Kapitel 33
33
NATHANS SICHT || Mein Herz blieb beinahe stehen, als ich sie sah. Sie war auf einem Stuhl festgebunden, überall Beulen und rote Flecken, und so viel Blut. So viel Blut. Blut.
Die Officer nahmen Sean fest, während ich zu Amy rannte. Sie hatte Marleen noch ein letztes Mal angelächelt, das hatte ich an ihren Augen gesehen, und dann hatte sie die Augen geschlossen. Marleen schrie auf, als sie Amy am Boden liegen sah.
„AMY!", schrie sie. Das Blut rauschte in meinen Ohren.
Ich kniete mich neben sie. Scheiße scheiße scheiße scheiße. Sei nicht tot. Sei nicht tot.
Mit zittrigen Händen zog ich mir die Weste aus, um mein T-Shirt auszuziehen.
Schnell riss ich einen Fetzen ab und versuchte, die Blutung zu stoppen. Ein jämmerlicher Versuch. Sie hatte schon so viel Blut verloren ...
„Scheiße, scheiße, scheiße!", schrie ich. Sie darf nicht tot sein. Sie darf nicht tot sein.
„Oh Gott, wach auf, wach auf", wisperte ich leise. „Es tut mir so leid, wach auf, bitte!"
Gerade als ich fragen wollte, wo der beschissene Krankenwagen blieb, stürmten zwei Sanitäter rein. Hastig band ich das Seil und die Kabelbinder ab.
„Aus dem Weg!", sagte der bärtige Mann zu mir und hob mit der Frau Amy auf die Liege.
Mir strömten, genau wie Marleen, heiße Tränen über die Wangen. Dieser Dreckskerl. Was hatte er ihr nur angetan? Ich zog meine Weste an und ließ das zerrissene T-Shirt liegen, dann
ging ich auf ihn zu und wollte ihm gerade mit voller Wucht ins Gesicht schlagen, da zogen mich zwei Officer zurück.
„DU ARSCHLOCH! WAS HAST DU IHR ANGETAN!", schrie ich, und er grinste nur.
Ich kochte über vor Wut, aber die Officer zogen mich immer noch an den Armen unsanft zurück. Sean oder wie der Typ gleich hieß wurde von einem Officer nach draußen geführt.
„WENN SIE TOT IST, DANN MACH ICH DICH KALT!", schrie ich ihm hinterher.
Sie konnte aber nicht tot sein, nein. Niemals.
„Anstatt hier herumzuschreien, würde ich Ihnen raten, dem Krankenwagen hinterher zu fahren. Kümmern Sie sich lieber um Ihre Freundin, denn es ist ziemlich ernst", meinte einer der Officer, die mich gerade eben noch zurückgehalten hatten. Ich nickte heftig und zog Marleen, die anscheinend einen Schock hatte, am Arm mit und rannte auf meinen Wagen zu. Der Krankenwagen fuhr gerade los, offenbar hatten sie noch schnell versucht, die Blutungen zu stoppen, bevor sie los fuhren. Die Blutungen ... So viel Blut. Sie hat so viel Blut verloren.
Ich schüttelte den Kopf und startete den Motor. Ich musste mich zusammenreißen, ich musste immerhin fahren. Oh Gott, Nathan, beruhige dich. Beruhige dich. Sie wird es schon schaffen.
„Fahr endlich los!", brüllte Marleen, die endlich aus ihrer Schockstarre erwacht war. Ihre Hände zitterten, und der Versuch, sich zu beruhigen, war genauso erbärmlich wie meiner mit der Blutung.
„JA, VERDAMMT!" Ich drückte auf das Gas und fuhr dem Krankenwagen hinterher.
Die Tränen nahmen mir die Sicht, aber ich wusch sie im Minutentakt weg, um fahren zu können. Ich baue gleich einen Unfall, wenn ich so weiter mache. In letzter Sekunde bremste ich, bevor ich dem Auto vor mir noch hinten drauf fuhr. Meine Hände zitterten so sehr.
Als der Krankenwagen endlich vor dem Krankenhaus anhielt, parkte ich mein Auto irgendwo und stieg aus. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.
„Ich hab den anderen geschrieben", berichtete Marleen mir. Ich nickte nur schwach und rannte zu dem Krankenwagen, aus dem gerade die Liege heraus transportiert wurde.
Marleen und ich folgten der Liege, und während die Sanitäter sie durch die Gänge schoben, rannten wir ihnen hinterher.
