„Jetzt reiß dich mal zusammen."
Auf der Liege im Krankenzimmer zu sitzen und Chrissi beim Wühlen in den Regalen zuzusehen, beschert mir ein Déjà-vu. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass sie mir hier mein Knie verbunden hat. Meine Welt hat sich nicht nur gedreht seitdem. Sie hat Purzelbäume geschlagen.
Chrissi schlägt die Schranktür zu und zeigt mir mit triumphierendem Lächeln die Packung mit den Kopfschmerztabletten. Immer noch hat sie den vermaledeite Hut auf dem Kopf, aber zumindest hat sie ihn hochgeschoben.
„Jetzt sollten wir zurück. Oder? Die arme Kathrin scheint echt zu leiden.", meint sie und trödelt trotzdem zu mir anstatt zur Tür.
„Zwei Minuten?", frage ich.
Mein schlechtes Gewissen meckert, aber es ist schwer Zeit allein mit Chrissi zu finden. Vor allem, wenn sie arbeiten muss.
„Hmm."
Sie drückt mein Kinn nach oben und gibt mir einen Kuss. Er ist süß und warm und macht die Entscheidung zu gehen noch schwerer.
„Willst du nach dem Frühstück schlafen, oder gleich an den See kommen? Da könnten wir zumindest reden."
Mit müdem Grinsen murmle ich:
„Ich will beides."
Chrissi streichelt mir über das Haar.
Obwohl sie mich durchgehend berührt, bin ich zurückhaltend. Ihr Streicheln, Zupfen, Küssen ist so schön. Ich möchte ihr dasselbe geben, aber es ist schwierig die Grenze der Furcht zwischen uns zu überwinden. Deshalb versuche ich mich zu trauen und lege zumindest die Hand auf ihre Schulter. Es ist ebenso schön, sie zu berühren.
„Dann schlaf doch vorher. Ich bin nachmittags auch am See. Dann können wir uns treffen."
So verständnisvoll. Ich hätte ihr erlaubt, darauf zu bestehen, dass ich gleich an den Strand komme.
„Nein. Ich komme gleich. Ich kann auch am Strand schlafen."
„Dann bekommst du noch Sonnenstich."
„Ich bleib doch im Schatten."
Sie runzelt besorgt die Stirn und streicht immer wieder das Haar hinter mein Ohr.
„Und ich trinke genug und benutze Sonnencreme."
„Schon gut. Ich freue mich, wenn du gleich an den Strand kommst. Nur dass du mir nicht vor Müdigkeit umfällst."
Ich kichere. Sie benimmt sich wie Lara, aber bei Chrissi freut es mich.
„Ach Mann. Bin ich zu überbesorgt?"
Chrissi wendet sich ab und öffnet wieder die Schränke, obwohl sie die Tabletten bereits gefunden hat.
„Ist schon gut. Ich mag das."
Sie nimmt die Kapuze ab und knautscht sie in ihren Händen.
„Weißt du, ich bin es gewöhnt. Das kommt von meiner Kindheit. Ich kümmere mich sowieso gerne um die Menschen um mich herum. Aber wenn ich jemanden mag, wird es irgendwie unerträglich."
Ich schwinge nervös mit den Beinen. Wir sind plötzlich so ernst, obwohl Chrissis Verhalten mir nur Freude bereitet.
„Aber es ist gut. Ich fands nicht schlimm."
„Gut."
Mit lautem Seufzen setzt sie die Mütze wieder auf.
„Gut. Aber sag mir, wenn es zu viel wird. Meine Geschwister und Freunde machen es auch."
Mit einem Nicken rutschte ich von der Liege. Sie hat die Arme um den Körper geschlungen und die Schultern hochgezogen. Um sie zu trösten, lege ich meine Hand ganz vorsichtig auf ihre. Chrissi greift nach mir und zieht mich näher. Wir rempeln zusammen und Chrissi umarmt mich eng wie eine Zwangsjacke. Und ich lege meine Hände auf ihren Rücken.
„Ich habe meiner Mama geholfen, meine Geschwister aufzuziehen. Daher kommt das. Mein Vater ist ein echter Loser. Viel geerbt, aber Alkoholiker. Was bringt viel Geld, wenn dein Vater alles nur versäuft."
Das Geständnis kommt aus dem Nichts. Es überfällt mich, wirbelt mich herum und ich weiß nicht welche Worte richtig sind. Aber ich halte Chrissi fester und streichle über ihre Schultern.
