Kapitel 3
3
Hätte ich die Jalousinen runtergemacht, wäre ich nicht durch die Sonnenstrahlen geweckt worden. Sie schienen in mein Gesicht, sodass ich durch meine geschlossenen Augen eine rötliche Farbe wahrnahm. Langsam öffnete ich meine Augen, schloss sie aber sofort wieder, da ich nichts sehen konnte. Heiliges Kanonenohr, wie hell schien hier denn bitte die Sonne?
Schlaftrunken stand ich auf und zog mir den Bademantel über. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon halb zwölf am Morgen war. Meine Güte, wie viele Stunden habe ich geschlafen? Und warum hatte mich keiner geweckt? Wacklig auf den Beinen lief ich in Richtung Marleens Zimmer.
Noch bevor ich klopfen konnte, hörte ich Stimmen aus dem Zimmer. Abrupt blieb ich stehen und knallte fast mit der Nase gegen die Tür.
Sollte ich gehen und warten, bis sie fertig waren oder zuhören?
Ich entschied mich für die erste Variante, doch dann waren die Stimmen unnormal laut und ich konnte es nicht mehr verhindern, zuzuhören.
„Jetzt sag mir die Wahrheit!", brüllte eine weibliche Stimme. Es konnte unmöglich Marleens sein, dafür war sie viel zu tief, also war es hundertprozentig Doreen.
„Meine Fresse, das ist die Wahrheit!" Die Stimme meiner besten Freundin.
Worüber stritten die beiden? Über das Thema von gestern Abend, das Mar mir erzählt hatte?
„Und du schwörst mir, dass du nichts damit zu tun hast?"
„Ja!", sagte Mar deutlich genervt.
Da ich keine Stimmen mehr hörte, dachte ich, dass Doreen bald rauskommen würde, also klopfte ich schnell. Die Tür ging auf und sie stand vor mir, ihr perfektes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.
„Oh, guten Morgen, Amy", sagte sie freundlich. „Besser gesagt guten Mittag." Ihre eben noch wutentbrannte Stimme war verblasst. Ich fragte mich, wie sie das von der einen auf die anderen Sekunde bloß machte.
Ich lachte. „Ich wollte eigentlich gar nicht so lange schlafen. Dürfte ich durch?"
„Oh, natürlich". Sie ließ mich durch, schaute vorher nochmal Marleen an und ging dann nach draußen.
„Scheiße, scheiße, scheiße!", flüsterte Marleen. Sie fuhr sich durch die Haare und lief im Raum umher. Das machte sie immer, wenn sie nervös war.
Mir fiel jetzt erst auf, dass sie starke Augenringe hatte, einen Jogginganzug anhatte und ihre Haare ungekämmt waren. Und trotzdem sah sie toll aus. Darum beneidete ich sie. Egal ob mit Pickeln, ungeschminkt oder mit irgendwelchen Assiklamotten - sie sah immer gut aus. Ihre schwarzen, leichten Locken, die sie zu einem Knoten, der aussah, als würde man ihn in 1000 Jahren nicht wieder aufbekommen, zusammenband, gingen normalerweise bis zu ihren Schultern. Ihre Augen waren die ihrer Tante sehr ähnlich. Jeder normale Mensch würde erkennen, dass die beiden verwandt waren. Auch ihre Nase war eine kleine Stupsnase und ihre vollen Lippen machten ihr Gesicht noch weicher.
„Was ist los?", fragte ich nach zehn Jahren.
„Sie hat mich gefragt, ob wir beziehungsweise ich was mit dem Überfall zu tun haben."
„Ach du Scheiße", flüsterte ich. Oh Gott. Ihre Tante war schlau. „Sie..."
„Klug, Oh ja." Ihre Stimme zitterte.
Sie nahm mich in den Arm und weinte auf den - höchstwahrscheinlich megateuren - Bademantel.
„Hey, ist ja gut." Ich versuchte sie zu beruhigen, bevor Doreen oder sonst wer noch irgendetwas mitbekam.
