„Du bist mindestens so doof wie ich."
„Warum heulst du?"
Mai überholt mich und ich wische mir die Tränen aus den grünen Augen.
„Ich heule nicht."
„Ok. Plötzliche Pollenallergie?"
Ich werfe meiner besten Freundin einen empörten Blick zu. Sie zuckt mit den Schultern. Manchmal versteht Mai überhaupt nicht was in meinem Kopf vorgeht. Unsere Probleme sind wie Feuer und Wasser.
„Chrissi war doch nett zu dir. Wars zu viel?"
Dann überrascht sie mich mit ihrem Scharfsinn.
„Ich war nur so aufgeregt. Und das kam zu plötzlich. Da war ich irgendwie überrumpelt."
Meine Finger verkrampfen sich in meinem gestreiften Shirt und ziehen es weit über die Cordhose. Der Stoff leiert aus und knirscht vor Verzweiflung.
Mai verschränkt die Arme und nickt verständnisvoll.
„Hmm. Deshalb musst du einfach ein bisschen mehr üben. Sprich mal ein bisschen mit Chrissi."
Als ob ich der Jugendleiterin gegenüber auch nur ein Wort rausbringen würde. Vielleicht sollte ich kleiner anfangen und erstmal öfter neben ihr rumstehen.
„Willst du das wirklich? Wir haben doch die Wette."
Mai bricht in Lachen aus, aber fängt sich, als sie sich einen weiteren verärgerten Blick von mir einfängt. Sie legt die Hand auf meine Schulter und gluckst immer noch dabei.
„Ich mach mir da nicht wirklich Sorgen. Und mach du dir auch mal keine Sorgen. Chrissi war zwar überrascht wegen deinem Abgang, aber Lara hat ihr erzählt, dass du dringend aufs Klo musst."
Von wegen keine Sorgen. Ich bin entsetzt. Mais Worte fühlen sich an wie ein plötzlicher Schwall kaltes Wasser.
„Was? Chrissi denkt jetzt, ich bin aufs Klo."
„Ja...und?"
Meine beste Freundin runzelt irritiert die Stirn.
„Sowas soll sie doch nicht wissen. Wieso kann Lara nicht einfach mal die Klappe halten?"
„Du meinst Chrissi geht davon aus, dass du nie aufs Klo gehst?"
Mit einem unterdrücktem Kichern tritt Mai näher und wispert:
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ich glaub sogar Chrissi kackt regelmäßig."
„Mai. Ich bin doch nicht doof.", motze ich. Mai gluckst zufrieden vor sich hin. Dafür, dass sie ständig versucht Emo zu sein, lacht sie ganz schön viel.
„Du bist mindestens so doof wie ich."
Da kann ich nicht wirklich widersprechen.
Wir gehen eine Weile schweigend den breiten Erdweg entlang. Meine Freundin ist vielleicht in Gedanken versunken, aber ich hör den Vögeln zu und schau mich auf dem Waldweg um. Das Ferienlager versteckt sich noch irgendwo zwischen den Bäumen; Holzschilder weisen uns immer weiter geradeaus. Über uns fädeln Laubbäume ihre Äste ineinander. Als grünen Sonnenschutz.
Chrissi spukt in meinem Kopf herum und kichert, weil sie denkt ich sitze auf dem Klo. So etwas Normales sollte mich nicht so ärgern. Jeder muss mal. Es ist Biologie. Und es stört mich trotzdem.
Ein winziges Insekt schwirrt vor mir durch einen Sonnenstrahl, der durch die Blätter bricht. Die dünnen Flügel leuchten golden. Der kleine Körper springt in der Luft hin und her. Ich recke ihm den Finger entgegen, in der Hoffnung es landet auf mir.
„Weißt du, ich könnte Chrissi auch sagen, dass ich kacken war. Ein Riesenhaufen. Und ich hab dich neben mir in der Kabine gehört. Und du hast so süß gepieselt, dass es wie ein Glockenspiel geklungen hat."
Mais Vorschlag vertreibt nicht nur meinen neuen Insektenfreund, er treibt mir auch wieder die Tränen in die Augen.
„Lass das mal bleiben.", grummle ich.
Die Häuser des Camps lassen auf sich warten. Dabei würde ich mich gern in meinem Bett verstecken.
