Kapitel 4

4

Der schrille Ton meines Handyweckers ließ mich meine Augen aufschlagen. Gähnend sah ich mich um. Marleen lag am Ende des Bettes, wurde auch langsam wach.

„Ich will noch nicht aufstehennnnn", jammerte sie ins Kissen.

„Ich auch nicht", sagte ich. „Wir müssen aber, also beweg dich."

In dem Punkt waren wir das genaue Gegenteil: Ohne Hilfe kam sie nicht aus dem Bett. Ich war zwar stinkfaul, aber wenn es etwas Wichtiges war, stand ich auch auf.

„Jetzt mach schon." Gewaltsam zog ich sie aus dem Bett, sodass sie ausversehen auf dem Boden landete.

„Aua! Was soll das denn? Kein Grund zur Übertreibung!" Ich kicherte heimlich.

„Geh gefälligst duschen", befahl ich ihr. Widerwillig stand sie auf und marschierte offenbar in ihr Zimmer, um sich Klamotten zu holen. Ich suchte mir auch gemütliche Klamotten raus. Eine dünne, schwarze und luftige Hose, die an den Knöcheln umgekrempelt war, und ein rotes Top. Die Farbe der Unterwäsche war mir gleich, also ging ich schnell in das Badezimmer, in dem die Zwillinge letztes Mal gebadet hatten. Zum Glück war keiner drin, somit konnte ich schnell in die Dusche springen. Das warme Wasser fühlte sich befreiend auf meiner Haut an. Als könnte das Wasser jegliche Sorgen und Probleme wegspülen ...

Schnell wusch ich mich und zog mich an. Ich brauchte nicht lange, um mich fertig zu machen. Mit der Schminke, die ich mir gekauft hatte, machte ich mich noch ein bisschen mehr zurecht. Ich war nämlich katastrophal blass – wie immer. Als ich fand, dass es einigermaßen akzeptabel aussah, ging ich wieder in mein Zimmer. Den Rucksack, den Mom mir gepackt hatte, räumte ich leer und packte alles in den Koffer. So schlau wie ich doch war, packte ich erst jetzt. Alles passte perfekt rein, nur die Bücher nicht alle. Also tat ich noch ein paar in den Rucksack. Jetzt war alles gepackt und ich war fertig. Aufgeregt klopfte ich an Mars Badezimmertür, um zu sehen, ob sie fertig war.

„Herein", hörte ich ihre hohe Stimme. Ich ging rein und schloss die Tür wieder. Sie hatte ein Handtuch auf dem Kopf und schminkte sich gerade.

„Hab schon gepackt, keine Sorge", sagte sie. „Falls du das fragen wolltest."

„Wann fahren wir eigentlich los?"

„Ich würde sagen in 45 Minuten. Bin in fünf Minuten fertig, dann föhne ich meine Haare und wir frühstücken."

„Okay."

Nachdem ich meine Haare geföhnt hatte, marschierte ich nach unten in das Esszimmer. Das Frühstück war schon angerichtet: Orangensaft, Milch, Toast, Rühreier, gekochte Eier, Brötchen, Pfannkuchen und vieles mehr, wovon ich die Hälfte gar nicht entziffern konnte. Doreen und Rodrick saßen schon am Tisch, die Zwillinge schliefen allem Anschein nach noch.

„Guten Morgen", grüßten sie mich. „Wo ist Marleen?" Ich setzte mich an den Tisch und schenkte mir ein Glas Orangensaft ein. Nach den paar Tagen schämte ich mich nicht mehr so sehr. „Die föhnt noch ihre Haare." Ich nahm mir einen Pfannkuchen mit Apfelmus und verschlang ihn sofort. Heute war Sonntag, also wusste ich, dass Doreen gekocht hatte. Es schmeckte genauso gut wie die anderen Gerichte. Okay, Pfannkuchen waren zwar nicht schwer, aber trotzdem. Kurz bevor ich noch ein paar Brote verdrückt hatte, kam Marleen die Treppen runtergerannt und setzte sich an Tisch.

„Wird auch mal Zeit, ihr solltet in ungefähr 20 Minuten losfahren", tadelte ihre Tante.

„Jaja", murmelte Mar. „Ich esse ja schon." Gesagt, getan. Sie schaufelte alles regelrecht in sich rein. Für mich würden zwanzig Minuten eigentlich vollkommen ausreichen, um gemütlich zu frühstücken. So wie es aussah für Mar nicht. Hoskins und Rodrick brachten unsere Koffer in Marleens Auto, den Rucksack und Mars Tasche stellten sie neben uns, weil unsere Handys und die wichtigen Papiere dort drin waren.