„Es tut mir so leid, dass ich dich in diese Lage gebracht habe. Wenn du dich stellen willst, dann stell dich, okay? Aber ich hab Angst davor. Bitte erzähl denen nichts von mir." Sie klang so verzweifelt, dass ich schon fast mitweinen musste. „Bist du bescheuert? Wenn ich mich stellen würde und du dich nicht, würde ich denen doch nichts von dir erzählen! Zugegeben wäre es schwierig, aber natürlich nicht. Ich werde mich aber nicht stellen, okay? Versprochen. Wir werden das schaffen. Am Montag geht es los. Einen Neuanfang, einverstanden?" Ich glaubte mir selbst fast kein Wort von dem, was ich zum Schluss sagte. Wir werden das schaffen. Natürlich würden wir es nicht schaffen. Natürlich würde die Polizei uns irgendwann finden.
Sie wischte sich ihre Tränen weg. „Okay."
„Wollen wir jetzt die Bücher holen gehen?"
„Willst du nicht erst etwas essen?", fragte sie.
„Ich esse einfach irgendwann in der Stadt. Ich gehe noch schnell duschen, wir treffen uns in einer halben Stunde unten, ja?" Ich wischte ihr nochmal ein paar Tränen weg. „Ja. Zieh dich ruhig etwas freizügiger an, draußen ist es viel wärmer als Zuhause", grinste sie. Ich lief wieder in mein Zimmer und schnappte mir ein paar dünne Leggings und ein stinknormales T-Shirt aus der Tasche. Auf die Farbe der Unterwäsche achtete ich erst recht nicht. Dann suchte ich das Badezimmer, das ich dank der Wegbeschreibung von Mar gestern fand. Ich klopfte, um zu sehen, dass keiner drin war. „Herein!", hörte ich die Stimmen der Zwillinge.
„Oh, hallo."
„Hallo", lächelten sie. Sie saßen in der Badewanne und spielten mit Entchen. Zuckersüß.
„Habt ihr vielleicht noch ein anderes Badezimmer? Ich wollte duschen gehen."
„Ja, direkt neben Marli ist eins. Da kannst du duschen gehen", entgegnete Judy.
„Dankeschön!" Ich schloss die Tür und lief zum fünfzigsten Mal den langen Flur entlang. Endlich, nach gefühlten Stunden, stand ich vor der Tür. Auch hier klopfte ich, allerdings hörte ich keine Stimme. Langsam öffnete ich die Tür, ich sah niemanden durch den Spalt, also ging ich rein und schloss die Tür von innen ab. Wie nicht anders zu erwarten, war das Badezimmer der reinste Traum, doch ich wollte mich damit jetzt nicht beschäftigen. Ich wäre liebend gerne in die locker zehn Meter große Badewanne mit den Dingern von einem Whirlpool gehüpft, aber es musste schnell gehen. Also zog ich mich in Windeseile aus und sprang in die Dusche. Schnell machte ich das Wasser an und rieb mich mit Shampoo und Duschgel ein. Ich brauchte nur zehn Minuten, um mich zu duschen, dann war ich auch schon fertig und trat aus der Dusche. Anschließend trocknete ich mich ab, zog mich an und kämmte mit einem da liegenden roten Kamm meine Haare. Es war ja hoffentlich nicht so schlimm, einen Kamm von ihnen zu benutzen.
Da meine Haare so dick und lang waren, dauerte es ewig, bis ich sie durchgekämmt hatte. Am Ende sahen sie für meine Verhältnisse doch dann ganz in Ordnung aus. Ich war ein bisschen blass und wollte ein wenig Puder auftragen, aber da ich weder Schminke dabei hatte noch welche hier einfach benutzen wollte, ließ ich es bleiben. Während ich wieder in mein Zimmer ging und das Badezimmer einigermaßen sauber gemacht hatte, schaute ich auf meine Handyuhr. Es war 11:50 Uhr. Ich hatte noch zehn Minuten, lief trotzdem schon nach unten und gesellte mich zu Doreen und Rodrick.
„Guten Mittag, Schlafmütze", kicherte Rodrick.
Ich kicherte ebenfalls. „Mittag."
Es war komisch, mittags zuhause zu sitzen und keine Nachrichten auf meinem Handy zu bekommen. Ich kam mir vor, als hätte ich mein erstes Handy bekommen und noch keine Nummern eingespeichert. Normalerweise war ich regelrecht süchtig nach diesem Scheißteil und simste den ganzen Tag.
„Gefällt es dir hier?", fragte Rodrick plötzlich.