„Aber es macht mir ehrlich nichts aus. Ich glaub, das würde ein interessantes Gespräch mit Chrissi ergeben."
Ich schnaube, ramme die Hände in meine Seiten und baue mich vor Mai auf.
„Wieso macht dir sowas eigentlich gar nicht aus? Ich dachte Japaner lassen sogar ihre Klos so Blubbergeräusche machen, damit auch ja niemand hört, was sie da so machen."
Das habe ich zumindest irgendwo gelesen.
„Ich bin ja nur Halb-Japanerin. Außerdem bin ich in spätestens 100 Jahren Tod. Was sind schon ein paar Klogeschichten, gegen eine Unendlichkeit der Verwesung."
Aus dem Blickwinkel ist natürlich nichts mehr wichtig. Aber mir ist einiges wichtig und Mai lügt mir nichts vor; ihr geht es genauso. Sonst hätte sie sich sicher nicht so über ihre Drei in der letzten Englischschulaufgabe aufgeregt.
„Und mein Vater hat da auch überhaupt keine Hemmungen. Der pfurzt abends auf dem Sofa rum, wie ein Elch in der Brunftzeit."
Das war eine Informationen zu viel. Ich trabe stur davon und ignoriere Mais Rufen, bis sie mich kurz vor dem Camp wieder einholt.
Sie boxt ihre Schulter gegen meine.
„Jetzt sei doch nicht so mürrisch. Sonst lachst du doch über sowas."
„Morgen dann wieder."
Mai wuschelt durch mein Haar und grinst.
„Gut. Dann erzähl ichs dir morgen nochmal. Jetzt komm. Wir sind in Hütte Fünf."
Sie holt zwei Schüssel aus ihrer Tasche und drückt mir einen in die Hand. Er ist klein, etwas rostig und trägt ein rotes Plastikschild mit weißer Nummer Fünf. Das Gegenstück dazu befindet sich an einer weißen Holzwand neben dem Eingang zu einer Hütte, die sich halb hinter einer Baumgruppe versteckt. Sie hat sich mit neun identischen Häusern im Halbkreis zusammengefunden. Alle schmücken sich mit weinroten Dächern, Fensterläden und kleiner Veranda mit verschnörkelten Holzsäulen. Auch hier hat sich irgendjemand mit Farben ausgetobt und alles mit Blumen bemalt.
Zwischen den Bäumen hängen Girlanden und Lampions. Darunter stehen Picknicktische. Überall ist etwas zum Anschauen, Raufklettern, Rumturnen, oder lustige Fotos schießen. Dazwischen schlängeln sich Trampelpfade durch Blumenwiesen. Alles zusammen gleicht einem traumhaften Kindergarten. Alles sehr hübsch, sehr paradiesisch unschuldig. Durch die Bäume glitzert das Wasser eines Sees und verspricht mit Strand und Steg den puren Sommerspaß. Von dort schallt Kreischen, Platschen, Lachen. Es ist ansteckend und vertreibt meine schlechte Laune. Ich bin nicht zum Flirten hier. Es ist also egal, ob es schief geht. Nachher werde ich schwimmen gehen. Und morgen. Und den Rest der drei Wochen. Bis mir Schwimmflossen wachsen.
In unsere Hütte passen fünf Personen. Innen ist alles aus hellem Holz. Das brennt sicher Lichterloh, wenn jemand das Camp anzündet. Der staubig, muffige Geruch ist trotzdem urgemütlich. Drei Betten stehen an der einen und zwei an der anderen Wand. Jedes mit Nachtisch. Außerdem gibt es zwei großen Kommoden und eine weitere Tür, die hoffentlich in ein Badezimmer führt.
Als Mai und ich hereinkommen, sitzt ein blondes Mädchen auf dem Bett ganz hinten in der Ecke und packt Shirts aus ihrer Tasche auf einen ordentlichen Stapel vor sich. Sie hebt den Kopf, mustert uns desinteressiert und wendet sich wieder ihrer Kleidung zu. Die Begrüßung hat Potential für ein ruhiges Zusammenleben. Hoffentlich ist sie auch nachts so leise.
„Hey. Wir wohnen wohl zusammen.", tönt Mai, als hätte die Fremde das nicht von allein kapiert. Ich werfe meinen Rucksack auf das Bett direkt beim Eingang. So habe ich den Blick auf alles und das ganze Zimmer zwischen mir und der Unbekannten.
