„Ich lauf nicht mehr weg."

In der Nacht lauert eine Gefahr auf mich. Ich strebe unbedarft meinem Ziel entgegen und sehe schon die schmutzige Lampe am Eingang der Hütte 5 leuchten. Die Fenster sind dunkel, als hätten sich meine Freunde bereits schlafen gelegt.

Ein Gestalt streift an der Veranda entlang. Ich bemerke sie, aber erkenne die Bedrohung zu spät.

„Bleib bloß stehen.", donnert es voller Ärger.

Als ob ich einem grusligen Monster in der Nacht brav entgegen starre. Ich fahre herum, dann packt mich Chrissi am Arm.

„Ehrlich jetzt. Du wolltest wieder wegrennen?"

„Ja. Wenn du so gruselig bist."

Sie zerrt mich zu einem Baum in der Nähe und sperrt mich zwischen dem Stamm und ihrem Körper ein. Ich ducke mich mit einem Quieken und Chrissi seufzt.

„Ist schon gut. Elly. Ich bin sauer, aber ich tu dir nichts."

„Es tut mir doch leid.", heule ich wie ein Wolf zum Mond.

„Himmel. Sei bitte leiser."

Mit stummen Wimmern presse ich die Lippen zusammen. Ich suche Chrissis Blick, aber kann ihn in der Dunkelheit nicht finden. Sie hängt als bedrohlicher Schatten vor mir. In das Eck, in dem sie mich gefangen hält, fällt kein Licht.

„Warum bist du vorhin weggelaufen?"

Als ob sie das nicht weiß.

„Ich hätte dich nicht küssen sollen. Es tut mir so leid."

Chrissi seufzt.

„Der Kuss ist überhaupt nicht das Problem. Ja, der Zeitpunkt war nicht so toll gewählt und ich war etwas erschrocken. Aber ich bin so glücklich, dass du mich geküsst hast."

„Häh?"

Scheinbar bin ich nicht sehr gut darin, Chrissis Reaktionen richtig einzuschätzen.

Sie beugt sich näher und haucht:

„Was häh? Du Süße."

„Bist du wirklich glücklich darüber? Ich dachte du bist so wütend."

Ihre Hände lösen sich vom Baumstamm. Scheinbar gelte ich inzwischen nicht mehr als Fluchtgefährdet.

„Ich bin sehr glücklich. Manchmal hab ich das Gefühl, ich dränge mich dir auf. Ich kann ziemlich forsch sein, wenn ich weiß, was ich will. Und du bist so...hmm zurückhaltend?"

„Ich weiß halt nicht was ich tun darf."

Und habe immer Angst vor Chrissis bösen Blick. Das behalt ich besser für mich.

„Du darfst alles, was meine Freundin halt so darf. Nur denk dran, wir müssen hier im Camp vorsichtig sein."

Freundin. Sie hat das Zauberwort gesagt. In mir kribbelt alles, wie Ameisen. Wenn ich nicht sicher wäre, dass das Gefühl vom puren Glück kommt, müsste ich den Notarzt rufen.

„Ich bin deine Freundin?"

Vielleicht meint sie es ganz anders. Und wir sind immer noch auf der einen Eiscreme Basis, während mein Rivale zwei von ihr bekommt.

Chrissi lacht.

„Na Klar. Magst du das denn auch?"

Ihre Stimme wird rauer zum Ende hin. Sie fasst in mein Haar und zupft sanft an den langen Strähnen. Ich soll mich zurückhalten und sie macht solche Sachen.

„Ja. Ich mag. Und wie."

Also ist es offiziell. Was macht man offiziell? Bei dem Schritt war ich noch nie. Außer im Kindergarten mit Beni. Damals hat es bedeutet, dass ich sein ferngesteuertes Auto beim Spielzeugtag fahren darf. Der einzige Grund, warum ich überhaupt seine Freundin sein wollte.

