Kapitel 6

Foto = Nathan

6

Am nächsten Tag verschlief ich mal nicht. Zum Glück musste ich heute wieder zur ersten Stunde aufstehen, denn ansonsten hätte Marleen verschlafen.

Der Tag verging diesmal ein wenig schneller, auch wenn er trotzdem noch ganz schön lang war. Zumindest der Unterricht. In der Mittagspause redete ich mit Marleen über die Kaugummigeschichte.

„Ich habe null Bock darauf", beschwerte ich mich und verschlang mein Hühnchen.

„Weißt du wie lange das dauern wird?"

Meine beste Freundin warf daraufhin einfach so ein paar Reiskörner nach mir.

„Hey!", lachte ich.

„Reg dich nicht so auf. Immerhin hat Miss Claude es veranlasst, dass du jetzt 3 Stunden oder so verpasst." Na gut, da musste ich ihr zustimmen. Miss Claude hatte mit meinen - und wahrscheinlich beziehungsweise hoffentlich auch mit den Lehrern von dem Jungen - geredet, damit ich schon nach der Mittagspause mit den Tribünen anfangen konnte. Das war nicht nur ein Zeichen dafür, dass es endlang dauern wird, sondern auch noch gemein.

„Aber halt. Jetzt wissen die anderen Lehrer, dass ich schon am ersten Tag Probleme hatte. Was denken die jetzt von mir?"

„Meine Güte, jetzt reg dich ab", fauchte sie. „Ansonsten machst du dir auch nie Gedanken darüber." Sie hatte recht. Aber sollte man sich jetzt nicht Gedanken über solche Dinge machen? Ich meine wir gingen auf ein angesehenes College, da konnte man sich so etwas nicht leisten. Schon gar nicht, wenn man 50000 Dollar bezahlte, um hierhin gehen zu dürfen. Da konnte ich keinen Rauswurf riskieren. Vielleicht reagierte ich aber auch nur über.

Nachdem ich mein Hühnchen aufgegessen hatte, trank ich mein Wasser in einem Zug leer. Oh man, ich vermisste jetzt schon Cola oder irgendetwas Süßes zum Trinken. Hier gab es fast nur Wasser. Zwar war das mit dem Trinken keine große Sache, jedoch musste ich mich echt noch an die ganze Sache gewöhnen. Ich kam jetzt schon gar nicht mehr in Biologie mit! Wie sollte ich hier ein ganzes Jahr durchhalten? Okay, ganz locker. Tief durchatmen, dachte ich mir. Es ist erstmal der zweite Tag, du reagierst über.

Mit Zweifel stimmte ich der Stimme in meinem Kopf zu und trug mein Tablett auf den Geschirrwagen. Mar folgte mir, dann liefen wir schweigend aus der Cafeteria. Wir hatten noch ungefähr eine halbe Stunde, bis die Mittagspause vorbei war und Mar zum Unterricht und ich in die Sporthalle musste. Sie hatte jetzt Spanisch, und da die Sporthalle, in die ich musste (es gab ja mehrere) in der Nähe war, liefen wir einfach gemeinsam in diese Richtung und quatschten gemeinsam.

„Ich will wissen, wie der aussieht, der Kerl", warf sie in den Raum. Damit nervte sie mich schon den ganzen Tag. „Ach, und sein Name auch immer noch."

„Du gehst mir echt auf die Nerven. Auch nach zwei Stunden weiß ich immer noch nicht, wie er heißt. Und selbst wenn ich es weiß - wen interessiert das?"

Ich wandte mich schon von ihr ab. Denn ich wusste, wie sie darauf gleich antworten wollte: Mit ihrem Ulala-Blick. Dieser Blick sprach Bände. Sie fand es ja angeblich total toll, mit einem hübschen Jungen Kaugummikratzen zu gehen. Ich hingegen hatte einfach keine Lust darauf. Warum sollte man auch auf Kaugummikratzen Lust haben? Ob ein Junge jetzt dabei war oder nicht, war egal. Mit aber auch ohne war langweilig, aber das sah meine beste Freundin offenbar anders. Für sie war keiner zu schade. Außerdem: So hübsch war er jetzt auch nicht - oder? Naja, sie hatte ihn ja noch nicht gesehen. Und richtig betrachtet hatte ich ihn auch noch nicht.