„Wie lange fahren wir eigentlich?", fragte ich meine beste Freundin, während sie die Rühreier in sich reinschaufelte.

„Ungefähr eine Stunde, glaube ich." Ihr flogen ein paar Rühreier aus dem Mund.

„Okay." Nachdem sie endlich fertig gegessen hatte, gingen wir nach draußen und verabschiedeten uns von der Familie.

„Danke nochmal", sagte ich und umarmte Rodrick und Doreen.

„Keine Ursache, wir heißen dich jederzeit wieder willkommen", antwortete Rodrick lächelnd.

Doreen lächelte ebenfalls, zog Marleen und mich aber nochmal zur Seite.

„Ich weiß nicht, was ihr im Schilde führt, aber wir werden euren Eltern nicht sagen, wo ihr seid. So wie ich es dir versprochen habe, Mar."

Ich rührte mich nicht. Mom, Dad, Mars Eltern und Rodrick und Doreen. Sechs Leute zwingten wir, uns zu decken. Doch zu welchem Preis? War es das wert? Ich sagte nichts, Mar nickte nur und dann umarmten wir noch Judy und Amélie.

„Wir werden euch vermissen", schmollten sie mit ihren schmalen, herzförmigen Lippen.

„Wir euch auch."

Danach stiegen wir in das Auto und ließen die Scheibe herunter, um noch hinterher zu winken.

„Bis bald!", riefen wir im Chor.

Dann waren wir weg und fuhren durch die lebendigen Straßen.


Ich schlief mal hin und wieder, da wir durch den vielen Verkehr doch noch ein bisschen länger fuhren mussten. Die restliche Zeit verbrachte ich damit, die Sonne zu beobachten, während sie immer mehr hinter den Wolken auftauchte. Das Licht blendete mich ein wenig. Ich kniff die Augen zu, sah aber nicht weg. Das Licht kam mir vor wie ein Zeichen des Neuanfangs, ein neues Licht, um alles besser zu machen.

„Ich bin so aufgeregt", riss Marleen mich mal wieder aus meinen Gedanken. Ihr rechtes Bein hüpfte auf und ab, und ihre Lippen zitterten beim Sprechen.

„Ich auch." Ich starrte in die Ferne und verlor mich in der Landschaft.


Mein Kopf, der die ganze Zeit von der Sonne angestrahlt wurde, war unmöglich heiß, deshalb wachte ich auf. Mein Hinterkopf pochte.

„Wir sind da", rief Marleen begeistert. „Schau nur!" Sie parkte ihr Auto auf dem Parkplatz.

Ich stieg langsam aus, da ich das Gefühl hatte, gleich umzukippen, so heiß war mein Kopf.

Bevor ich mich dem Ausblick widmete, holte ich meinen Koffer aus dem Kofferraum und zog mir meinen Rucksack über. Mar machte das gleiche.
,,Los geht's!", verkündete ich. Wir drehten uns um und sahen uns das Gebäude an. Es war bestimmt fünfmal so groß wie Rodricks und Doreens Haus – und das musste was heißen. Es war aus alten Backsteinen gebaut, und ganz oben war eine riesige Uhr, die gerade ungefähr 8:30 Uhr anzeigte. Oak Hill College prangte als ganz großes Logo unter der Uhr und nochmal als Schild neben uns.

„Meine Fresse. So groß hatte ich mir das nicht vorgestellt! Auf Doreens Bildern sah es ganz anders aus!" Ich grinste und betrachtete den Rest der Umgebung. Solch perfekt gemähten Rasen hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Er leuchtete förmlich und zwischen den Rasenflächen führte ein ewig langer Steinweg zu dem Hauptgebäude. Die restlichen Gebäude waren wahrscheinlich hinter dem Hauptgebäude.

Ich beobachtete die anderen Leute, die auf dem Rasen saßen, laut lachten und sich unterhielten. Wie leicht es wohl war, einfach nur auf das College gehen zu können, ohne zu befürchten, dass jeden Tag die Polizei vor der Tür stehen würde ...

Plötzlich drang eine raue Stimme aus dem Lautsprecher. „Alle Schülerinnen und Schüler finden sich bitte unverzüglich in ihren Zimmern ein. Weitere Anweisungen folgen."

