Schicht feinkörnigem Gestein begraben, um mich am Weitergehen zu hindern. Er sollte mein Vorankommen aufhalten und am Ende sogar mich gefangen halten, denn nur das war ich - ein Gefangener.

Ich bin doppelt gefangen – zum einen von der Zeit und zum anderen von einem König.

Meine eigenen, wirren Gedanken ließen mir schwindelig werden. Ich wollte am liebsten in einen tiefen, traumlosen und immerwährenden Schlaf versinken und jeglichen Schmerz – sei er nun körperlich oder geistig – vergessen. Immer weiter gab ich mich dieser Hoffnung hin, während mein lautes Schluchzen langsam zu einem Wimmern wurde und ohne es richtig zu realisieren, schlief ich an der Brust des anderen Jungen ein.


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„Meinst du, dass wir ihn nicht langsam aufwecken sollten?", wisperte eine Stimme nicht allzu weit entfernt von mir.

„Psst~ lass ihn einfach schlafen Niki", murmelte eine zweite Stimme, die mir schon bekannter vorkam.

„Aber die Sonne steht schon seit fünf Stunden am Himmel... Was ist, wenn er ernsthaft krank ist? Wir sollten vielleicht doch einen Arzt herbeirufen."

Benommen lauschte ich den beiden Stimmen und nach einigen Sekunden wurde mir schmerzlich bewusst, dass sie da von mir sprachen.

Sie meinen mich und wissen offenbar genauso wenig mit mir anzufangen wie ich. Dennoch will ich ihnen keine unnötigen Umstände bereiten. Ich sollte nicht auch noch eine Last für andere darstellen.

Also versuchte ich, die Augen zu öffnen und blinzelte dann mehrmals. Das helle Licht der Sonne fiel nur gedämpft durch die weißen Stoffe, die vor den Fensteröffnungen hingen. Endlich bewegte ich mich ein wenig und drehte mich zu den Stimmen um.

„Sieh nur, Minnie! Er ist wach", rief ein Junge mit dunkelbraunen Haaren und einem niedlichen Stupsnäschen überrascht. Er sah noch recht jung aus und schien sich außerordentlich über meinen wachen Anblick zu freuen.

„Isis sei Dank." Der zweite Junge mit der tollen, beruhigenden Stimme eilte zu mir und beugte sich über mich. „Wie geht es dir? Hier trink erst einmal etwas." Er reichte mir einen bereitstehenden Silberbecher mit Wasser und setzte sich auf die Bettkante.

Umständlich rappelte ich mich auf, sodass ich meinen Rücken gegen die geschwungene Kopflehne des Bettes sinken lassen, und den Becher entgegennehmen konnte. Ich hatte tatsächlich schrecklichen Durst und trank einen großen Schluck. Kurz war ich überrascht, wie sauber und erfrischend das Wasser war, aber nach einer kleinen Pause stürzte ich es herunter und sah mich suchend nach mehr um.

„Warte, ich schenke dir noch etwas nach. Aber trink es diesmal langsam, sonst bekommt es dir nicht." Schon wieder schwang dieser besorgte Tonfall in der Stimme des jungen Mannes mit und ich starrte ihn nur verwirrt an.

Warum ist er eigentlich so nett? Warum hilft er mir und kümmert sich um mich? Weiß er nicht, dass ich angeblich nur ein Flüchtling bin... jemand, für den es sich nicht lohnt, seine Zeit und solche Mühe zu opfern?

„Hier, bitte." Der Braunhaarige goss aus einem ebenso silbernen Krug mehr Wasser in den Becher und stellte dann nochmal seine Frage. „Wie geht es dir?"

Naja, gut wäre wohl gelogen.

Ich fühlte mich immer noch so komisch leer und einsam, meine Augen waren angeschwollen vom Weinen und mein Kopf schmerzte leicht, doch die Sorgen waren nicht mehr so schrecklich übermannend wie gestern. Zögerlich nickte ich. „Besser", murmelte ich leise.

„Wie heißt du?", platzte es jetzt aus dem jungen Mann mit der Stupsnase heraus, bevor er sich schon vertrauensvoll am Fußende des Bettes niederließ und mit neugierigen Rehaugen zu mir blickte.

„Ich... ich bin Jisung", sagte ich zurückhaltend und sah hinab auf die weiche Decke, die um meine Beine gewickelt war.

„Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen. Ich heiße Niki. Tatsächlich habe ich einen längeren Namen, aber ich mag Niki viel lieber", plapperte der Junge munter drauflos.

„Ich bin Seungmin", sagte der andere Junge und lehnte sich etwas nach vorn, um mir den halbleeren Becher wieder aus der Hand zu nehmen und so wohl zu verhindern, dass ich zu schnell zu viel trank.