Du schaffst das, Amy. Du schaffst das schon. Der Anblick, der mir geboten wurde, ließ alles in mir zerbrechen. Sie sah jetzt schon tot aus. Es kam mir so vor, als wäre der Beatmungsschlauch das einzige, was sie am Leben hielt. So viel Blut.
Abrupt hielten wir an, weil die Sanitäter durch eine große Tür mussten und Marleen und ich nicht mit konnten. Ich blieb wie angewurzelt stehen und schaute noch durch die runden Fenster, bis sie um die Ecke verschwunden waren. Vage bekam ich mit, wie Marleen mich am Arm mitzog und wir uns ein paar Gänge vorher in den Warteraum setzten.
Dort angekommen ließ ich mich auf den Stuhl fallen und stützte den Kopf in die Hände. Es waren kaum Leute da, nur ein etwas älteres Pärchen. Die Frau las eine Zeitschrift. Die hatte vielleicht Nerven. Wenn sie es nicht schafft ...
„Meine letzten Worte zu ihr waren verpiss dich ...", flüsterte ich. Marleen legte ihre Hand auf meinen Rücken.
„Sie wird es schaffen." Man hörte den Zweifel in ihrer Stimme. In diesem Moment hörte man eine ganze Horde von Schritten, die sich dem Warteraum näherten. Wie viel Zeit war denn schon bitte vergangen?
Amys Freunde kamen herein, sie waren zu sechst, und ein paar meiner Jungs. Scott eingeschlossen. Schämt euch dafür, dass nicht alle Jungs gekommen sind.
Die blonde, die sich letztens bei Mason wegen der Party am See eingeschleimt hatte, rannte auf Marleen zu und fiel ihr in die Arme. Wenig später kam auch Tessa dazu. Mit der hatte ich mal ganz kurz am See geredet. Der Rest setzte sich einfach auf die Stühle und erkundigte sich, was passiert war. Marleen und ich versuchten es so darzustellen, dass Amy einfach nur einen verrückten Ex-Freund hatte. Was er ihr alles angetan hatte, ließen wir jedoch nicht aus. Wenn sie nur wüssten. Und wenn Marleen sich heute Abend nicht noch einmal bei mir erkundigt hätte, wo Amy sei, und mir nicht die Geschichte noch einmal eingeprägt hätte, dann hätte ich vielleicht gar nichts getan und sie sterben lassen ... Heilige Maria. Ihr Handy war ausgeschaltet, und Gott sei Dank hatte der Officer das Handy orten können, weil der Akku nicht herausgenommen worden war. Ich wusste gar nicht, dass so etwas ging, und ich wusste auch nicht, was wir sonst hätten tun sollen.
Verpiss dich ... Meine letzten Worte an sie. Ich unterdrückte die Tränen. Während Marleen jetzt von ihren Freunden getröstet wurde, wurde ich von Scott getröstet.
Ich hatte sie zu Unrecht verurteilt. Nachdem Marleen mir alles nochmal genau erklärt hatte, war mir bewusst geworden, dass die beiden keine Schuld trugen. Ich hatte sie verjagt, nur weil ich zu egoistisch gewesen war, um sie anzuhören. Und der Typ, der für den Tod meiner Mutter verantwortlich ist, hat mich noch so dümmlich angegrinst.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Sie musste es schaffen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die taffe, starke, aufmüpfige Amy tot sein sollte ... Nein. Sie würde es schaffen. Garantiert.
Ich atmete tief ein und aus und wartete. Alles war still, abgesehen von dem Pärchen, das sich leiste unterhielt. Die Alte hat Nerven. Liest da eine Zeitschrift. Das Leben einer ihrer Geliebten steht wohl nicht auf dem Spiel.
„Scott, da war so viel Blut", stammelte ich. Obwohl ich leise geredet hatte, hörte man es im ganzen Raum, weil es so ruhig war.
„Sie haben die Blutung bestimmt inzwischen im Griff, okay? Sie wird das schon schaffen. Ich bitte dich, das ist Amy."
Ich musste unter Tränen lachen. Es hörte sich an wie ein gebärendes Tier. Die Luft war voll von unserer Angst. Marleen und ich zitterten wahrscheinlich am meisten, Amys Freunde auch. Und die Hälfte meiner Jungs hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, herzukommen.
„Wo ist eigentlich der Rest?", fragte ich Scott energisch.
„Wir haben sie nicht erreicht. Das heißt nicht, dass Amy ihnen egal ist."
Ich nickte abgehackt und ließ den Kopf wieder hängen. Sie wird es schaffen.
Doch egal wie viel Zuspruch ich von mir selbst und den anderen bekam, alle waren angespannt und hatten Tränen in den Augen. Mein Körper stand in Flammen.