Es war ganz klar eine männliche Stimme. Durch die Papiere wusste ich, dass der Schulleiter A. Dunn hieß, also war es wahrscheinlich er gewesen.

„Jetzt müssen wir ersteinmal das dritte Gebäude finden", seufzte Mar.

Wir liefen los in Richtung Hauptgebäude. Irgendwo mussten wir ja anfangen. Der Steinweg war uneben, weshalb wir ein bisschen langsamer laufen mussten, damit die Koffer nicht umkippten. Ich hievte meinen Koffer die Steintreppen hoch, die unendlich schienen.

„Herrgott, wenn hier überall solche Treppen sind, gehe ich gleich wieder", beschwerte ich mich. Marleen lachte nur und hob die ebenso schwere Tür für mich auf. Dann stellte ich meinen Koffer ab und hob sie für sie auf. So machten wir das die ganze Zeit.

Der Boden war perfekt poliert, sodass er glänzte.

Ich kramte meinen Lageplan heraus, was ich wohl früher hätte machen sollen, und schaute, wo Gebäude Nummer drei war.

„Ähm ... Ich habe trotz diesem Lageplan, der zeigt, dass hier Gebäude drei ist, absolut keinen Schimmer, wo wir lang müssen."

„Ich auch nicht", antwortete meine beste Freundin. „Warte, ich frage mal eben irgendjemanden."

Wir schauten uns um. Ein paar Meter von uns entfernt stand ein Junge, der sich gerade irgendetwas im Schaukasten durchlas. Wir liefen zu ihm.

„Ähm, Entschuldigung", fing Mar an. Er drehte sich um.

„Was gibt's?"

Er sah mich an. „Kannst du uns sagen, wo Gebäude Nummer drei ist?", fragte ich.

„Einfach hier rechts rum und dann den Hintereingang raus. Die Gebäude sind nummeriert, die erkennt man sofort."

„Okay, danke." Wir folgten der Anweisung des Jungen und gingen den Hintereingang raus. Hier waren wieder Treppen, aber wenigstens gingen diese nach unten.

Während wir uns dem Gebäude, auf dem eine große drei stand, näherten, fragte ich Marleen, warum das College Oak Hill hieß.

„Hier in der Nähe ist ein Berg, deshalb haben sie es so genannt."

„Sehr einfallsreich", schmunzelte ich.

„Allerdings. Der Name wird dem College irgendwie nicht gerecht."

Als wir endlich ankamen und den Flur entlang liefen, suchte Marleen rechts und ich links die Nummer.

44, 46, 48, 50, 52, 54, ... Bis wir die 89 fanden. Die Schlüssel hing an der Tür. Mar überreichte mir einen und den zweiten nahm sie selbst. Die Zimmernummer war schwarz an die Tür gemalt, neben der Tür war ein Schild aus Glas zu sehen, auf dem Marleen Corey & Amy-Linn Sanchez stand. Langsam drückte ich die Tür auf und stellte meinen Koffer ab.

Rechts und links standen an den Wänden Stahlbetten, die ganz weiß überzogen waren.

Nebendran war ein Nachttischschrank, auf dem eine schwarze Lampe stand. Insgesamt war das Zimmer sehr hell und freundlich eingerichtet, die Wände waren hellgrün gestrichen, der Boden war Parkett und das Fenster in der Mitte der beiden Betten ließ das Sonnenlicht hereinstrahlen. Durch das Fenster konnten wir den Hof betrachten.

Gegenüber von dem rechten Bett stand ein Mini-Kühlschrank, ein kleines, grünes Ledersofa und ein Kaffeetisch. Gegenüber des anderem Betts stand ein Eckschreibtisch mit zwei Stühlen und Regalen darüber. Die Kleiderschränke waren neben den Stahlbetten an der Wand platziert.

„Ich find es richtig gemütlich, und du?", fragte Mar mit einem breiten Grinsen.

„Oh ja."

Wir sahen uns noch das kleine Badezimmer an, das an das Zimmer grenzte. Es war zwar ziemlich klein, aber vollkommen ausreichend für uns beide.

