Kapitel 31
31
AMYS SICHT || Ich lief jetzt schon gefühlte Stunden durch die Straßen. Nachdem ich mich vollkommen aufgelöst auf einer Bank zusammengekauert hatte und irgendwann aufgewacht war, kam ein Mann vorbei, der mich fragte, was denn los sei. Der kam mir echt viel zu pädophil rüber, weswegen ich weggelaufen war und die Gegend nach einem Stadtplan absuchte.
Meine Füße taten schon weh, ich war schrecklich müde, und am allermeisten tat mir mein Herz weh. Dieser Schmerz war nichts in dem Vergleich zu meinem körperlichen, denn der tat auch echt weh, weil ich auf einer Bank gelegen war. Warum hatte ich mein beschissenes Handy nicht mitgenommen? Wieso hatte ich das bitte im Zimmer liegen lassen, nachdem Sean angerufen hatte? Ich verstand meine Logik selbst nicht. Jedoch spielte das nun auch keine Rolle mehr, genauso wenig wie die Tatsache, dass ich den Weg zum College nicht fand. Sean würde ohnehin die nächsten Tage auftauchen. Erstaunlich, dass ich gar keine Angst hatte. Womöglich lag das daran, dass ich jetzt, wo Nate Bescheid wusste, bereit dafür war.
Es wäre sowieso besser für ihn, wenn Sean mich ... ach, keine Ahnung. Ich erlaubte es meinem Gehirn nicht, jetzt darüber nachzudenken, denn trotz allem wollte ich immer noch den Weg zurück finden. So funktionierte eben der gesunde Menschenverstand.
Der Kopf, der lässt sich leicht beeinflussen. Ich dachte nicht nach in diesem Moment.
Doch das Herz, das kann niemand beeinflussen. Der Schmerz verschwand nicht.
Irgendwann kam ich an einem großen Platz an, wo eine große Uhr stand. Es war bereits halb zehn. Na ganz toll. Wenigstens war hier ganz sicher ein Stadtplan oder Leute, die mir helfen konnten. Ich sprach ein paar Leute an, die allerdings ziemlich unfreundlich waren, da ich offenbar wie eine Leiche aussah. Konnte ich auch keinem übel nehmen.
Endlich fand ich einen großen Stadtplan. Als wäre er mein Fels in der Brandung, rannte ich darauf zu und musste eine Weile suchen, bis ich ein kleines Quadrat fand, auf dem Oak Hill College stand. Dem Himmel sei Dank. Ich ließ den Zeigefinger auf dem Quadrat, dann suchte ich die Straße, in der ich mich gerade befand. So weit war es gar nicht mehr. Noch ungefähr eine halbe Stunde laufen, schätzte ich. Ich versuchte, mir die Straßen einzuprägen, die zum College führten, was nicht sonderlich gut klappte. Eine Passantin, die wenigstens mal freundlich war, gab mir einen Zettel und einen Stift,um den Weg zu skizzieren. Ich bedankte mich, als wäre sie Gott höchstpersönlich, schließlich gab ich ihr den Stift zurück und machte mich auf den Weg. Meine Füße spürte ich schon gar nicht mehr.
Völlig außer Atem und mit einem schmerzenden Körper tauchte das College vor mir auf. Heilige Maria, gepriesen seist du!
In dem Rückspiegel eines Autos betrachtete ich mich kurz. Ach du Scheiße. Ich sah aus, als hätte ich mich eine Woche nicht geduscht. Meine Haare waren derart zerzaust, dass sie strohig wirkten, und meine Augen waren geschwollen, als hätte ich Heroin genommen.
Meine Haare standen zudem in alle Richtungen ab und klebten mir im Gesicht. Hastig versuchte ich, ein paar Strähnen aus meinem Gesicht zustreifen und lief weiter zum dritten Gebäude. Gerade als ich nach rechts abbiegen wollte, kam von links Nathan um die Ecke. Er tippte auf seinem Handy herum. Er war so weit hinten, dass ich nicht erkennen konnte, ob er genauso schlimm aussah wie ich, aber dass er es war, sah man sofort.