Am Ende des Ganges gingen wir die Tür hinaus auf das Außengelände. Mar verabschiedete sich mit einem „Viel Spaß" und grinste. Sie begab sich nach links in das Sprachgebäude, ich lief auf die erste Turnhalle zu. Mittlerweile war fast niemand mehr zu sehen, da alle schon mal zum Unterricht gingen, um nicht zu spät zu kommen. Daran hätte ich mir mal ein Beispiel nehmen sollen.

Als ich die schwere Glastür der Sporthalle zu mir zog, kam mir ein mindestens gefühlter 80 Grad Stoß entgegen. Oh Gott, das konnte ja nur heiter werden. In der Halle war es dreifach so warm wie draußen! Konnten die sich denn nicht mal eine Klimaanlage leisten?!

Genervt lief ich langsam rein und schaute mich um. Keine Menschenseele war zu sehen.

Leise tapste ich gerade aus, meine Schuhe waren das einzige, das ich hörte. Sie quietschten auf dem Boden. Ich war im Vorgang.

„Hallo?", rief ich.

„Moment!" Das war unverkennbar der Hausmeister. Man hörte, wie alt er war. Seine Stimme war kratzig und leise. Er kam auf mich zugehumpelt und reichte mir einen Eimer.

„Wo bleibt der Knabe?", fragte er. Eingeschüchtert schüttelte ich den Kopf, um zu zeigen, dass ich es nicht wusste. Er schüchterte mich wirklich ein. Er war zwar kleiner als ich, wie es die meisten alten Leute sind, aber ich glaubte, er würde mich locker mit einem Stock verschlagen. Er sah einfach so aus, als wäre er einer dieser Lehrer, die seit Jahrzehnten hier sind und die Nase voll von Jugendlichen haben. Grundgütiger.

„Nicht pünktlich, also bleibt er länger."

„Wie lange sollen wir denn kratzen?", fragte ich so freundlich wie es nur ging.

„So lange, wie ihr es verdient habt", fauchte er mich pampig an. Du meine Güte, bleib locker.

„Wir haben jetzt 14:20 Uhr, er ist also 5 Minuten zu spät. Ich denke bis zum Abendessen sollt ihr kratzen. Wenn ihr bis dahin nicht fertig seid, macht ihr nach dem Abendessen weiter."

Ich war kurz davor, ihm den Gehstock aus der Hand zu reißen und auf ihn einzuschlagen.

Sollte ich jetzt meinen ganzen freien Abend damit nutzen, Kaugummis abzukratzen? Außerdem musste ich noch Hausaufgaben machen!

„Obwohl", sagte er. „Du bist pünktlich gewesen. Du kannst nach deiner regulären Unterrichtszeit gehen." Mir fiel ein Stein vom Herzen. Gott sei Dank. Jetzt musste ich nicht bis in die Nacht Hausaufgaben machen. Hoffentlich würde er sein Versprechen einhalten, dass ich dann also nach 17 Uhr gehen konnte.

Gerade als ich nochmal nachfragen wollte, ob es auch wirklich okay ist, wenn ich um 17 Uhr gehe, nahm ich eine überirdisch schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Ich drehte mich nach links. Jemand kam angerannt. Ich vermutete mal schwer, dass es der Junge war, konnte jedoch nur den braunen Undercut erkennen, weil er so unglaublich schnell rannte. Zwei Sekunden später ging die Hallentür auf. Übrigens wunderte ich mich, wie er diese so leicht aufbekam, ich quälte mich nämlich mit diesen dämlichen und schweren Türen immer ab.

„Ach, der Knabe, auch mal da. Hälst es wohl nicht für nötig, pünktlich zu sein, was? Hab schon von Miss Claude Wind davon bekommen." Er hustete - anscheinend weil der Satz zu lang für ihn war - und hielt sich an den Bauch.

„Tut mir Leid", schnaufte der Kerl. Er stützte sich mit seinen Händen auf den Knien ab.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, dabei auf seine Arme zu schauen. Durch die Spannung schauten seine Venen heraus. „Ich hab noch meine Sachen aufs Zimmer getan und da war ein riesiger Tumult und ..."

„Halt die Schnauze", fiel der alte Mann ihm eiskalt ins Wort. Ich musste mir das Lachen verkneifen. „Macht euch an die Arbeit. Du", er zeigte auf den Jungen, „kommst nach dem Abendessen wieder und kratzt weiter."

„Und was ist mit ihr?", fragte er empört. Wie bitte?

Ich war pünktlich." Ich versuchte es so normal wie möglich zu sagen, konnte mir aber ein Grinsen nicht verkneifen. Ihm war überhaupt nicht zu Lachen zumute.