„Ich würde sagen, wir räumen unsere Klamotten ein, bis da wieder Anweisungen aus dem Lautsprecher kommen", sagte sie und deutete auf den Lautsprecher oberhalb des Schreibtischs. Ich nickte und begann, meine Klamotten auszuräumen und sie im Schrank zu ordnen. Danach räumte ich meine Badutensilien in den Badschrank und band meine Haare zu einem Zopf. Anstatt einer weiteren Anweisung aus den Lautsprechern, wie Marleen dachte, klopfte jemand an der Tür.

„Ich mach schon auf", sagte ich und machte die Tür auf.

„Guten Tag", sagte die Frau in dem roten Kleid. Sie trat ein und schloss die Tür. In ihrer Hand erkannte ich zwei Mappen, die so fett waren, dass ich mir gar nicht ausmalen wollte, was dort alles drin war.

„Ich bin Miss Claude, herzlich Willkommen auf unserem College." Sie trug eine Lesebrille, die so aussah, als würde sie gleich von ihrer Nase fallen, und musterte uns abwechselnd mit einer hochgezogenen Braue.

„Äh, danke", antwortete ich nach gefühlten Stunden. Sie war so stark geschminkt, dass man schon fast gar nicht mehr ihre Augenfarbe erkannte, die in den schwarzen Rändern völlig unterging. Trotzdem erkannte ich blaue Augen, die mich immer noch musterten.

„Nun, ich habe wichtige Anweisungen für Sie in dieser Mappe. Dort finden Sie jegliche Hausregeln, seien es Unterrichtsregeln, Brandschutzordnungen und vieles mehr. Ihren Stundenplan haben Sie noch, hoffe ich?"

„Natürlich", brachte ich hervor. Ich glaubte, es war keine gute Idee, einfach nur pampig Ja zu sagen, deswegen bemühte ich mich, höflicher zu klingen.

„Sehr gut. Der Unterricht beginnt morgen, pünktlich zur ersten Stunde. Ich bin übrigens Ihre Französischlehrerin, wir sehen uns morgen zur ersten Stunde.

Die Zeiten zum Essen sehen wie folgt aus: Frühstück 7:00 bis 7:45 Uhr, der Unterricht beginnt um 8:00 Uhr, wie Sie Ihrem Stundenplan entnehmen können. Das Mittagessen beginnt um 13:00 und endet um 14:00 Uhr, der Unterricht geht dann um 14:15 Uhr weiter.

Das Abendessen findet von 18:00 bis 19:00 Uhr statt.

Im Aufenthaltsraum gibt es einen Fernseher, dieser wird zwar selten benutzt, steht Ihnen jedoch nach dem Unterricht zwei Stunden frei zur Verfügung. Ansonsten dürfen Sie in Ihrer Freizeit begrenzt die Sporthalle benutzen, die meisten Geräte sind jedoch nach dem Unterricht nicht mehr verwendbar. Es gibt zudem ein Footballfeld, andere Plätze für Tennis, Basketball und weiß der Geier was." Die Frau machte eine kurze Pause. Dass sie die ganze Zeit so förmlich geredet hatte und beim Sport etwas nachließ, zeigte mir, dass sie nicht viel davon hielt.

„Das Zimmer darf nach zweiundzwanzig Uhr nicht mehr verlassen werden. Die restlichen Hausregeln finden Sie in dieser Mappe. Die Konsequenzen, falls Sie irgendwelche Regeln nicht einhalten sollten, stehen ebenfalls hier drin. Am Wochenende dürfen Sie nur mit Erlaubnis weiter weg fahren. Noch Fragen?" Mein Kopf war jetzt viel zu vollgestopft, um irgendwelche Fragen, die ich sicherlich hatte, aufzugreifen. Das Zimmer darf nach zweiundzwanzig Uhr nicht mehr verlassen werden. Meine Güte, 22 Uhr? Das war nicht ihr Ernst!

„Nein, bis jetzt nicht", lächelte Marleen die Frau an.

„Gut. Den Rest finden Sie wie gesagt in den Mappen. Sollten Sie weitere Fragen haben, begeben Sie sich in das Gebäude der Angestellten, welches das sechste Gebäude ist. Dort können Sie bei jedem Professor klopfen. Der Schulleiter hat auch ein zweites Büro im Hauptgebäude."

Die Frau gab uns die Mappen und ging schließlich nach einem endlangen Monolog. Die Tür knarrte ein wenig hinter ihr, ihre Absätze konnte man noch den Flur entlang hören.

Ich legte meine Mappe in die Schublade des Nachttisches. Mar starrte mich voller Entsetzen an.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so streng zugeht."