Er blickte kurz auf, seine Augen weiteten sich, als er mich bemerkte. Lag bestimmt daran, dass ich so schlimm aussah.
Oh Gott. Das konnte ich mir nicht antun. Ich senkte schnell den Kopf und lief mit schnellen Schritten nach rechts. Erst als ich um die Ecke bog, verlangsamte ich mein Tempo.
Aus der Puste lehnte ich mich gegen meine Zimmertür. Erst nachdem ich tief ein und aus geatmet hatte, bemerkte ich Marleen, die hektisch hin und her lief und gerade telefonierte.
„ICH HAB KEINE AHNUNG, WO SIE IST!", brüllte sie in den Hörer.
Ich lief auf sie zu. Abrupt fuhr sie herum, ihre Augen weiteten sich.
„Sie ist da, oh Scheiße, sie ist da. Bis dann", sagte sie und legte auf. Das Handy landete auf dem Bett, und sie fiel mir um den Hals.
„Ich hab mir solche Sorgen gemacht!", schluchzte sie und erdrückte mich fast.
„Wo bist du nur hingegangen?"
„Ich bin ... nicht so wichtig. Jetzt bin ich ja da. Warum bist du nicht in deinem Kurs?"
„Weil ich das ganze Gelände nach dir abgesucht habe und du weg warst, da interessieren mich meine Kurse ganz bestimmt nicht!"
Ich lächelte.
„Und jetzt geh du erstmal duschen, du siehst schlimm aus."
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich stieg in die Dusche, wusch mir die Pandaaugen weg und pflegte mein zerzaustes Haar. Ich kam mir vor,als ob der Sturm in meinem Inneren auf mein Äußeres übertragen wurde. Diesmal ließ ich es nicht zu, dass ich hier in der Dusche völlig fertig auf den Boden rutschte, sondern trocknete mich sofort ab und zog mich an.
Die Hälfte meiner Kurse hatte ich jetzt ohnehin schon verpasst, also würde ich einfach nach der Mittagspause wieder in den Unterricht gehen ...
Marleen saß auf dem Bett und hatte auf mich gewartet.
„Du kannst wieder in deine Kurse gehen, das ist dir schon klar oder?", sagte ich zu ihr. Sie zuckte mit den Schultern.
„Es sind jetzt sowieso nur noch ein paar Stunden, das bringt nichts mehr. Ich bleibe bei dir", erwiderte meine beste Freundin, woraufhin ich breit lächelte und mich zu ihr aufs Bett setzte. Sie legte den Arm um mich, ich legte den Kopf auf ihre Schulter. Wir saßen an der Wand.
„Es tut mir so leid mit Nathan", flüsterte sie irgendwann. Gequält schloss ich die Augen.
„Es lässt sich ohnehin nicht mehr retten."
„Vielleicht doch." Wie bitte?
„Was meinst du?", fragte ich neugierig.
„Naja, ich war heute Morgen bei ihm, als ich dich gesucht hab ... und sein Blick ist weich geworden, als ich erwähnt habe, dass ich dich nicht finden kann. Und wenn er die ganze Geschichte kennt, dann bin ich mir sicher, dass er dir verzeiht, weil wir nichts dafür konnten."
Ich hatte zwar nicht abgedrückt, doch trotzdem kam ich mir schuldig vor.
„Das bringt aber nichts. Sean wird demnächst hier sein", murmelte ich.
„Und das nimmst du so leicht hin? Wir werden uns von Sean nicht unterkriegen lassen!"
„Vielleicht ist es besser so ..."
„Bist du verrückt?", rief Marleen empört. „Ist es nicht! Glaub mir, ich werde Nathan die ganze Geschichte erzählen und dann wird er uns helfen. Also bitte, der hat zu hundert Prozent mindestens einen Anwalt in seiner Familie."
