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Luca, Dublin 19:00 Uhr
Es ist so heuchlerisch wie sich zwei Menschen in die Arme fallen, die ewige Liebe
versprechen, nur um wenige Augenblicke später in diesem Gebäude der Sünde zu
verschwinden und sich zu hintergehen. Die rote Leuchtreklame des „Rubies“, dem
angesehensten und teuersten Club Dublins, blinkt in der von Dunkelheit
zerfressenen Stadt, hoch oben über den Köpfen der tausenden Menschen, die sich
durch die Gasse drängen und verlorenen Wünschen nachjagen. Manche von ihnen
werden abgelenkt von den verlockenden kurzen Röcken, die sich ins Rubies
schlängeln, von den knappen, glitzernden Kleidern und dem glockenhellen Lachen
der jungen Frauen, um dessen Körper sich die verruchten Stoffe hüllen. Sie schreien
nach Sünde, schmecken wie das Glut der Hölle, doch benebeln die Sinne mit ihrer
wärme. Dublin ist vieles, aber nachts vor allem die Versuchung. Und hier, im Rubies,
verschließt jeder die Augen vor den Konsequenzen, welche sie im echten Leben
ereilen, es wird genossen und auf jegliche erdenkliche Art betrogen. Erst am
nächsten Tag, wacht man mit pochenden Schläfen in einem fremden Bett auf, schlägt
die Realität gnadenlos zu. Luca hat nie verstanden, was die Menschen daran finden,
zu ohrenbetäubender Musik mit einer Masse von schwitzenden Leuten zu tanzen,
die nicht mehr wissen, wo die Grenzen liegen. Hände an seinem Körper zu spüren,
deren Besitzer in der realen Welt in einem langweiligen Büro sitzt, sich jeden Tag
denselben Kaffee holt und einmal pro Woche zum Duschen geht, wenn er nicht mehr
damit beschäftigt ist, in Selbstmitleid zu versinken. Kalter Wind verfängt sich in den
Spitzen ihrer schwarzen Haare, färbt ihre Nasenspitze rot. Wenngleich die
regnerischen Tage zuhause in London so manches Gemüt niederdrücken, ist es der
irische Wind, welcher mit seinen eisigen Fingern nach den menschlichen Gliedern
greift und sie zitternd zurücklässt. Nichts, woran die englischen Bewohner
sonderlich gewöhnt wären. All die jungen Mädchen in den kurzen Kleidern scheinen
den eisigen Wind nicht einmal zu spüren. Obwohl er um ihre nackten Beine streicht
und sich eine feine Gänsehaut auf ihnen bildet, laufen sie munter durch die Gassen, verschwinden im Rubies, um alles zu vergessen. Die hellen Lampen der Pubs, die
entlang der Straße entrichtet wurden, spiegeln sich genau wie die rote Reklame im
trüben Wasser des Liffey, flackern im Rhythmus der Wellen auf, ehe sie von einer
neuen verschluckt werden. Lautes, fröhliches Stimmengewirr hallt von einer
Straßenseite zur anderen herüber, die Menschen sind ausgelassener wie je an diesem
Freitagabend. Luca kann ihren Enthusiasmus nicht teilen, so sehr sie es auch würde.
Pure Erschöpfung zaubert dunkle Schatten unter ihren Augen, die Arme so
unglaublich schwer, als würden sie sie jeden Moment auf den kühlen Asphalt ziehen
und nie mehr aufstehen lassen. Von Verständnis dafür fehlt jede Spur. So viel
erreicht, hier hergefunden und trotzdem steht sie seit gut zwanzig Minuten vor dem
Rubies und vertreibt die Zeit damit, die Menschen zu beobachten, die ein und
ausgehen, obwohl sie sich in genau diesem Augenblick selbst über die Tanzfläche
schieben sollte. Stattdessen verstreichen die Minuten und somit auch die Chance, ihr
begehrtes Ziel zu erreichen. Und weshalb? Luca weiß es selbst nicht. Ist es die Angst
vor dem, was danach kommt, danach, wenn alles, worauf sie hingearbeitet hat,
erreicht ist? Mag das der Grund dafür sein, dass sie immer noch hier draußen steht,
die Hände tief in der Jackentasche vergraben und darauf wartet, dass irgendwas
passiert, dass sie dazu bringt, sich von der Hauswand zu lösen und den Club zu
betreten? Doch niemand der vorbeiziehenden Menschen beachtet die unscheinbare,
junge Frau mit den hohen Wangenkochen, diesem schönen, ebenmäßigen Gesicht
mit den großen, dunkelbraunen Augen. Ihr Körper ist gehüllt in ein langes,
schwarzes Kleid aus Satin, welches sich perfekt an ihre Kurven schmiegt. Kalte Luft
schlängelt sich an dem Schlitz empor, der bis zu Lucas Hüfte reicht und ihr etwas
Verruchtes verleiht. Die Haare locken sich unter ihrem Kinn und sind so schwarz wie
die Farbe auf ihren Augenlidern, ganz im Kontrast zu den roten, vollen Lippen.
Dublins fremdes Nachtleben lässt die junge Frau unbehaglich an den silbernen
Ketten ihrer kleinen Tasche spielen. All diese Menschen verursachen ein ungutes
Gefühl in ihrer Magengegend, wie ein Wurm, der sich durch ihre Haut frisst.
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