„Ich auch nicht", sagte ich. „Zweiundzwanzig Uhr, meine Fresse."

„Naja, was solls." Sie zuckte mit den Achseln.

„Von wegen Partys", lachte ich.

„Hey! Das können wir trotzdem haben, klar?"

„Okay, okay." Wir räumten noch unsere letzten Sachen ein, dann kam schon wieder eine Anweisung aus den Lautsprechern.

„Alle Schülerinnen und Schüler sowie alle Angestellten finden sich bitte im Versammlungsraum ein."

„Auf auf", sagte Mar. Sie holte den Lageplan heraus.

„Das ist erstens sinnlos, weil wir ihn sowieso nicht lesen können, und zweitens unnötig, weil wir einfach der Masse folgen können."

„Stimmt."

Wir folgten also einfach der Masse, die uns in das Hauptgebäude und schließlich zum Versammlungsraum führte. Dort waren unzählige Sitzplätze in verschiedener Höhe und ganz am Ende des Raumes eine große Bühne. Rote Vorhänge und ein Rednerpult schmückten die Bühne, neben dem Rednerpult stand bereits auf beiden Seiten jeweils ein Lehrer und der Schulleiter hatte ebenfalls schon seinen Platz eingenommen. Sein Haar war leicht angegraut, mehr konnte ich von hier nicht erkennen. Marleen und ich setzten uns etwas weiter oben hin, weil unten die meisten Plätze besetzt waren. Die Sitzplätze waren extrem weich und fühlten sich wie Kinositze an. Daran könnte ich mich gewöhnen.

In Gedanken fragte ich mich, ob der Rest des Colleges auch so schön sein würde. Mein Zimmer war richtig gemütlich, und auch die restlichen Gebäude, die ich bis dahin gesehen hatte, waren freundlich und hell gebaut und eingerichtet. Zum ersten Mal konnte ich mich von den schlimmen Gedanken der vorherigen Tage befreien und mich voll und ganz auf das College konzentrieren. Es wird bestimmt eine tolle Zeit.

Eine schiefer, schriller und lauter Ton ließ mich aufschrecken.

„Ich bitte um Aufmerksamkeit", sprach Mister Dunn durch das Mikrofon. Seine Stimme erfüllte den ganzen Raum, und sie wurde durch die Masse im Raum gedämpft.

„Ich heiße Sie alle ganz herzlich auf dem Oak Hill College willkommen. Es freut mich, dass wir auch dieses Jahr wieder sehr viele, neue und frische Schüler im Bunde haben. Ich hoffe, die zugewiesenen Professoren haben Ihnen alles Wichtige mitgeteilt, jedoch wollte ich mich noch einmal persönlich vorstellen." Er setzte eine kleine Pause, da noch ein paar Schüler hinterherkamen und sich schnell setzten.

„Nun ... Da haben wir noch ein paar Nachkömmlinge. Pünktlichkeit ist oberste Priorität, meine Damen und Herren." Herrgott, dachte ich. Vielleicht wird das doch nicht ganz so entspannt, wie Marleen gesagt hatte. Naja – eher ganz sicher.

Er kratzte sich am Kopf. „Wo war ich stehen geblieben ..." Man merkte, dass er schon älter war. „Ach ja. Ich bin Mister Dunn, der Leiter dieses Colleges. Unser College wurde vor über einhundert Jahren erbaut und bietet damit jedem Schüler und jeder Schülerin eine individuelle Förderung. Unsere Mitarbeiter, welche pädagogisch qualifiziert sind, betreuen die Schülerinnen und Schüler in einer angenehmen Lernatmosphäre, weswegen wir einiges von Ihnen verlangen. Dies entnehmen Sie bitte der Einführungsmappe, die Sie von ihrem zugewiesenen Professor erhalten haben." Fast musste ich lachen. Eine angenehme Lernatmosphäre. „Die Schulsprecherwahlen werden in zwei Wochen stattfinden ..."

Ich hörte schon gar nicht mehr zu. Was, wenn wir jetzt unnötig so viel Geld bezahlten und das College so streng und beschissen war? Das wollte ich mir gar nicht ausmalen.

Nach einer Weile war Mister Dunn mit seinem Monolog fertig, dann stellte er die Lehrer neben sich vor.