„Du bist doch bekloppt, Mar. Ich bettle ganz sicher nicht um einen Anwalt, der uns da rausholen soll, selbst wenn das mit Nathan wieder hinhauen würde. Die Gefahr, dass Nathan auch etwas zustößt, ist zu groß."
Sie blieb still. „Und außerdem wird er uns gar nicht zuhören. Also Nate."
„Okay", wisperte sie. Aber ich war nicht blöd. Ich wusste, dass sie nicht aufgeben würde.
Nur war ich jetzt zu ausgelaubt, um sie aufzuhalten. Auch wenn ich es versuchen würde, würde es nichts bringen. Sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf.
Erschöpft von dem langen Fußweg und den Rückenschmerzen schlief ich auf Mars Schulter ein.
Mein Wecker, den Mar mir anscheinend gestellt hatte, damit ich wach wurde, klingelte zur Mittagspause. Genervt rappelte ich mich auf und schaute mich nochmal im Spiegel an, bevor ich mich meinen Freunden gegenüberstellte. Sie sollten nichts mitbekommen, obwohl das nicht gerade leicht war, wenn Nathan mich am Tisch ignorieren würde. Warum musste die Mannschaft auch in letzter Zeit die ganze Zeit bei uns sitzen?
Seufzend machte ich mich auf den Weg zur Cafeteria. Meine Füße waren gar nicht mehr zu spüren. Ich lud mir ordentlich viel Essen auf das Tablett, dann setzte ich mich an den Tisch. Nathan saß irgendwie schräg gegenüber von mir und redete gerade mit Connor.
Er beachtete mich gar nicht, warum sollte er auch?
Ich saß neben Dean, der mich breit anlächelte.
„Hey", sagte er und deutete auf mein Essen. „Du scheinst aber großen Hunger zu haben."
Ich lachte und nickte. „Ja, hab ich."
Ich nahm ein paar Bissen von meinem Essen und versuchte, mich aus den Gesprächen rauszuhalten. Wenn ich anfangen würde, ernsthaft zu sprechen, würde ich wahrscheinlich in Tränen ausbrechen.
Irgendwann tippte Mia mich an. „Ist irgendetwas mit dir?", fragte sie leise.
Wie gerne würde ich ihr die Wahrheit erzählen ... am College war sie wirklich meine beste Freundin geworden, abgesehen von Marleen, die natürlich schon vor dem College meine beste Freundin war.
„Alles in Ordnung", lächelte ich. Gott, wie peinlich. Meine Stimme klang so mickrig.
„Ist irgendetwas mit Nathan passiert? Habt ihr euch gestritten?"
In diesem Moment sah ich zu Nathan, der mich gerade auch anschaute. Ich war mir nicht sicher, ob er traurig oder wütend aussah, also schaute ich schnell wieder zu Mia.
„Ähm ..."
„Lass uns woanders reden", verkündete sie, als sie sah, dass ich eben noch Nathan angesehen hatte. Trotz allem sah man, dass er schrecklich litt, und ich konnte nicht mit ansehen, dass ausgerechnet ich – seine Freundin (besser gesagt Ex-Freundin) – dafür verantwortlich war.
Schmollend ließ ich mein kaum angerührtes Essen stehen und folgte Mia nach draußen. Wir setzten uns unter den Baum.
„Magst du darüber reden?", fragte sie und setzte sich im Schneidersitz gegenüber von mir.
„Nein, nicht wirklich ... Wir sind eben einfach nicht mehr ... zusammen."
„Oh", war alles, was aus ihrem Mund kam. „Hat er dich etwa betrogen?" Mir war klar, dass sie damit zuerst kommen würde.
„Natürlich nicht. Ich bin daran schuld, ja? Aber ich möchte nicht darüber reden, bitte", erwiderte ich. Mir kamen schon wieder die Tränen.
„Okay ... Wenn du darüber reden möchtest oder so, sag mir einfach Bescheid. Ich bin für dich da. Ich lass dich dann mal alleine."
