„Es war sehr schön heute."
Das Holz des Steges knarzt unter meinen Füßen. Es ist grau und an den Ecken mit Moos bewachsen. Zuvor haben wir ein Warnschild ignoriert. Ein Strichmännchen stellte anschaulich die Gefahr dar, durch das morsche Holz zu brechen. Niemand scheint sich dafür zu interessieren. Es liegen einige leere Flaschen und Verpackungen herum.
Ich bin jemand, der gerne auf den vorgegeben Wegen im Camp bleibt und damit vollkommen ausgelastet ist. Hierher zu kommen, um zu feiern, wäre mir nicht einmal eingefallen.
„Nicht auf das Stück da treten. Das ist kurz vor dem Durchbrechen.", leitet mich Chrissi an, während ich ihr zum Ende des Steges folge. Es ist seltsam mit ihr an diesem geheimen Ort zu sein. Chrissi und ich, wir passen nicht zusammen. Und ich passe nicht auf einen alten, kaputten Steg.
Trotzdem sitzen wir schon bald nebeneinander und ich beiße auf meinem Eisstäbchen herum. Chrissi streicht mit den Fußspitzen über die Wasseroberfläche. Meine Beine sind zu kurz und baumeln durch die Luft.
„Ich musste noch öfter an deine Fotos denken.", sagt sie, während sie den Deckel von ihrem Eis herunterzieht und einen kleinen Holzlöffel herausnimmt.
„Hmm? Wieso?"
Ich zerbreche mein Eisstäbchen in zwei Teile und kaue nur auf dem einen weiter. Das Wasser schwappt laut gegen den Steg. Es zeigt unsere verzerrten Spiegelbilder. Bunt wabernde Flecken im endlosen Grün.
„Nun. Weil ich sie schön finde. Ich bewundere deine Kreativität. Die Blumen auf deiner Mütze und die Schmetterlinge, die du gemalt hast. Du machst das irgendwie alles so einfach."
„Ja, weil es Spaß macht."
Jetzt würde ich ihr gerne sagen, wie sehr ich sie beim Tanzen bewundert habe, aber ich traue mich nicht.
„Du meinst Spaß reicht aus?"
Sie kann ihr Grinsen kaum kontrollieren.
„Ich schreibe gerne Gedichte. Besonders wenn es mir schlecht geht, tobe ich mich da richtig aus. Aber ganz ehrlich, wenn ich die dann später lese, würde ich mir am liebsten die Hände abhacken, damit ich nie wieder sowas peinliches produzieren kann.", sagt Chrissi.
„Aber so schlimm kann das doch nicht sein. Ich finde du kannst gut reden, also...
„Also sollte ich auch gut schreiben können?"
Es ist schade, wenn sie ihre Werke schlecht macht. Sie schreibt gerne Gedichte, also sollte sie Freude daran haben. Ich denke auch nicht immer darüber nach, was ich während eines kreativen Ausbruches fabriziere.
Chrissi lacht. Scheinbar finde ich das Ganze schlimmer als sie selbst.
„Glaub mir. Ich hab schon Freunden was von mir vorgelesen und die haben geweint vor Lachen. Scheinbar hab ich ein wahres Talent dafür, kitschigen Mist zu produzieren."
„Ich würde nicht lachen. Die Gedichte sind dir doch wichtig."
Ein warmer Arm legt sich um meine Schulter. Das Gewicht ist genau perfekt für mich. Es ist wie eine Decke aus Geborgenheit.
„Versprech lieber nichts, was du nicht halten kannst. Ich finde sie ja selbst kitschig. Also kann man gerne drüber lachen. Und wenn mir die Gefühle in den Gedichten wirklich wichtig sind...naja, dann lese ich sie niemanden vor."
Leider zieht sie dann ihren Arm zurück und beginnt ihr Eis zu essen. Die obere Schicht ist schon geschmolzen und läuft als cremige Suppe über den Rand des Pappkartons. Nachdem sie es so angepriesen hat, möchte ich eines ihrer Gedichte hören, um eben nicht zu lachen. Aber ich freue mich ohnehin schon zu sehr, dass sie so ehrlich und vertraut mit mir spricht. Nach mehr wage ich nicht zu fragen.
Wir sitzen noch eine Stunde länger am See, weiße Schäfchenwolken ziehen träge über uns hinweg und spiegeln sich wie wir im Wasser. Die Sonne streichelt heute mit angenehmer Wärme und eine kühle Brise bläst gegen meine Arme.
Eine Stunde kann einfach so verfliegen. Minuten können zu Sekunden zusammenschmelzen, die voller wunderbar und toll und unvergleichlich überlaufen. Wir sprechen über Fotos, über Chrissis Versuche kreativ zu sein, über Gespenster und Gruselfilme. Wir sprechen über meine Nähkünste, die ich von meiner Oma gelernt habe und ich verrate ihr, dass ich mir eine Nähmaschine zum Geburtstag wünsche. Wir sprechen über unsere Haustiere. Chrissi hatte einen Hund, eine Katze, Meerschweinchen und Goldfische im Gartenteich, als Kind. Ich hatte einen Hirschkäfer namens Zwicker.
Irgendwann schweigen wir und Chrissi zieht ihre Zehe aus dem Wasser und streicht damit über meinen Unterschenkel. Dann zuckt sie zusammen und nimmt die Beine nach oben. Auf meiner Haut krabbelt Gänsehaut nach oben. Wäre ich mutig, würde ich sie bitten, mich weiter zu berühren. Aber ich blicke nur ins Wasser, auf kleine, glitzernde Wellen und horche auf das Lachen und Planschen der Jugendlichen in der Nähe.
„Es wird Zeit. Andreas ist inzwischen sicher wach.", murmelt Chrissi. Trotzdem bleibt sie sitzen.