„Zu meiner linken sehen Sie Miss Franklin. Einige von euch kennen Sie schon sehr wahrscheinlich als Englisch- und Pädagogik-Professorin. Sie wird von nun an die stellvertretende Leiterin unseres Colleges sein." Er machte wieder eine Pause, was wohl alle als Zeichen sahen, zu klatschen. Miss Franklin lächelte.

„Zu meiner rechten begrüße ich einen neuen Professor, ganz frisch aus England. Mister Crichton. Er übernimmt die Stelle von Mister Benson, der uns leider aufgrund seines Alters verlassen musste." Wieder lächelte der Lehrer, wieder klatschte die Menge. Ich hatte langsam echt keine Lust mehr. Das ewige Gelaber ging mir auf die Nerven.

„Den Rest des Tages verbringen Sie bitte damit, sich einzuleben und sich ebenfalls die Gebäude anzuschauen, damit Sie morgen früh keine Probleme haben. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag und viel Erfolg morgen!"

Nach diesen Worten klatschte die Menge zum letzten Mal und schließlich standen alle auf.

„Wollen wir erstmal aufs Zimmer gehen?", fragte ich Marleen mit einer müden Stimme. Die ewigen Monologe hatten mich müde gemacht. Sie nickte, also gingen wir auf unser Zimmer, das wir nach wenigen Umwegen nach zehn Minuten fanden. Die Sonnenstrahlen schienen so herein, dass man sie überall direkt ins Gesicht bekam. Ich setzte mich auf das rechte Bett, das jetzt meins sein sollte, und ließ mich zurückfallen. Ich probierte jeden Winkel aus, um nicht die Sonne ins Gesicht zu bekommen, doch egal wie viele Winkel ich ausprobierte – ich bekam sie immer ins Gesicht.

„Meine Güte, es ist so riesig hier!", begann Mar. „Wie sollen wir uns hier bitte zurechtfinden?"

„Ich habe keine Ahnung. Aber ich kann jetzt verstehen, warum es so teuer war."

„Naja, hoffentlich hat es sich auch gelohnt. Ist ja ziemlich streng hier." Ich setzte mich auf und nickte eifrig. Hoffentlich schafften wir das. Wir mussten ziemlich viel lernen, um mithalten zu können. Immerhin hatte ich meinen Abschluss gerade mal so geschafft – mit dem Mindestdurchschnitt. Ich ließ mich wieder zurückfallen und schloss die Augen. Ich freute mich auf die Zeit, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst.


Ich riss meine Augen auf. Jemand hatte mir Wasser ins Gesicht gespritzt.

„Steh auf, du Schlafmütze", kicherte Marleen und zog mich vom Bett.

„Was ist denn?"

„Zieh dich um, ich hab mich auch umgezogen, weil meine Sachen so verschwitzt waren. Und mach dich frisch. Wir gehen jetzt heiße Kerle auf dem Basketballfeld beobachten."

Ich musste unwillkürlich lachen. Das war so typisch für sie!

„Jetzt mach schon!", drängte sie.

„Jaja." Widerwillig stand ich auf und tapste in das anliegende Badezimmer. Das Licht flackerte ein wenig, bis es den ganzen kleinen Raum erhellte. Ich betrachtete mich im Spiegel. Keine Ahnung, ob es an dem künstlichen, weißen Licht lag oder ob ich einfach wie immer blass war – jedenfalls sah ich aus wie eine Leiche. Ich holte noch schnell ein paar Klamotten aus dem Schrank und zog mich dann an. Ich entschied mich für eine kurze Highwaist-Hose und ein weißes T-Shirt. Dann zog ich noch meine üblichen Sneakers an und band meine Haare erneut zu einem hohen Pferdeschwanz. Bei diesem warmen Wetter störten sie mich. Sie waren viel zu lang. Vielleicht lasse ich sie mir schneiden.

Ich wollte mich nochmal nachschminken, aber Marleen kam mir zuvor.

„Wir haben keine Zeit mehr, Madame! Du siehst heiß genug aus, vergiss die Schminke. Du bist auch so ultrasexy." Sie zwinkerte.

„Total", sagte ich ironisch. „Ich sehe aus wie eine Leiche!"

Sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr, denn sie wusste, dass sie mich nicht aufmuntern konnte. Ich hatte einfach kein Selbstbewusstsein, also gab es auch nichts, das sie hätte aufpushen können.

Schließlich gingen wir auf den Flur und liefen Richtung Basketballfeld.

„Woher weißt du, wo das Feld ist? Du hast den Lageplan gar nicht dabei", stellte ich fest.