Ich nickte und dankte ihr noch, dann ging sie wieder rein.
Ich wartete darauf, dass Nathan mir zum Baum folgen würde, wie er es immer getan hatte, aber er kam natürlich nicht. Auch am nächsten Tag kam er nicht. Auch am darauffolgenden. Und alles war ohne ihn nur noch Routine. Fast jeden Tag hatten wir irgendetwas anderes zusammen gemacht, und jetzt saß ich nach dem Unterricht und den Hausaufgaben einfach nur auf dem Bett und starrte emotionslos die Decke an. Am zweiten Tag schloss Marleen sich mir an, denn wir hatten keine Lust mehr, irgendetwas zu machen, weil wir wussten, dass Sean bestimmt spätestens am Freitag da sein würde. Warum kündigte er sich überhaupt indirekt an? Wahrscheinlich machte es ihm Spaß, zu sehen, dass ich trotz seiner Ankündigung nichts tun konnte. Ich wartete praktisch nur noch auf Seans Ankommen, mehr nicht.
Der Schmerz wurde von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Es waren nur drei Tage vergangen, und trotzdem fühlte ich mich seltsamerweise einsam. Ich vermisste ihn neben mir, wie ich in seinem T-Shirt und in seinen Armen geschlafen hatte. Ich hatte zwar noch ein T-Shirt und die Snapback, aber ich kam mir lächerlich vor, wenn ich es anziehen würde, also zog ich nur mal ganz kurz die Snapback auf, die ich allerdings sofort wieder auf den Schreibtisch legte, weil mich die Schuldgefühle plagten.
Am ersten Tag war es noch einigermaßen erträglich gewesen. Der Tag, an dem Mia mit unter den Baum gekommen war. Ich vertrieb mir die Zeit damit, indem ich einfach irgendein Buch aus der Bibliothek las. Ich war kurz davor gewesen, Sturmhöhe aus dem Regal zu ziehen. Es war viel zu neu gewesen, es hatte nicht diesen alten Touch von Nathalies Buch. Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit der Bitch und dem Schnuckelchen weiter ging, aber das hatte mich zu stark an ihn erinnert. Ich erinnerte mich an unser Gespräch auf dem Balkon, als ich ihm erzählt hatte, was für eine Bitch Catherine doch sei und als er mich gestoppt hatte, weil ich angefangen hatte, von Heathcliff zu reden. Also nahm ich irgendeinen unnötigen Roman aus der heutigen Zeit, der mich schon nach zehn Minuten langweilte. Allerdings brauchte ich Ablenkung. Ein Buch über irgend belangloses Zeug – das hatte rein gar nichts mit meinem realen Leben zu tun, also war es perfekt.
Am zweiten Tag hatte ich das Gefühl, dass Sean kommen würde, aber er kam nicht. Ich war mir sicher, dass er nach dem Anruf wieder ein paar Tage warten würde, damit ich unvorbereitet war. Dieser Tag war der Schlimmste gewesen, denn Nathan beachtete mich kein Stück. Selbst am Tisch vermisste ich es, wie wir uns vor der Zeit als Paar angegrinst hatten.
Wer hätte da gedacht, dass wir jemals so weit kommen würden? Ich hätte ihm am liebsten gedankt, dass er unseren Freunden nichts davon erzählte, aber das wäre lächerlich gewesen. Außerdem machte er den Eindruck, dass er nicht mehr mit mir reden wollte, was ich auch vollkommen verstehen konnte. Ich wunderte mich, dass er es überhaupt an einem Tisch mit mir aushielt. Wenn es umgekehrt passiert wäre, hätte ich das College gewechselt.
Mittlerweile hatten auch unsere Freunde bemerkt, dass wir anscheinend nicht mehr zusammen waren, was aber Gott sei Dank niemand mehr kommentierte. Nur Dean hatte mich kurz darauf angesprochen.