„Hier. Mai. Komm hierher.", versuche ich meine Freundin zum Bett neben mir zu dirigieren. Es ist ihr leider zuzutrauen, dass sie sich aus lauter Neugierde neben der Fremden einquartiert.
Eine weitere Unbekannte stürmt ins Zimmer. Sie hat auch rote Haare, was schon erstaunlich ist. Aber ihre sind eher Karottenfarben und ganz kurz.
„Oooh! Das ist aber schon ganz schön hier. Feli! Hast du endlich ausgepackt? Dann gehen wir mal erk...", brüllt sie beim Hereinplatzen und verstummt, als sie uns entdeckt. Im Gegensatz zu ihrer blonden Freundin, die scheinbar Feli heißt, schimmert ein Mix aus Aufregung und Neugierde auf ihrem Gesicht. Also wohl auch so eine Extrovertierte.
„Hallo. Wohnt ihr mit uns zusammen die nächsten Wochen? Das ist ja super. Ich hab schon befürchtet, dass die Hütte bis auf uns zwei leer bleibt.", begrüßt sie uns begeistert.
Wie kann sowas eine Befürchtung sein?
Ich wuchte meine Tasche auf das Bett, um ebenfalls auszupacken. Feli scheint ihre Gründe zu haben, so viel Zeit mit ihren T-Shirts zu verschwenden. Währenddessen tauschen Mai und die Neue, die üblichen Phrasen aus.
Nach ein paar Minuten zuhören weiß ich alles über unsere Zimmergenossinnen, was in den nächsten Wochen wichtig sein wird. Sie sind wie wir 16 Jahre alt, auf dem Gymnasium und besuchen ein Internat, irgendwo in Oberbayern. Die Rothaarige heißt Kathrin und ist mit Feli seit der fünften Klasse befreundet.
Den Rest des Gesprächs widmen sie K-Pop. Mai ist immer froh, wenn sie jemanden zum Schwärmen findet. Weil ich so unverschämt immun dagegen bin. Das hört erst auf, als Lara die Hütte betritt. Tränen schimmern in ihren Augen und sie bezieht wortlos das Bett neben mir. Sicher hasst sie die Trennung nach Geschlecht. Marius schläft schon seit Beginn der Sommerferien jede Nacht bei ihr im Bett. Die nächsten drei Wochen ist das verboten.
Ich setzte mich zu meiner Schwester und streichle über ihren Rücken. Mai verwickelt Kathrin wieder in ein Gespräch. Lara will sich jetzt sowieso nicht vorstellen.
Mit einem Seufzen schlingt sie die Arme um mich und legt den Kopf auf meine Schulter.
„Ich hasse es hier.", murmelt sie.
„Aber es war doch deine Idee herzufahren. Hast du nicht gemeint, wir machen wenigstens Urlaub in Deutschland, wenn wir so schon nicht in den Urlaub können. Und es ist besser als den Sommer bei Papa verbringen zu müssen."
Lara grummelt nur irgendwas. Ich streiche weiter monoton über ihren Rücken.
„Erinnerst du dich wie wir uns überlegt haben, ob wir das Babygeschrei ganze drei Wochen aushalten. Und dort hätten Marius und Mai nicht mitkommen können."
„Und das wär wirklich schade.", kräht Mai von der Seite, die uns ganz ungeniert belauscht. Ich ignoriere sie standhaft und Lara ist sowieso zu traurig, um irgendwas mitzubekommen.
Lara hasst es bestimmt nicht hier zu sein. Immerhin haben wir uns vorher gründlich überlegt, welche Lösung uns den besten Sommer beschert.
Meine Schwester blickt auf und zwinkert eine letzte Träne aus ihrem Auge.
„Hast Recht.", krächzt sie. Mit einem letzten Drücker wendet sie sich ihrer Tasche zu. Das laute Knirschen des Reißverschlusses dringt durch die Hütte.
„Und wenn ich nicht allein einschlafen kann, knuddel ich einfach dich. Das hat früher auch immer funktioniert.", schiebt sie noch hinterher und fängt an auszupacken
Wenigstens will mich irgendjemand kuscheln.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top