„Keine Diskussion. Jetzt bewegt euren Hintern." Ich nahm meinen Eimer vom Boden, der Typ bekam einen vom Hausmeister und dann gingen wir in die Halle. Ich sah, wie der Hausmeister die Halle verließ. Oh Gott. Jetzt war ich alleine mit dem Jungen.

Schweigend stellten wir die Eimer ab und ich holte meinen Spachtel heraus.

„Das ist sowas von eklig. Ich will das nicht machen", sagte er.

„Sei nicht so eine Pussy", lachte ich und zeigte an das Ende der Tribünen. „Fang du dahinten an, ich fang hier an."

Er holte seinen Spachtel aus dem Eimer und sah dabei mit seinen Augen hoch. Das sah so bekloppt aus.

„Jetzt sieh mich nicht so behindert an und beweg dich. Immerhin hast du noch viel Arbeit vor dir."

Er grinste sarkastisch und lief anschließend nach hinten.

„Sarkasmus steht dir echt nicht," rief ich nach hinten. Das nahm ich als Zeitpunkt, ihn von hinten anzusehen. Mar musste ja eine Bestätigung haben, dass er wirklich hübsch war.

Doch von hinten hatte ich ja wohl kaum eine gute Aussicht.

„Kannst du dich mal kurz umdrehen?", schoss es unvermutet aus mir heraus. Er drehte sich um und ich starrte ihn einfach nur an.

„Was ist?", fragte er mit gerunzelter Stirn. Oh. Ich erwachte aus meiner Hypnose.

Meine Fresse, wie dämlich war ich denn bitte?! Prompt wurde ich rot. Wie immer.

„Äh, nichts." Er zuckte mit den Achseln und fing an, die Kaugummis mit angewidertem Gesicht abzukratzen. Scheiße war das peinlich.

Nun widmete ich mich auch meiner Tribüne. Ich legte mich einfach untendrunter, um alles besser abkratzen zu können. Der Anblick versüßte ja richtig meinen Tag.

Okay, nein, im Ernst: Es war wirklich widerlich. Jetzt konnte ich ihn verstehen.

„Kannst du mich jetzt verstehen?", brüllte er von hinten und lachte. Selbst von der Entfernung konnte ich sein Lachen hören und sehen. Und ich musste mir eingestehen, dass er wirklich hübsch war. Aber es gab viele hübsche Jungs.

„Oh ja." Langsam begann ich, mit dem Spachtel einen Kaugummi abzukratzen. Der ging ganz leicht ab und fiel in den Eimer, den ich zuvor auf meinen Bauch gestellt hatte.

Während ich die Kaugummis abkratzte, verspürte ich den Drang, den Jungen zu fragen, wie er hieß, obwohl es mir doch egal sein konnte. Ich fragte ihn jedoch nicht, das mit dem Umdrehen war schon peinlich genug gewesen.

Nach einer Weile wollte ich mich dem nächsten Teil der großen Tribüne widmen, allerdings steckte ich buchstäblich untendrunter fest. Na geil. Ich versuchte mich zu befreien, aber kam einfach nicht heraus. Stell dich nicht so an und frag ihn einfach! Er wird dich schon nicht beißen.

„Ähm ...", sagte ich laut. Wie sollte ich ihn rufen? Ich kannte seinen Namen überhaupt nicht!

„Ähm!", rief ich nochmal eine Spur lauter. Gott, wie peinlich.

Ähm, was willst du?!", fragte er genervt.

„Kannst du mir mal helfen?"

Ich hörte seinen Spachtel auf den Boden klappen und seine energischen Schritte, die langsam auf mich zukamen. Rechts von mir kniete er sich hin, seinen rechten Arm legte er lässig auf die Sitzplätze über mir.

„Was tust du da unten?" Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. Ich chille hier.

„Ach, ich dachte, ich häng hier mal so rum und genieße die klebrige Aussicht, weißt du."

„Sarkasmus steht dir echt nicht", lachte er und legte den Kopf schief. Mistkerl. „Komm, ich helf dir raus."

Vorsichtig griff er nach mir und zog mich langsam heraus, damit ich mich nicht stieß.

Seine Händen waren ultra heiß und verschwitzt, ihgitt. Befreit stellte ich mich hin und zückte meine Klamotten zurecht.

„Alles okay?", fragte er.

„Jaja, danke. Ich hab nur festgesteckt, ich wurde nicht angeschossen oder so."