„Was ist denn bei euch passiert, wenn ich fragen darf?", hatte er gefragt. Am liebsten hätte ich hochgeschaut, um zu sehen, ob Nate rüber schaute, aber mein Blick war schon die ganzen Tage dauerhaft auf den Boden gerichtet. Ich sagte ihm, dass es nicht so wichtig wäre, und er beließ es auch zum Glück dabei. Der Rest war so schlau und merkte das, also fragte er gar nicht nach ...
Immer wenn ich für den Bruchteil einer Sekunde hoch sah, schien Nathan genauso abwesend wie ich. Er stocherte traurig (oder wütend?) in seinem Essen herum und redete mit keinem.
Ich hatte das eiskalte Arschloch dazu gebracht, mich zu lieben, ich hatte ihn verändert, ich hatte ihm Gefühle entlockt, und jetzt hatte ich ihm das Herz gebrochen.
Nicht nur das Herz. Ich hatte ihn in Fetzen gerissen. Vielleicht, wenn Sean da wäre, würde das Karma zuschlagen und er würde mich auch in Fetzen reißen, nur nicht seelisch, sondern körperlich.
Am dritten Tag saß ich schweigend am Tisch. Gerade gab es das Abendessen, und es war ein Wunder, dass fast alle mal wieder zusammen zum Abendessen anwesend waren.
Alle plauderten, aber ich hielt mich wieder zurück. Keine Ahnung, seit wann ich das letzte Mal bis dahin geredet hatte. Auch in den Kursen wurde ich immer wieder an Nathan erinnert. Im Literaturkurs begannen wir damit, einen alten Klassiker zu lesen. Es war zwar nicht Sturmhöhe, aber ich musste trotzdem daran denken, weil ich erst durch Nathans beziehungsweise Nathalies Bibliothek zuhause auf Klassiker aufmerksam wurde.
Ich wollte immer noch wissen, wie es bei Sturmhöhe weiter ging. Und vor allem sehnte ich mich nach ihm. Alles zusammen konnte ich demnach nicht aufhören an ihn zu denken, weil ich ständig damit konfrontiert wurde.
Nun saßen wir also alle am Tisch und aßen zu Abend. Irgendwie war es seltsam am Abend in der Cafeteria zu essen. Meistens war es so gewesen, dass ich es verpasst hatte. Fast alle waren jedoch heute Abend anwesend.
Ich biss zum aller ersten Mal seit den letzten drei Tagen richtig in mein Essen hinein.
Es schmeckte köstlich, weswegen ich es sehr schnell zur Hälfte verspeiste. Die letzten Tage war ich zu unmotiviert gewesen, um etwas Gescheites zu essen.
„Sieh mal einer an, die Maus ist aus ihrem Loch gekommen", ärgerte Dean mich und lachte.
Ich piekste ihm in die Seite. „Sei ruhig."
Er grinste noch breiter, während er mir die Haare verwuschelte.
„Fang nicht wieder damit an!"
„Du weißt doch, das ist mein Erkennungszeichen. Und ich hab's schon lang nicht mehr gemacht."
Kopfschüttelnd biss ich ein weiteres Mal in meinen Burger, bis ich auf einmal sah, dass Nathan mit hochrotem Kopf aufstand und davon eilte. Sein Stuhl fiel klappernd zu Boden.
Ein paar am Tisch schauten ihm noch hinterher, aber ich tat einfach so, als hätte ich nichts bemerkt. Denn ich wusste genau, warum er weggegangen war.
Seufzend aß ich leer und verabschiedete mich anschließend von meinen Freunden. Mar und ich gingen auf unser Zimmer. Während sie duschen war, holte ich schon mal die Mathesachen heraus. Wir mussten noch ein paar Extraaufgaben machen, für die es heute Mittag nicht mehr gereicht hatte. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie der Lehrer mich ein paar mal aufgerufen hatte. Und da Mar dann die Antwort auch nicht gewusst hatte, wurden ihr auch Extraaufgaben aufgebrummt. Man konnte es ja auch übertreiben.