Doch ich hatte schon eine Ahnung. Ich grinste.

„Lass mich raten. Du hast mit einem Typen geredet."

Meine beste Freundin kicherte. So kicherte sie jedes Mal, wenn wir davon anfingen.

„Oh ja, natürlich. Während du geschlafen hast, hab ich mal so geschaut, ob die Jungs und Mädchen eigentlich getrennte Gebäude haben." Sie setzte eine dramatische Pause. Langsam hatte ich genug von dämlichen Redepausen.

„Ja und?", fragte ich neugierig. Ich musste gestehen, dass es mich auch interessierte. Zum ersten Mal war Sean nicht hier und ich konnte mich für andere Jungs interessieren.

„Nein, haben sie nicht. Natürlich wohnen nur Junge und Junge und Mädchen und Mädchen zusammen, aber wir haben keine getrennten Gebäude", sagte sie grinsend.

„Das freut mich für dich."

Wir waren nun auf dem Außengelände und näherten uns dem Footballfeld, an dem wir jedoch vorbei liefen. Das Außengelände war wegen den ganzen Sportfeldern bestimmt noch größer als das Gebäude.

„Für dich freut mich das auch. Wir suchen dir einen tollen Kerl aus."

„Aber-‚" fing ich an.

„Nichts aber", unterbrach sie mich lauthals.

„Okay. Was war jetzt eigentlich wegen dem Typ, mit dem du gesprochen hast?"

„Ach, ich bin halt herumgelaufen und dann war da so ein stinknormaler Typ, der mich angehalten hat. Wir haben ein bisschen gequatscht und er hat mich zum Basketballspiel eingeladen. Okay, kein richtiges Spiel, die werfen nur ein paar Körbe undso zum Üben."

Ich musste mich zusammenreißen. Irgendwie war ich eifersüchtig. Kaum war Marleen am College angekommen, sprach sie schon ein Kerl an. Das war immer so. Sie war so attraktiv und hübsch, dass sie jeder ansprach. Und mich? Ich war nur die hässliche beste Freundin des heißen Fegers. Diese Rolle spielte ich schon immer. Aber sie konnte ja nichts dafür, dass sie so hübsch war. So war das nun mal.

„So, da wären wir", verkündete sie und wir setzten uns auf die Tribüne. Es saßen noch Unmengen von anderen Mädchen da, die sich alle an den Typen aufgeilten.

„Genieß die Show."

Also verdrängte ich meine Gedanken und schaute einfach nur den Jungs beim Spielen zu.

Anstatt dem Spiel zu folgen, glotzte ich die ganze Zeit nur mit riesigen Augen. Ich wollte gar nicht wissen, wie dämlich ich dabei aussah. Und dann zogen sie noch ihre T-Shirts aus. Mein Gott, das war besser als jede Romanze oder jeder Actionfilm. Alle waren trainiert.

Sie warfen ihre T-Shirts in die Menge – und – zu meinem Bedauern – flog mir direkt eins ins Gesicht. Es stank nach Schweiß, aber auch nach gutem Männerparfüm. Hmmmm.

Ein Kerl lächelte mir zu. Von ihm war wahrscheinlich das T-Shirt. Ich lächelte zurück, dann spielten sie weiter.

„Ulala", grinste Marleen neben mir und stieß mir in die Rippen.

Ich wurde ein wenig rot. Mich hatte schon lange kein Junge mehr so angelächelt.

Wir schauten uns noch das Spiel bis zum Ende an, bis irgendein Team gewonnen hatte. Natürlich wusste ich nicht, welches Team das war.

Wir gingen wieder auf unser Zimmer, weil wir sowieso nichts mehr zu tun hatten. Das Spiel hatte länger gedauert, als ich dachte. Auf dem Flur trödelten wir noch ein bisschen, weil wir uns die Aushänge zu verschiedenen Nachmittagskursen anschauten und ein wenig mit den Mädchen vom Zimmer gegenüber quatschten.

Erst dann, als wir die Tür geschlossen hatten, fiel mir auf, dass ich noch das T-Shirt in der Hand hatte.

„Oh", sagte ich.

„Was ist?" Marleen schaute auf meine Hand. Sie fing an zu lachen.

„Du hast nicht ernsthaft vergessen, ihm das T-Shirt zurückzugeben?" Sie nahm das T-Shirt in die Hand und betrachtete es.