Er lachte wieder. Ich glaubte langsam, dass er das absichtlich machte, denn sein Lachen war unheimlich ansteckend.

Unverwandt musterte er mich von oben bis unten mit verschränkten Armen.

„Was ist?"

„Nichts", sagte er und schaute mir wieder ins Gesicht. „Ich habe nur keinen Bock mehr."

„Tja, ich auch nicht. Aber ich ...", - grinsend schaute ich auf meine Handyuhr - „Oh, die Zeit ging ja schnell um. Ich muss nur noch 40 Minuten hier bleiben."

„Provozier mich ja nicht", sagte er.

„Tu ich nicht. Ich mache dir nur deutlich, dass du nach dem Abendessen wieder kratzen musst." Und ob ich ihn provozierte. Das war dafür, dass ich wegen ihm das tun musste.

„Halt die Schnauze."

„Nö", sagte ich und verschränkte nun auch die Arme. Naja - das Ding war nur, dass es bei mir total lächerlich aussah, weil ich weder Muskeln hatte noch so groß war wie er. Er war ungefähr ein einhalb Köpfe größer. Das tat im Nacken echt weh.

„Könntest du dich mal weiter von mir entfernen? Das tut unnormal weh im Nacken."

„Warum sollte ich? Ich kann ja wohl schlecht zurücklaufen, da ich dich kleines Ding gerade aus der Tribüne befreit habe." Was hatte er gerade gesagt? Kleines Ding?

Wütend schubste ich ihn zurück, sodass er kopfüber nach hinten fiel.

„Oh, äh", stammelte ich und wollte ihn gerade festhalten, da kam er schon mit einem dumpfen Krachen auf. Autsch. Das war wohl ein wenig zu übertrieben.

„Hast du dir was getan?" Zurückhaltend schaute ich über die Sitzplätze. Er war still.

Herr im Himmel, bitte ist ihm nichts passiert!

Plötzlich stand er kerzengerade vor mir und wollte mich packen. Schreiend rannte ich die Tribüne endlang. Er rannte neben mir her, nur eine Reihe weiter unten, und versuchte mich zu packen.

„Ich werd dich schon kriegen!", rief er. „Komm schon, ich bin sowieso schneller!"

Er lachte so laut, wahrscheinlich weil ich wie eine Ente rannte, und dann hatte er mich.

Sein Lachen hatte mich abgelenkt, okay. Deswegen hatte er mich gekriegt. Ansonsten wäre ich schneller gewesen.

Jap, weil du auch schneller bist als er.

Er packte mich von hinten an der Taille, dann nahm er mich hoch - den linken Arm unter den Kniekehlen und den anderen Arm um den Rücken.

„Lass mich runter!"

„Oh nein, das ist die Rache."

„Was hast du überhaupt vor?" Ungeduldig strampelte ich mit den Knien. „Wir sind quitt, du dämlicher Kerl."

„Nathan", sagte er, während er weiter geradeaus lief. Was?

„Hä? Wie kommst du auf Nathan? Was oder wer um Himmels Willen ist ein Nathan?!"

Abrupt blieb er stehen und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen und einem schief gelegten Kopf an.

„Das ist mein Name, du dämliches Mädchen. Es nervt, wenn du Kerl sagst, also nenn mich bei meinem Namen." Also ich musste echt sagen, dass er mich unnormal nervte mit seiner arroganten Art. Warum musste er immer alles nachplappern und dann auch noch so bescheuert sarkastisch?

„Oh." Nathan also. Nathan. Jetzt wusste ich seinen Namen.

Und was hast du jetzt davon? Naja ... Okay, gar nichts. Warum interessierte mich das überhaupt? Es musste mich nicht kümmern. Es war mir gleich.

„Und du?" Unvermutet riss er mich aus meinen Grübeleien. Was meinte er?

Ach ja, mein Name.

„Amy", antwortete ich. Mir fiel auf einmal auf, dass es ein wenig kühler wurde, es aber trotzdem noch warm war. Wir waren draußen.

„Wo willst du bitte hin?"

„Das wirst du schon sehen." Er lief auf eine andere Sporthalle zu, auf der eine große schwarze zwei stand. Warum zum Teufel ging er in eine andere Sporthalle? Ich hoffte nur, dass hier momentan keiner Unterricht hatte, sonst wäre es peinlich gewesen.

Ohne mich kurz abzustellen machte er die Tür auf - oh ja, ich hatte keine Ahnung, wie er dieses fette Ding so aufbekam - und lief hinein. Ich hörte laute Stimmen wie „jetzt mach schon!", „beweg dich!"