„Wie alt bist du?" Er schien ebenfalls neugierig zu sein und versuchte mit ungezwungener Konversation etwas über mich zu erfahren.

„Ich- ich bin 23", antwortete ich ein wenig überfordert von all der Aufmerksamkeit.

Seungmin blickte mich mit seinen intelligenten, braunen Augen an, die mich an einen kleinen Welpen erinnerten.
„Oh wie wunderbar, dann sind wir im selben Alter", meinte er leichthin und deutete dann auf Niki. „Er ist jetzt 18 und macht aber so viel Unfug, als wäre er erst 9" kommentierte er. Dann lächelte er wieder so herzerwärmend und betrachtete mich aufmerksam.

„Kannst du uns möglicherweise erzählen, weshalb du gestern so traurig warst? Warum glaubt Felix, du würdest von hier fliehen wollen?" Man merkte, dass er noch viele weitere Fragen hatte, aber sie nicht auch noch stellte, um mich nicht vollkommen zu überrumpeln.

Ich verspürte das dringende Bedürfnis, jemandem die gesamte absurde Geschichte zu erzählen, doch dann erinnerte ich mich wieder, wo ich mich momentan befand. Wenn ich behauptete, aus der Zukunft zu kommen, dann würde ich wohl endgültig das Zeitliche segnen. Deshalb musste wohl wieder ein Teil meiner neuen Wahrheit her. Irgendwann würden mir die Worte wohl selbst in Fleisch und Blut übergehen und am Ende würde ich sie selbst glauben.

„Ich bin ein Flüchtling aus den eroberten Gebieten – aus Kerma", verriet ich den beiden, die aufmerksam lauschten. „Ursprünglich komme ich aus Mesopotamien, dort habe ich meine gesamte Familie bei einem Feuer verloren", murmelte ich tonlos und fügte mit einer Art endgültigem Eingeständnis hinzu: „Ich habe nichts mehr."

Mitleidig und ein wenig ergriffen schüttelte Seungmin den Kopf. „Es betrübt mich, zu hören, dass du so viele, wichtige Menschen verloren hast. Ehrlich gestanden, möchte ich mir sowas nicht einmal vorstellen. Aber sei dir versichert, wir sind hier füreinander da. Wir werden dich bei uns willkommen heißen. Du bist nicht länger allein, hörst du? Du hast jetzt uns." Niki rutschte ein Stück näher und nickte bekräftigend.

Komischerweise lösten ebendiese Worte und die vertrauensvolle Geste einen kleinen Hoffnungsschimmer in mir aus und ich blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an.

„Ich danke euch", sagte ich leise und emotional ergriffen, aber ich war immer noch nicht ganz sicher, wie ich mich den beiden gegenüber verhalten sollte.

„Du musst uns nicht danken. Wir sind gern füreinander da. Aber warum hat Felix dir den Ausgang verboten, wenn du doch gar keinen Grund hast, von hier zu fliehen?" Jetzt war Nikis Zurückhaltung wohl endgültig dahingeschmolzen, denn er betrachtete mich fragend aus seinen dunklen Augen.

„Ich-ich..." Kurz war mir nicht ganz klar, was ich erwidern sollte. „Felix hat gesagt, man könnte mir nicht vertrauen. Er hat mich extra vor den König geführt, sodass dieser sich selbst davon überzeugen konnte." Wieder stockte ich und ich hatte furchtbare Angst, dass die beiden vor mir sich auch von mir abwenden würden, sobald ich ihnen die ganze Geschichte erzählte. „Bei meiner Flucht bin ich ins Tal der Könige gelaufen und unglücklicherweise habe ich mich in dem Grabkomplex seiner Majestät versteckt... ich wollte nur vor den Soldaten sicher sein, aber keiner glaubt mir. Sie sagen, ich würde lügen und man könne mir nicht vertrauen, deshalb haben sie mich wohl hierher gebracht", meinte ich niedergeschlagen und senkte den Kopf noch weiter, um nicht der Ablehnung auf ihren Gesichtern begegnen zu müssen.

Es war komisch, sich an einem Ort zu befinden, wo alle einem misstrauten, wo man allein und ohne Schutz war. Es gab in dieser Zeit keinen sicheren Platz für mich.



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Update zu meinem kleinen Finger: Es geht ihm besser, die Schwellung ist zurückgegangen, aber ich muss ihn immer noch nicht lackieren, weil das gesamte Nagelbett hübsch lila gefärbt ist... Aber tippen und alltägliche Tätigkeiten sind eigentlich kein Problem mehr, deshalb gibt es heute wieder zwei Kapitel mit extra viel Text und Inhalt. 

I love you Stay. 💖

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