Was, wenn sie es nicht schaffen würde? Was, wenn meine letzten Worte wirklich 'verpiss dich' sein würden? Ich versuchte mir ihr Lächeln einzuprägen, ihren Gesichtsausdruck, als sie hochkonzentriert Sturmhöhe gelesen hatte, und nicht das Bild, auf dem sie blutüberströmt auf dem Boden lag. Aber egal was ich tat – das Bild vor meinen Augen wollte nicht verschwinden. Ich würde so gern etwas kaputt machen. Zum Beispiel Seans Kopf so lange auf Beton schlagen, bis seine Gehirnmasse auf dem ganzen Boden verteilt wäre.
Ich blendete alles aus und erfreute mich an diesem Gedanken. Wenn Amy sterben würde, würde ich ihn höchstpersönlich aus seiner Zelle herausholen und ihn erstechen. Denk nicht so weit! Meine Gedanken erschreckten mich selbst, aber das, was er getan hatte, war tausendmal schlimmer. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was er alles mit ihr angestellt hatte ... So wie sie aussah, waren es wohl vielmehr als nur ein paar Schläge. Ihr schönes Gesicht war so verunstaltet gewesen, und der Blick, der so flehend war ... Sie war mit Tränen überströmt gewesen, man konnte ihr Gesicht fast gar nicht mehr identifizieren. Wie ein Häufchen Elend, wenn nicht schlimmer. Und die Blutflecken, die immer größer wurden ... Ach du Scheiße. Unvermutet sah ich sie wieder vor mir, und das viele Blut wollte einfach nicht verschwinden.
Ich drückte mir die Fäuste in die Augen und schluckte schwer. Ich musste mich verdammt nochmal beruhigen, ansonsten würde ich gleich zusammenbrechen.
„Nate, beruhig dich", flüsterte Scott mir zu, doch dank der Tatsache, dass man nur das Schluchzen der anderen hörte, war es nicht zu überhören.
Ich konnte meine Atmung nicht kontrollieren. Ich hechelte wie ein Tier vor dem Austrocknen und fasste mir an die Brust. Ganz locker, ganz locker. Da Marleen und Scott neben mir saßen, legten beide eine Hand auf meinen Rücken und versuchten, mich zu beruhigen.
„Wie... wie schaffst du es ... so ruhig zu bleiben?", stieß ich an Marleen gewandt atemlos hervor. Denk an Amys Lächeln. Denk an ihr Lächeln. Ich denke daran, wie glücklich sie aussah, als ich ihr gesagt habe, dass ich sie liebe. Und als sie mir gesagt hat, dass sie mich auch liebt.
„Ich habe gelernt, äußerlich keinen Krach zu machen", lächelte Marleen und wusch sich dabei die Tränen weg. „Das hab ich auch immer zu Amy gesagt. Bei mir spielt sich alles innerlich ab."
Mein Herz setzte für einen Moment aus. Das hab ich auch immer zu Amy gesagt. Hab gesagt ... hab gesagt ... hab gesagt ... Nicht sage ... Als wäre sie schon von uns gegangen.
Als die Sicht vor mir erneut verschwamm, merkte Marleen offenbar, was sie da gerade gesagt hatte.
„Ich meine natürlich sage. Das sage ich immer zu ihr ..." Aber in dem Moment wurde sie ihrem Vorsatz, äußerlich keinen Krach zu machen, nicht gerecht, denn sie heulte los, als gerade Ethan durch die Tür des Warteraums kam und sie auf ihn zustürzte.
Er zog sie in seine Arme und beruhigte sie. Die Tatsache, dass ich in diesem Augenblick niemanden hatte, der mich so in den Arm nehmen konnte, schmerzte, denn ausgerechnet diese Person kämpfte gerade um ihr Leben.
Ich war mit Ethan nicht befreundet, aber ich erinnerte mich an den Abend, als Marleen und Amy zu uns gekommen waren, weil erstere Hilfe bei ihren Hausaufgaben benötigt hatte. Da hatte Amy mir etwas in Französisch vorgelesen, und ich hatte ihr nie gesagt, dass das nur ein Vorwand war, weil ich hören wollte, wie sie Französisch redete. Warum habe ich ihr das nie gesagt? Ich hatte behauptet, dass ich keine Ahnung habe, wie man das ausspricht, dabei konnte ich das ganz genau. Ich mochte es nur, wie ihre Stimme auf Französisch klang.