Als Marleen aus der Dusche kam, redeten wir nicht und bearbeiteten einfach diese scheiß Aufgaben. Was sollten wir auch sonst tun?
Nach einiger Zeit nahm sie das Gespräch auf.
„Ich finde, du solltest mit ihm reden", murmelte sie. Wir mussten schon gar nicht mehr den Namen nennen.
Ich seufzte nur. Sie kapierte es einfach nicht.
„Warum sollte ich das? Ich hab keinen Anlass mehr, um mit ihm zu reden."
„Doch. Gib ihm diese teure Snapback wieder", entgegnete sie.
„Das wollte ich ohnehin schon tun, aber wie gesagt: Er redet ja nicht mit mir. Und warum bist du so scharf darauf, dass ich mit ihm rede?"
Ich konnte es ihm natürlich nicht übel nehmen, dass er nicht mit mir redete, aber weh tat es trotzdem. Nicht nur das nicht reden ...
„Weil ihr glücklich zusammen wart."
Mein Herz machte einen Satz, gleichzeitig schmerzte es aber auch. Es waren nur drei Tage, und trotzdem fühlte ich mich so leer ohne ihn. Gott, reiß dich mal zusammen. Daran musst du dich gewöhnen, das wird jetzt immer so sein.
„Okay, ich gebe ihm die Snapback zurück, mehr nicht. Das kommt zwar richtig armselig rüber, aber egal", seufzte ich und stand auf, um die Snapback vom Schreibtisch zu nehmen.
„Viel Glück", lächelte sie und streckte den Daumen nach oben. Ich schenkte ihr ein gezwungenes Lächeln, denn ich hatte nicht vor, mit ihm zu reden. Vielleicht doch. Keine Ahnung. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen.
Mit zitternden Beinen und einem klopfendem Herzen blieb ich vor seiner Tür stehen.
Vielleicht war er ja auch gar nicht da, was ich allerdings bezweifelte.
Wir hatten drei Tage nicht gesprochen. Drei verdammte Tage, und alles, was ich jetzt sagen sollte, sollte „Hier ist deine Snapback" sein oder wie? Nein. Drei Tage ohne ein einziges Wort von ihm waren die Hölle gewesen. Wahrscheinlich würde man jetzt behaupten „Mein Gott, ihr seid 18 und 19, da währt die Liebe nicht ewig", doch der Schmerz, den ich ihm zugefügt hatte – dieser währte ewig. Ich war am Tod seiner Mutter beteiligt gewesen ... oder schuldig. Wie oft hatte ich das jetzt schon in Gedanken ausgesprochen? Ich wollte es gar nicht wissen.
Ich schloss die Augen, und dann klopfte ich. Es dauerte eine Weile, bis die Tür aufging.
Scott machte auf.
„Amy?", fragte er verwundert. „Ich äh ... Ich lass euch mal alleine."
Er lief mit einem mitfühlendem Lächeln an mir vorbei. Ich stand wie angewurzelt vor der halb offenen Tür, bis mir Nathan auf dem linken Bett auffiel. Er saß da, den Kopf in die Hände gestützt. Verlegen trat ich ein und schloss die Tür. Erst jetzt sah er auf.
„Was willst du hier?", fragte er energisch.
„I-Ich... Ich wollte dir die Snapback ... zurückgeben", flüsterte ich zu leise. Das war wirklich eine armselige Ausrede.
„Leg sie einfach da auf den Nachttisch." Ich nickte abgehackt und legte sie dort hin.
Und was jetzt? Soll ich einen Versuch wagen?
Ich wollte gerade wieder zur Tür raus gehen, da fuhr ich herum. Ich musste es versuchen.
„Können wir bitte reden?", platzte es aus mir heraus. Mein Herzschlag hatte sich binnen Sekunden um das zehnfache beschleunigt.
Nathan schien nachzudenken. „Dann rede eben. Aber spar dir dein es tut mir leid."
Okay, jetzt musste ich die richtigen Worte wählen.