„Mit meinem Vater hab ich übrigens telefoniert, als du mich damals erwischt hast. Wegen dem Arschloch hab ich dich auch noch dumm angemacht. Ich hab ihm schon tausend Mal gesagt, er soll nicht anrufen."
„Kannst du ihn blockieren?"
Meine Stimme zittert, als ich den Vorschlag ausspreche. Vielleicht ist der Rat falsch und macht alles schlimmer. Um ihr zu helfen, zermarterte ich meinen Kopf, nach allem was ihr nutzen könnte. Aber da sind nur unzusammenhängende Worte, die durch ein großes Nichts schweben.
Chrissi drückt ihre Lippen gegen meine Schläfe. So falsch kanns also nicht gewesen sein.
„Geht leider nicht. Wenn ich mich am Handy nicht melde, ruft der hier direkt an."
„Ah...das ist ja super nervig."
Mir fällt keine Lösung ein. Aber ich verstehe sie. Das ist ungefähr so, als würde David täglich bei mir anrufen. Mal 100. Mit einem Glucksen drückt Chrissi die Nase in mein Haar.
„Ja. Das ist wirklich total nervig."
Sie schiebt mich ein Stück zurück und wir küssen uns wieder. Länger, tiefer, bis mir die Luft ausgeht.
Dann hält Chrissi die Tabletten hoch.
„Wir sollten los. Nicht wahr? Deine Freunde sollen mich doch mögen. Wenn ich sie mit Kopfschmerzen sitzen lasse, wird das sicher nichts."
Ich grinse sie an. So viele Sorgen um unwichtige Dinge. Solange sie das Monster in sich zügelt, liebt sie jeder. Und ich liebe sie trotz dem Monster.
„Ach. Kathrin mag dich sowieso."
Chrissi schmunzelt, greift in eine Schublade und zeigt ihre Hand voller Lutscher.
„Dann brauch ich die also nicht, um sie zu bestechen?"
Dann hält sie mir einen davon hin. Diesmal kommt es mir nicht kindisch vor. Meine Lippen kribbeln noch von ihren, als ich den Lolli dazwischenschiebe.
„Du musst sie nicht bestechen, aber die freuen sich sicher trotzdem über Süßigkeiten."
Ich nutze die Gelegenheit Chrissi die Tür aufzuhalten. Sie braucht sich nicht angewöhnen nur etwas für mich zu tun. Bei jeder Chance, die sich bietet, werde ich ihr helfen. Ihr zeigen, dass ich für sie da bin und sie sich auf mich verlassen kann. Eine erste Freundin, ist etwas Besonderes. Eine Frau, die mein Licht gefunden hat, ist es noch viel mehr.
Wir halten uns an den Händen, als wir den kurzen Weg am Gemeinschaftshaus entlang gehen. Dort wo niemand ist und der Gedanke ans Küssen zäh meinen ganzen Kopf verklebt. Wir haben den Krankenraum zu früh verlassen und haben nicht genug geküsst. Nicht genug gekuschelt. Nicht genug gesprochen. Nichts ist genug.
Bevor wir um die Ecke biegen, dorthin wo zu viele Leute sind, lassen wir unsere Hände los und ich nutze die Gelegenheit, um ihr etwas Wichtiges zu sagen.
„Tut mir leid mit deinem Vater. Ich hör dir gern immer zu, wenn du drüber reden magst. Weißt du."
Auch wenn ich keine klugen Ratschläge geben kann. Zuhören kann nicht schaden.
Mich trifft ein Blick aus weitaufgerissenen Augen. Dann guckt Chrissi sich wild um und drückt mir einen raschen Kuss auf die Wange.
„Du bist ein Geschenk. Weißt du das?"
Mein Herz erzittert. Alle Antworten fallen aus meinem Kopf.
„Aah..."
Ich wedle abwehrend mit den Händen.
Aber Chrissi ist doch das Geschenk.
„Himmel. Du bist so süß. Danke. Ich freue mich, dass du mir zuhören magst. Das wird sicher noch passieren."
Sie drückt meine Hand und hetzt um die Ecke. Fast so, als wollte sie weglaufen. Und ich stehe wie festgewachsen. Als meine Beine den Dienst wieder aufnehmen ist Chrissi schon lang im Haus verschwunden. Irgendwie überfordert mich ihre Liebe. Ihr scheint es ganz genauso zu ergehen. Warum muss sie sonst weglaufen? Sie hat mir meine Masche gestohlen.
Trotzdem hopse ich vor Glück zurück in den Frühstücksraum.