„Mhm."
Dazu gibt es nicht viel zu sagen. Chrissi soll für immer bei mir bleiben, aber wenn sie gehen muss, kann ich sie nicht daran hindern.
„Er ist immer so genervt, wenn ich zu spät komme."
Chrissi rührt sich immer noch nicht.
„Danke für das Eis."
„Gerne doch."
Mit einem Lächeln wischt Chrissi ihre Hand über meine Schulter.
Es war so schön heute. Das will ich ihr sagen.
„Es war...", beginne ich.
Chrissi klopft auf ihre Oberschenkel und rappelt sich nach oben.
Es war so schön heute. Noch kann ich es sagen.
„Jetzt muss ich mich wirklich beeilen. Danke. Elly. Lass uns das bald nochmal machen."
„Ah. Ja. Gerne."
Mit einem letzte Nicken geht Chrissi davon. Sie macht einen großen Schritt über die morsche Stelle im Steg.
Ich hüpfe auf die Beine. Diese wichtigen Worte herunterzuschlucken, fühlt sich an wie eine verpasste Chance. Sie werden immer wieder nach oben wallen, bis ich daran ersticke.
„Chrissi.", brülle ich ihr nach.
Sie wendet sich um und mustert mich überrascht. Die Sonne glitzert auf ihren goldenen Haaren.
„Es war sehr schön heute."
Meine Stimme zittert, aber es ist egal. Ich habe es ihr gesagt und sie lächelt verlegen.
„Ja. Das fand ich auch.", antwortet sie und hastet davon.
Ich bin glücklich. So glücklich, dass ich mit meiner gesamten Kleidung in den See hüpfen könnte.
Die Zeit mit ihr war ein Juwel. Ein kleines Sommerjuwel, aus Gold und grün und blau. Voller Freundschaft, Glück und vielleicht einem Funken Liebe. Wenn ich nur könnte, würde ich es an eine Kette hängen und an meinem Hals tragen.
Während ich sitze und über das Wasser starre, sehe ich Chrissi von Pfad am Ufer in den Wald verschwinden. Wenn ich ebenfalls gehe, ist der Moment endgültig vorbei. Dann wird er zu einer Erinnerung. Ein nostalgischer Moment im Feriencamp, der in die Vergangenheit entschwindet.
„Hey Elly. Komm. Setz dich her.", ruft Mai.
Sie sitzt mit einer großen Gruppe Jugendlichen unter einem Baum. Lara, Marius und sogar David sind mit dabei. Der hat seinen Standartplatz neben Mai an Feli abgegeben und zieht die Gegenwart seiner neuen Camp-Kumpels vor. Das ist mir sehr recht. Nach der Szene am Schuppen mag ich ihn nicht mehr.
Ich folge Mais Ruf und die rückt ein bisschen, damit ich mich zwischen sie und Lara quetschen kann.
„Wir spielen Werwolf.", erklärt sie mir.
Das Spiel haben wir schon oft auf Klassenfahrten gespielt. Nun, die anderen haben es gespielt und ich habe zugesehen. Mir fällt es schwer öffentlich zu sprechen, selbst wenn ich eine Rolle verkörpere. Bei Werwolf muss man reden, um mitzumachen. Und umso größer die Gruppe ist, umso größer ist der Spaß. Es ein Spiel, indem ich alles machen muss, was ich verabscheue. Aber ich sehe gerne zu und rate in meinem Kopf mit, wer die Werwölfe sein könnten.
„Wo warst du denn die ganze Zeit?", flüstert Lara. Sie hakt sich bei mir ein und drückt sich gegen mich.
„War nur spazieren."
Das klingt viel zu sehr nach einer Ausrede.
„Spazieren?"
Lara zieht eine misstrauische Augenbraue hoch und auch Mia guckt neugierig rüber. Ich will meinen schönen Moment noch nicht teilen. Damit niemand ihn kaputt reden und meinen Traum mit der fiesen Realität infizieren kann. Diese Erinnerung ist so zerbrechlich. Vernebelt durch eine Liebe, die nur Freundschaft sein darf. Ich ignoriere die Wirklichkeit, solange ich kann.
„Ja. Ich hab mir das Camp halt mal genauer angesehen. Was soll ich denn sonst machen, wenn ihr alle was anderes vorhabt."
„Du hättest mir doch schreiben können. Marius und ich hätten schon Zeit gehabt."
„Ja. Eben. Du und Marius. Immer Du und Marius", wispere ich in ihr Ohr. Dabei betone ich das „und" besonders. Mir fehlt die Zeit allein mit Lara.
„Jetzt komm schon. Du tust gerade so, als würde ich dich total ignorieren. Du kannst immer zu mir kommen, wenn du gerade allein bist."
„Psst.", macht Feli. Sie nimmt den Finger an den Mund. „Die Bewohner von Dunkelwald schlafen jetzt."
Alle verstecken die Gesichter hinter ihren Hände. Ich entdecke eine Schleife in Felis Haaren. Sie ist aus Tüll und quietschpink. In der Mitte befindet sich ein Totenkopf mit schwarzen Herzaugen. Die gehört Mai. Ich war dabei, als sie den Haarschmuck gekauft hat.
In die Freude über Mais Fortschritte, mischt sich ein Funken Traurigkeit. Alle finden ihre Liebe, und ich sehe dabei zu. Wie ich bei allem nur zusehe. Als trennte mich ein versperrtes Fenster vom wirklichen Leben.
Lara lugt zu mir, genau in dem Moment wo die Werwölfe erwachen. Ihr Blick droht mir ein weiteres Gespräch an, bevor sie wieder die Augen schließt.
Ich störe eindeutig das Spiel. Leise stehe ich auf und schleiche davon zur Hütte 5.
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