„Also ... Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll ..." Jetzt schau mich verdammt nochmal an und starr nicht auf den Boden!
„Es war so. Marleen hatte uns vorher auf diesem College eingeschrieben, ich wusste nichts davon. Sie hatte das alles schon geplant. In der Nacht des ... Raubs plante sie, abzuhauen. Wir wollten das eigentlich gar nicht machen, aber wir wollten auch nicht wissen, was Sean mit uns gemacht hätte, wenn wir nicht mitgemacht hätten. Wir hatten nur sinnlose Posten, also wir mussten nur äh ... Wache schieben." Gott, wie dämlich war ich bitte? Nur sinnlose Posten. Schnell weiter reden!
„Jedenfalls hat Sean uns indirekt alle gezwungen. Weißt du, er hatte noch nie viel Geld undso, und mich konnte er mit Geld auch nicht bestechen, weil er wusste, dass meine Eltern alles verwalten und überwachen. Als Marleen und ich dann einen Schuss gehört haben und dann auch noch die Alarmanlagen, sind wir zu ihrem Auto gerannt."
Ich musste erstmal Luft holen. Dass er immer noch den Boden anstarrte und keine Regung außer geballten Fäuste zeigte, brachte mich um.
„Ich weiß, das klingt jetzt total geschwollen, aber bitte lass mich ausreden", sagte ich. Meine Stimme brach, weil ich schon wieder anfing zu weinen. Es war wie eine Routine, jeden Tag zu weinen.
„Es tut mir so unglaublich leid, was mit deiner Mutter passiert ist. Nachdem Mar und ich abgehauen waren, hatte ich unglaubliche Schuldgefühle, glaub mir. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung dafür ist, und wenn ich gewusst hätte, dass es deine Mutter war ... Also wir haben nicht abgedrückt. Ich weiß, dass ich trotzdem auch daran schuld bin, okay? Aber ich wollte es nicht. Ich wollte niemals, dass es so weit kommt. Dass eine unschuldige Frau getötet wird."
Die Tränen flossen wieder unaufhaltsam. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte es einfach nicht. Das kam so rüber, als würde ich nur Mitleid haben wollen.
Er blieb still, aber irgendwann schaute er endlich hoch.
„Du hast es mir die ganze Zeit verschwiegen", sagte er ein wenig lauter. Wenigstens schrie er nicht. Ich hatte solchen Respekt vor ihm, dass er so gelassen blieb. Nicht einmal das hatte ich verdient.
„Ich weiß. Ich hatte Angst vor deiner Reaktion."
„Du hattest Angst vor meiner Reaktion?!", schrie er jetzt doch. „Verdammt, und das ist ein Grund, mich die ganze Zeit anzulügen? Verstehst du es nicht? Ich habe dich in ihr Haus mit genommen!"
Es brachte nichts. Es war unmöglich, denn er hatte ja recht.
Ich senkte den Kopf. „Tut mir Leid, ich gehe ...", wisperte ich.
„Hör auf, dich die ganze Zeit zu entschuldigen! Da du dich für jeden Scheiß entschuldigst, ist diese Entschuldigung nichts wert! UND JETZT VERPISS DICH!"
Ich erschrak durch seinen lauten Ton und wich einen Schritt zurück. „Okay ..."
Hastig wusch ich mir die Tränen weg und verschwand aus dem Zimmer. Ich hätte es wissen sollen. Warum sollte er mir auch verzeihen? Ich würde es auch nicht tun. Kein normaler Mensch würde so etwas verzeihen, auch wenn ich dazu gezwungen wurde und nicht abgedrückt hatte. Diesmal hatte ich mein Handy zum Glück mitgenommen, denn ich war mir irgendwie sicher gewesen, dass es wieder zu solch einer Situation kommen und ich rennen würde.
Ich geh ein bisschen frische Luft schnappen, mach dir keine Sorgen, schrieb ich daher an Marleen.
________________________
1k reads, danke! ♥
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top