Wenn ich es mir so recht überlegte, war das eine ziemlich peinliche Ausrede und auch die Tatsache, dass ich es mochte, wie sie Französisch redete, war ein bisschen peinlich.
Keine Ahnung, warum. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich sie nicht so richtig leiden, und trotzdem mochte ich den Klang ihrer Stimme ... Nein, Amy lag falsch. Ich war nicht nur krank, seitdem ich mit ihr zusammen war– das war ich schon ab diesem Zeitpunkt.
Meine Atmung wurde wieder regelmäßig und ich beruhigte mich allmählich.
Ich hatte sie jetzt schon zweimal ins Krankenhaus befördert ... Einmal, als ich ihr zeigen wollte, dass sie die Finger von meinem Trikot lassen sollte, und jetzt, weil ich ihr gesagt hatte, dass sie sich verpissen soll ... Hätte ich ihr richtig zugehört, dann hätte ich sie auch nicht weggeschickt und es wäre niemals so weit gekommen, denn dann wäre sie ganz sicher bei mir geblieben und Sean wäre nicht an sie herangekommen ... Beides war überaus kindisch von mir gewesen. Und beide Male hatte ich ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Oh Gott.
Ich versuchte es auszublenden und mich darauf zu konzentrieren, dass sie es garantiert schaffen würde. Inzwischen saß Marleen wieder neben mir, nur dass Ethan sie jetzt auf seinem Schoß fest hielt. Sie saß mit dem Rücken zur Tür, sodass sie ihr Gesicht in seiner Halsbeuge vergraben konnte. Wie sehr wünschte ich, das jetzt auch mit Amy machen zu können.
Eine Stunde verging, und wir saßen alle immer noch angespannt da. Was zur Hölle dauert da so lange? Ich stand kurz auf und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten in das Erdgeschoss, um mir an den Automaten eine Cola zu holen. Scott, der seinen Geldbeutel immer dabei hatte, hatte mir Geld gegeben. Nachdem ich mit wackligen Beinen wieder nach oben fuhr, saß Ky auf meinem Platz, um mit Scott zu reden, also blieb mir nichts anderes übrig, als mich neben Dean alias Lockenkopf zu setzen, weil da vorher Ky gesessen hatte. Und komplett wegsetzen von der Gruppe wollte ich mich auch nicht, und neben das Pärchen, das immer noch seelenruhig eine Zeitschrift las, garantiert nicht. Seufzend ließ ich mich auf den Stuhl plumpsen und trank die Cola bis zur Hälfte leer. Mein Hals, der durch das viele Schluchzen schon trocken war, bekam dadurch endlich mal Flüssigkeit.
Der Lockenkopf räusperte sich und begann ernsthaft, ein Gespräch mit mir zu führen.
„Dir scheint anscheinend viel an ihr zu liegen", stellte er fest. Ne, echt nicht. Ist das jetzt dein Ernst?
„Natürlich liegt mir viel an ihr, du Spast. Ansonsten würde ich hier nicht fast kollabieren, oder?" Der hatte echt Nerven, genau wie die Alte mit ihrer Zeitschrift.
„Sorry", stammelte er. „Ich hab halt nur die ganze Zeit gedacht, dass du es nicht ernst mit ihr meinst." Wenn der nicht gleich die Fresse hält, hämmere ich seinen Kopf auf den Boden. Das wäre ein toller Ersatz für die Szene mit Sean.
„Aber ich hab meine Meinung geändert."
„Ach ja?", sagte ich und hob eine Augenbraue. Was wusste der denn schon?
„Jeder Blinde würde merken, dass du sie liebst."
Ich lächelte – seit Stunden? - und rieb mir übers Gesicht.
„Das tue ich auch", erwiderte ich nur.
„Sie wird es schon schaffen." Ich nickte, aber meine Zweifel konnte mir keiner nehmen. Wenn sie sterben würde, hätte ich außer Dad und Scott niemanden mehr. Keine weibliche Bezugsperson. Okay, zugegeben, mit Mom hatte ich nie wirklich über Liebesprobleme oder so'n Scheiß geredet, aber sie war im Notfall immer für mich da gewesen. Und Amy hatte das Eis in mir gebrochen. Also wer sollte da schon noch sein, der die weiche Seite in mir hervor bringen konnte? Noch jemanden verlieren konnte ich nicht. Nein. Das wäre zu viel.
Auf einmal kam eine Krankenschwester in den Warteraum und fast alle sprangen auf.
Bitte kommen Sie zu uns und nicht zu dem Pärchen. Bitte sagen Sie uns, dass sie durchhält.
Und tatsächlich. Sie kam auf uns zu.
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