Am Tisch, an dem meine Freunde sitzen, schlagen mir dunkle Wolken entgegen. Gewitterstimmung braut über Mais und Davids Köpfen. Wenn Davids Blick mich erschlagen könnte, wäre ich jetzt platt wie ein Flunder.
Alle sind sauer, obwohl sie einen Lutscher bekommen haben. Die Packung mit den Kopfschmerztabletten liegt vor Kathrin. Ich blicke mich um, aber kann Chrissi nirgends entdecken.
„Brauchst gar nicht so doof glotzen. Chrissi ist sofort weg. Die hat wohl genug von dir.", ätzt David.
Die Worte gleichen einem plötzlichen Faustschlag in meinen Bauch. Ich wollte mich gerade gegenüber ihm niederlassen, jetzt bleibe ich lieber stehen.
„Was tust du überhaupt hier?", murre ich.
Unser Tisch ist eigentlich Davidfreie Zone.
„Halt dein Maul. Ich sitz da, wo ich will, du Sc..."
Mai boxt in seine Schulter.
„Jetzt reiß dich mal zusammen.", zischt sie.
„Wieso? Die kleine Made hat sich geklaut, was mir gehört."
David schlägt die Faust auf den Tisch und ich weiche einen Schritt zurück. Der hat vollkommen den Verstand verloren.
„Chrissi gehört niemanden.", sage ich. Meine Stimme bebt vor Furcht, aber ich muss zurückschlagen. Es ist zu eklig, dass er meine Freundin als sein Eigentum betrachtet.
„Das kann auch nur ein Loser sagen, der nicht weiß, wie es in Beziehungen läuft. Versteh echt nicht was Chrissi in dir sieht. Du bist wie ein gerupftes Huhn. Das mag doch niemand."
Mai boxt David wieder, der merkt es nicht. Sein Blick schneidet mich in Stücke. Aber ich überlege noch, wie ein Mensch, der wie ein gerupftes Huhn ist, aussehen soll. Hat der eine Glatze? So ein fliegendes Kinn? Oder wild abstehende Haare? Rennt herum und gackert?
David macht mir Angst, deswegen lache ich ihn nicht aus. Auch wenn er Müll redet.
„Naja. Dich Loser wollte Chrissis ja nicht mal mit dem kleinen Finger anfassen. Red also nicht so dumm daher."
Mai schreitet zu meiner Verteidigung. Vielleicht weil ich ihr wichtig bin. Vielleicht weil sie David gerne fertig macht. Sicher Beides.
Er springt vom Tisch auf.
„Dich hat sie genauso wenig rangelassen.", faucht er.
„Ja. Aber mir ist es egal."
Mit breiten Grinsen fasst Mai nach Felis Hand. Diese schaut stirnrunzelnd von ihrem Buch auf, aber verschränkt trotzdem die Finger mit denen ihrer Freundin.
Wir alle sehen den Vulkan, der hinter Davids Stirn ausbricht. Er lässt sein Gesicht rot glühen, seine Augen vor Wut brennen. Seine Hand schnellt vor, harte Finger bohren sich in meinen Oberarm. Keuchen am Tisch. Ich weiche zurück, aber er zerrt mich näher.
„Wart nur, du Schlampe. Ich kenn dich. Du bist die Stotterliese, die es nicht mal schafft ihrem Schwarm in die Augen zu schauen. Und jetzt glaubst du, du kannst mir Chrissi wegschnappen. Meinst du, die Frau hat keine Standards?"
Marius reißt ihn von mir weg. Sein sonst so freundliches Gesicht ist eiskalt.
Lara schlingt die Arme um mich und Mai drängt sich zwischen uns. Ich habe meine Armee. Deshalb verfliegt der Schrecken, wie Blütenblätter im Wind. Auch wenn David noch nicht fertig ist und knurrt:
„Die Wette ist noch längst nicht vorbei. Du kriegst Chrissi nur über meine Leiche."
Dann kämpft er sich aus Marius harten Griff frei, der ihn ein wenig Zappeln und dann Gehen lässt. Mit großen Schritten marschiert er davon. Den Rücken durchgebogen, die Arme breit vom Körper gestreckt. Ein Gorilla bereit für Krawall. David ist eine Witzfigur. Und dennoch zittert mein Inneres, dass es beinah zerbricht. Seine Drohung hämmert wie Donnergrollen durch meinen Kopf. Ein seichtes Gewitter, das nur in den Wolken tobt? Oder ein schreckliches Unwetter, mit Blitz und Hagel, das gewaltigen Schaden anrichten wird. Ich weiß es nicht und bebe vor Angst.
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