„Bist du bescheuert? Was machst du? Da haben welche Unterricht!"

„Pschtttt", sagte er leise und schlich in eine andere Richtung. Er ging auf eine große Eisentür zu.

Oh Gott.

Ich kam mir vor wie in einem Horrorfilm. Die Tür war wirklich aus Eisen und es sah aus, als würde niemand mehr dort durch kommen, um dich zu retten.

Er lugte in die Tür hinein, in der gerade Unterricht war, und rannte schnell daran vorbei.

Ich hüpfte auf und ab.

Dann stand er vor der schweren Eisentür.

„Wenn da drin jetzt Unterricht ist, wird es peinlich. Aber das Risiko gehe ich ein, immerhin hättest du mir fast den Schädel gebrochen und das da ist gar nichts. Etwas Besseres fällt mir aber nicht ein", erklärte er mir und zuckte mit den Achseln.

Ich wusste nicht, was hinter der Tür war, doch er ging trotzdem durch.

Es war keiner da. Na toll. Einerseits hatte uns das vor einer riesigen Blamage gerettet, andererseits war es scheiße. Denn jetzt konnte uns kein Lehrer zurückschicken.

Drei große Schwimmbecken breiteten sich vor mir aus und ließen den Raum ziemlich weit wirken. Der Boden war teilweise aus Beton und Fliesen.

Und da sah ich den Albtraum: Sprungbretter.

Ach du Scheiße. Jetzt wusste ich, was er vorhatte. Oh Gott, nein! Bitte nicht! Ich hatte Höhenangst!

Er lief auf das höchste Sprungbrett zu, nachdem er mein Handy aus der Hosentasche nahm und es auf eine Bank legte. Okay, ganz ruhig, Amy. Er kann dich nicht zwingen.

Ich tat so, als würde es mir nichts ausmachen. „Sehr einfallsreich."

Als wir jedoch vor der Leiter standen, nahm er mich Huckepack und kletterte die Metallleiter nach oben.

„Bist du verrückt? Ich falle herunter!", kreischte ich voller Entsetzen. Mein Herz raste unglaublich schnell. Ich werde runter fallen und sterben. Ich werde sterben. Nicht nach unten gucken. Nicht nach unten gucken. Konzentrier dich auf ihn. Er wird dich nicht fallen lassen.

„Heb dich einfach fest, mein Gott."

Ich werde sterben, ich werde sterben.

Ich kniff die Augen zu und klammerte mich fester an ihn. Seine Hände glitten über meine Beine, die er gut festhielt.

Du wirst nicht herunter fallen. Er hält dich fest, du merkst es doch. Langsam entspannte ich mich.

„Du kannst die Augen aufmachen." Vorsichtig öffnete ich die Augen, er ließ mich absteigen. Wir standen auf dem Sprungbrett. Naja, so weit oben war es eher ein Klotz. Wie viel Meter waren das überhaupt? Für mich sah es aus wie 50!

„Ich werde ganz sicher nicht da runter springen", protestierte ich und schreckte vor dem Rand zurück. Heiliges Kanonenohr.

Mein Herz pochte immer noch, mein Puls war förmlich in den Ohren zu hören.

„Jetzt mach nicht so ein Drama daraus, du hättest mir fast den Schädel gebrochen!"

Ich starrte ihn an (und zog heimlich mein Oberteil etwas weiter herunter). Vielleicht würde er ja nachgeben, wenn er auf meine weiblichen Reize reagierte.

Du bescheuerte Kuh hast überhaupt keine Reize, mit denen du punkten kannst.

Ach Mist. Das war wahr. Ich hatte wirklich null Reize, mit denen ich ihn hätte überreden könnten. Es war unmöglich.

Jetzt mach nicht so eine Welle, es ist nur ein Sprung und nicht dein Todesurteil!

Oh, möglicherweise doch.

„Worauf wartest du?", fragte er genervt.

„Warum muss ich das überhaupt tun? Das ist total kindisch."

Er legte den Kopf schief. Warum zum Teufel musste er das die ganze Zeit machen?!

„Du hast Höhenangst", stellte er fest.

„Nein, das habe ich nicht."

„Gut, dann spring doch einfach." Was für ein Dreckskerl.

„Ich will aber nicht." Ich blieb stur.

„Hast du Angst, dass deine Schminke verläuft?", grinste er höhnisch. Du mieses, kleines ...