„Das ist schön.", wispert Chrissi und lehnt sich näher. Dann küsst sie mich. Ein langer Kuss, bei dem meine Lippen kitzeln. Und ich mich traue gegen sie zu drücken, die Augen zu schließen und ein kleines bisschen den Mund zu öffnen. Wir sind warm aneinander und wir halten uns fest. Das Kitzeln wandert durch meinen ganzen Körper. In meinen Ohren dröhnt das Grillen zirpen.

Da ist er. Der perfekte Moment. Ich will weinen.

Kaum löst sich Chrissi, falle ich sie an und klammere mich wie ein Affenbaby um ihren Hals. Sie schlingt ihre Arme eng um meinen Körper.

„Lauf nicht mehr weg. Du kannst immer mit mir reden und wir finden eine Lösung. Du solltest inzwischen wissen, dass ich nicht beiße."

„Ich lauf nicht mehr weg."

Obwohl ich mir unsicher bin, murmle ich eine Zustimmung und nehme mir fest vor, mich zu bessern. Es muss schwierig und frustrierend sein, wen ich bei jedem Problemchen weglaufe. Aber in solchen Fällen reagiert mein Körper wie automatisch.

„Ganz ehrlich?"

Oh, wie gut sie mich inzwischen kennt.

„Ich versuchs."

„Ok. Das hört sich schon glaubhafter an."

Sie drückt einen Knutscher auf meine Wange. Ob sie mich jetzt immer weiter küsst und festhält? Daran könnte ich mich gewöhnen.

Schritte knirschen auf dem Weg. Alarmiert blicke ich über Chrissis Schulter und sehe ein paar schemenhafte Gestalten, die vom See herkommen. Mit tuscheln und kichern, stoßen sie sich gegenseitig an.

„Solltest du mich nicht besser loslassen, bevor die uns sehen?", wispere ich.

Chrissi presst sich noch enger an mich.

„Ach, die sehen uns doch nicht.", haucht sie.

Leichte Küsse wandern über meine Wange. Hauchzart, wie Schmetterlingsflügel. Eine warme Spur in deren Verlockungen ich mich gern ergeben würde. Aber ich mache mir Sorgen um Chrissi. Sonst ist sie so verantwortungsbewusst und jetzt riskiert sie auf frischer Tat ertappt zu werden. Nur wegen mir. Das lasse ich nicht zu.

„Chrissi. Die werden direkt bei uns vorbeikommen."

„Hmmm."

Ich drücke meine Hand gegen ihre Schulter.

„Kein Hmm."

Endlich lässt sie mich los und ich ziehe sie hastig mit mir Richtung Hütte 5. Die Jugendlichen sind mit großem Abstand zu uns stehen geblieben und schubsen sich lachend vom Weg. Scheinbar hatten nicht nur Kathrin und ich vor kurzem ein Alkoholproblem.

„Wie nervig die sind. Ich könnte die sofort in ihre Hütte jagen.", motzt Chrissi hinter mir. Ihr bösartiges Selbst krabbelt gerade wieder an die Oberfläche. Den Besuch brauche ich heute nicht mehr.

„Nicht. Bitte."

Ich kann das leichte Zittern in meiner Stimme nicht verbergen. Chrissi drückt sich von hinten gegen mich. Wir stehen im Lichtkegel, der kleinen Lampe an der Tür zur Hütte 5.

„Machen die dir Angst?"

Entschlossenheit hängt in ihrer Stimme. Wenn ich zustimme, kann ich sie nicht mehr halten und die Jugendlichen lernen eine ganz neue Chrissi kennen.

„Nein. Aber jetzt sieht man uns noch viel mehr."

„Na und."

Ich kichere.

„Hast du nicht gesagt, wir sollen vorsichtig sein.

Chrissi dreht mich zu sich und stupst den Finger gegen meine Nase.

„Schon. Aber ich hab nie gesagt, dass ich es mag. Am liebsten würd ich dich morgen beim Frühstück allen als meine Freundin vorstellen."

Das klingt nach dem Ziel meiner Träume. Mein Schwarm, der mich will, der mich zwischen all den anderen ausgesucht hat und vor allen zu mir stehen möchte. Irgendwie wurde ich viel mehr als nur gefunden.

„Und dann wirst du gefeuert?"