„Tja, jetzt bist du gezwungen, den Kerl irgendwie aufzusuchen. Ich meine – das ist sein Basketball Trikot. Das ist ihm bestimmt heilig", erklärte Mar.

Ich stemmte die Hände in die Hüften. „Ich weiß weder wie er heißt noch genau wie er aussieht."

„Du meine Güte, das ist Schicksal! Dann kommt er eben auf dich zu. Und solange beglückst du dich mit diesem richtig geilen Männerparfümduft." Lachend warf ich das T-Shirt nach ihr. Geschickt fing sie es auf und roch daran.

„Und Schweiß."

Ein bisschen verschwitzt öffnete ich den Mini-Kühlschrank, der zu meinem Überraschen ein paar (wahrscheinlich kühle) Getränke beinhaltete.

„Auch eins?", fragte ich Mar über die Schulter.

„Oh ja, bitte."

Ich schnappte mir zwei Dosen, die nicht beschriftet waren, und warf Marleen eine zu. Sie fing sie wie das T-Shirt locker auf. Ich hingegen wäre so blöd gewesen und hätte sie fallen lassen.

Der Inhalt der Dose schmeckte nach leckeren Früchten, also trank ich sie auf ex leer, während wir beide uns über das College unterhielten und uns dann dazu entschieden, die restlichen Gebäude anzusehen. Wir liefen zuerst durch das erste Gebäude – das Hauptgebäude war nicht nummeriert – in dem die Klassenräume für alle Sprachen waren. Unter anderem waren Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch und Latein dabei. Hier hatte Marleen mich für Französisch und Englisch eingeschrieben. Sie selbst hatte mit mir Englisch, aber kein Französisch, sondern Spanisch.

Des Weiteren waren die Gebäude immer auf einen Bereich spezialisiert. So hatte das nächste Gebäude den Schwerpunkt auf Naturwissenschaften. Die Gebäude für den Unterricht waren alle miteinander verbunden und hatten unzählige Stockwerke. Das dritte, vierte und fünfte Gebäude war nur für die Schüler. Die restlichen waren für den restlichen Unterricht, die Angestellten und weiß der Geier was.

Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie viele Angestellten es hier geben musste, wenn es so viele Gebäude und Schüler gab. Wahrscheinlich viel zu viele.

Wir schlenderten durch alle Gebäude, sahen uns alle Sportfelder an, Marleen trug sich für Volleyball ein – ich war mir nicht sicher, ob ich sportlich genug war – und vieles mehr. Dann aßen wir etwas in der Cafeteria und gingen schließlich wieder auf unser Zimmer. Ich ging zuerst duschen, putzte meine Zähne und zog mir einen kurzen, weißen Pyjama an. Es war mein Lieblingspyjama, weil er sich so locker und weich auf der Haut anfühlte. Außerdem war er luftig, man sah jedoch nichts durch. Perfekt für das warme Wetter hier. Zum Glück hatte Mom ihn mir eingepackt. Sie kannte mich zu gut, um nicht zu wissen, dass das mein Lieblingspyjama war.

Mom ... Dad ...

Nein. Nicht jetzt. Nicht vor Marleen.

Während sie duschte, setzte ich mich auf mein Bett und grübelte. Ging es Mom und Dad gut? Was war mit den anderen? Wurden sie erwischt?

Ich war wieder den Tränen nahe. Rumsitzen und nichts tun lockte die Trauer an. Das war immer so. Den ganzen Tag verdrängte ich die Gedanken, und abends im Bett regnete alles auf mich herab. Als würde ich überschüttet werden. Aber ich fragte mich, ob ich irgendwann abends nicht weinte, sondern lachte. Ob ich mit schönen Gefühlen überschüttet werden würde. Das vermisste ich. Seit ich mit Sean zusammen war, wurde ich nur noch mit Tränen überschüttet – abgesehen von den ersten Monaten.

Ich hielt die Tränen zurück, weil Marleen umgezogen aus dem Badezimmer kam. Wie schaffte sie es, so stark zu bleiben? Ich hörte sie nie weinen.

Wir legten uns beide hin und knipsten das Licht aus.

Ich fühlte mich erdrückt. Nass von den Tränen. Als wäre alles an mir durchnässt und könnte nicht mehr trocknen.

Doch vielleicht, nur ganz vielleicht, würde jemand kommen, der alle Tränen und alle Traurigkeit, die mich überschüttet hatte, wegwischen.

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