„Ich bin nicht mal geschminkt, aber okay." Er runzelte verwirrt die Stirn.

Tja, das hättest du wohl nicht erwartet.

„Das glaube ich dir nicht. Ein anderen Grund gibt es nicht."

Na gut. Ich gab nach. „Na gut okay, ich habe Höhenangst, verstanden? Und jetzt bring mich hier bitte runter, bevor ich noch kollabiere!"

Doch Nathan war ebenfalls hartnäckig. „Jetzt auf einmal also doch. Wollen wir doch mal sehen, ob du tatsächlich nicht geschminkt bist."

Er nahm mich hoch und lief auf den Rand zu. Oh mein Gott, Hilfe!

„Nein! Lass mich los! LASS MICH LOS!" Ich zappelte, schrie, brüllte, winselte schon fast, aber er ließ mich nicht los. Lass mich endlich los, du dummes Arschloch!

Mein Puls hatte seinen Höchstwert erreicht, und dann sah ich am Rand nur noch das klare Wasser und spürte den Fall.

Ich schrie mir die Seele aus dem Leib.

Es fühlte sich an, als würde ich für einen Moment schwerelos sein, und jeder würde dieses Gefühl vielleicht lieben, aber ich nicht. Für mich war es ein Moment der Hilflosigkeit. Ich konnte mich nirgendwo festhalten.

Dann prallte ich ins Wasser. Ich spürte, wie die Kälte mich erfrischte, meine Kleider durchnässte und das Wasser durch den offenen Mund wegen meinem Schrei in meine Lungen eindrang. Ich werde sterben. Ich werde sterben.

Auf einmal war ich an der Oberfläche. Hustend spuckte ich das Wasser aus und schwamm an den Rand. Mühsam zog ich mich aus dem Wasser und sah mich um.

„Und? War doch jetzt nicht sooo schlimm", sagte Nathan. Ich drehte mich nach rechts.

„Nicht so schlimm?", fing ich wütend an. „Ich habe Höhenangst, Nathan, verstehst du das nicht?!" Ich hustete und spuckte Wasser auf den Boden.

„Es ist doch aber nichts passiert, Amy. Du hättest mich fast töten können." Ja klar.

„Okay, stopp mal. Jetzt übertreib mal nicht. Es war nur ein leichter Schubser. Klar hättest du dir was prellen können, aber töten oder brechen - man kann es auch übertreiben."

„Du bist echt verklemmt", sagte er.

„Verklemmt? Ich habe Höhenangst, du hirnloses Ding!"

„Klar bist du verklemmt. Kein Mädchen ist so verklemmt." Okay. Jetzt reichte es.

„Oh, tut mir Leid, dass ich nicht wie die Mädchen bin, die sich jeden Morgen zwei Stunden vor dem Bad schminken und mit High Heels und Miniröcken durch die Gegend laufen. Tut mir echt Leid, aber das bin ich nun mal nicht."

„Allerdings", flüsterte er.

„Was allerdings?"

„Allerdings bist du nicht wie andere Mädchen. Du schminkst dich nicht stundenlang, du trägst Vans statt High Heels, ein stinknormales T-Shirt und keine Miniröcke, bei denen man den halben Arsch sieht. Stinknormal und langweilig."

Ich wusste jetzt nicht, ob das positiv oder negativ gemeint war. Ich wettete eher zweiteres.

„Übrigens ist das aber geil, wenn man den Arsch sieht. Also zieh dich mal girlymäßiger an und nicht wie Bob der Baumeister."

Wie konnte er es wagen? Ich war kurz davor, ihm eine zu klatschen, da klingelte es.

Wutentbrannt nahm ich mein Handy, marschierte tropfend nach draußen und rief noch

„Viel Spaß beim Kaugummikratzen, dummes Arschloch!" nach hinten. Mein Puls hatte sich immer noch nicht verlangsamt.

Übrigens wurde es auch nicht besser, als mich alle mal wieder dumm anschauten. Was sollte denn noch passieren? Ich war gerade mal zwei Tage auf dem College und schon hatte ich mich zweimal so blamiert, dass ich mich wahrscheinlich schon manche vom Sehen her kannten. Na toll. Ein schöner Start.

Ich spürte Nathans Blick im Nacken. In dem Wissen, dass er jetzt noch eine Stunde und dann nach dem Abendessen keine Ahnung wie viel Stunden weiterkratzen musste, grinste ich und lief durchnässt in mein Zimmer, um mich umzuziehen.

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