„Haaaah. Ich kann es nicht mal bereuen Jugendleiterin zu sein, weil sonst hätte ich dich nie kennengelernt. Aber mein Vertrag läuft noch den ganzen Sommer. Und nur gefeuert, ist nicht mal die größte Gefahr, wenn ich mich an den Jugendlichen hier vergreife."

Sofort löse ich mich aus ihrem Griff. Daran habe ich noch nie gedacht.

„Wir sind doch nur drei Jahre auseinander."

„Aber du bist 16 und im Moment meine Schutzbefohlene. Da machen drei Jahre viel mehr Unterschied."

Ich weiche noch weiter von ihr zurück.

„Aber das ist doch doof."

„Nein, das ist schon sinnvoll. Vielleicht nicht unbedingt bei uns zwei, aber in vielerlei Hinsicht schon. Wir haben eine extra Schulung dafür bekommen, bevor wir hier angefangen haben."

Chrissi streicht über meinen Arm und rupfe ihre Hand von mir.

„Nein. Wir sind jetzt vorsichtig."

Ich halte sie trotzdem an den Fingern fest. Es ist so schwer sich von ihr zu lösen, wenn mich jede ihrer Berührungen so wohlig geborgen fühlen lässt. Und so aufgeregt und kribbelig.

„Du hast schon Recht. Ich sollte vernünftiger sein, aber ich mag dich eben so gern. Wir sind jetzt vorsichtiger."

Im Halbdunkeln erkenn ich ein freches Zwinkern. Chrissi spielt wohl gerne mit dem Feuer. Aber ich lösche Flammen, die zu Waldbränden führen könnten, lieber.

„Nun geh schlafen. Es ist schon spät. Ich warte hier, bis du in der Hütte bist."

Als ob mir auf den paar Metern etwas passiert. Eigentlich sollte ich Chrissi zu ihrer Hütte begleiten. Zumindest ein Stück, bis wir denselben Weg zurück haben. Sie schiebt mich bereits nach vorne zur Veranda. Wir diskutieren scheinbar nicht darüber, wer hier wen beschützt.

Irgendetwas fehlt noch. Der Abschied ist unvollständig. Ein Liebespaar kann nicht ohne Kuss auseinandergehen. Die Jugendlichen sind noch in der Nähe. Also winke ich nur und bleibe stehen. Ich will nicht gehen.

„Gute Nacht. Schlaf gut.", haucht Chrissi.

„Du auch."

Meine Füße schlagen Wurzeln in den Boden. Wir schweigen beide und grinsen uns verschmitzt an. Natürlich wollen wir noch zusammenbleiben.

„Wir sehen uns morgen. Morgen ist schönes Wetter und es ist Badetag am Strand."

„Ui toll. Wir könnten in deiner Pause wieder Eis essen."

Daran kann nichts verwerflich wirken, solange wir uns zusammenreißen. Schließlich sitzen wir nur zusammen, am besten mit Abstand, und lecken am...ähm, da denk ich besser nicht dran.

„Gerne. Ich wollte dich sowieso wieder einladen."

„Musst du nicht."

„Ich möchte aber. Es ist schön dich einzuladen."

Wir halten uns an beiden Händen. Wann ist denn das passiert? Eben standen wir noch zwei Schritte auseinander.

Chrissi drückt mir einen klitzekleinen Kuss auf die Lippen. Sie hat wohl gemerkt, dass ich ohne nicht gehen kann.

„Geh jetzt. Du Süße. Ich freu mich dich morgen zu sehen."

„Ich auch. Total."

Sie lässt mich los und ich will mich immer noch nicht von ihr trennen. Mit einem letzten Winken bewege ich mich langsam die Treppe zur Veranda nach oben. Es hilft nichts. Chrissi muss morgen arbeiten und es ist sicher schon nach zwölf.

So bin ich noch nie zur Tür getrödelt. Erst eine Viertelstunde später sauge ich ein letztes Mal den Anblick meiner Freundin – meiner FREUNDIN! – auf, damit er die ganze Nacht vorhält und verschwinde ins Innere der Hütte 5.

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