„Ja, danke", lächelte ich zuckersüß. „Meine Matratze ist unendlich weich, ich habe noch nie so gut geschlafen!"
Die beiden lachten. „Wir haben so ein prunkvolles Haus und du sagst, dir gefällt die Matratze?"
Ich stimmte in das Lachen mit ein. „Gewissermaßen, ja."
„Willst du etwas essen?", wechselte Doreen das Thema. Sie lächelte mich an, mir gingen aber die Schreie von vorhin nicht aus dem Kopf. Sie wird es herausfinden. Sie wird es herausfinden.
„Amy?"
„Oh, tut mir Leid", sagte ich.„Ich war in Gedanken versunken. Ich will aber nichts essen, danke. Ich esse später etwas in der Stadt." Da fiel mir ein, wie ich etwas essen wollte, wenn ich kein Geld dabei hatte. „Ich muss noch kurz ein bisschen Geld holen, entschuldigt mich." Ich kam mir so förmlich vor. Entschuldigt mich. Herr im Himmel.
Ich rannte die Treppen nach oben in mein Zimmer, das ich schon suchen musste, weil mir das große Bild der Großeltern erst wieder im Nachhinein einfiel. Ich kramte mehrere Scheine heraus und steckte sie mir in die Hosentasche. Mar hatte wahrscheinlich einen Geldbeutel dabei, also konnte sie mein Geld einstecken. Ich lief wieder nach unten. Als ich im Wohnzimmer ankam, stand Marleen schon bereit. Sie hatte eine große Shoppingtasche dabei. Und sah, wie nicht anders zu erwarten, großartig aus im Gegensatz zu mir. Ihre Haare hatte sie jetzt zu einem Zopf gemacht. Sie trug ein weißes T-Shirt, hellblaue Sneakers und eine dunkelblaue Hose. Ich fragte mich, wie sie es immer wieder schaffte, so gut auszusehen, während ich nebendran aussah wie ein Pudel.
„Fertig?", fragte sie. Ich nickte. Wir liefen in die Richtung der fetten Tür, da stand plötzlich Hoskins. Er hielt uns die Tür auf.
„Nicht erschrecken", kicherte Marleen. Ich fragte mich, was sie wohl meinte, und fuchtelte panisch mit den Händen herum.
„Meine Güte, ich meinte die Temperatur!" Ich hörte, wie Hoskins lachte und die Tür schloss.
Erst jetzt fiel es mir auf, wie warm es war. Nicht mal gestern bei der Ankunft war mir das aufgefallen. Es war nicht sehr heiß, aber im Gegensatz zu zuhause viel wärmer. Ich schätzte 26 Grad.
„Und? Nicht gerade heiß, aber viel wärmer als zuhause oder?" Ich grinste.
„Dann lass uns mal shoppen gehen!" Und das taten wir. Zuerst besorgten wir uns unsere Bücher, weshalb wir nicht viel an Klamotten kauften, weil die Bücher so schwer waren. Trotzdem war es ein typischer wenn Mädchen shoppen gehen Tag. Ich bezahlte Mar ein paar Dinge, immerhin hatte ich es ihr zu verdanken (ich wusste immer noch nicht, ob ich es jetzt komplett positiv oder negativ sehen sollte), dass wir auf ein College gehen würden. Dann kaufte ich einen großen Rosenstrauß für Rodrick und Doreen und Spielzeugbarbies für die Zwillinge, als kleines Dankeschön dafür, dass ich dort wohnen durfte. Im Nachhinein fiel mir ein, dass es total bekloppt war, den Zwillingen Barbies zu schenken, da sie mit reichen Eltern ohnehin schon alles hatten, was sie wollten. Deswegen suchte ich in der Spielzeugabteilung nach etwas Spektakulärerem.
Der Nachmittag zog sich nur so dahin. Irgendwann setzten wir uns in einer Pizzeria an einen Tisch. Unsere Tüten nahmen unnormal viel Platz weg.
„Was kann ich Ihnen bringen?", fragte der Kellner.
„Ich nehme eine Käsepizza, danke", entgegnete ich mit leerem und hungrigen Magen.
„Ich auch", sagte Marleen.
„Kommt noch etwas dazu?"
„Ähm..." Ich überlegte. „Zwei Colas, bitte." Der Keller nickte und entfernte sich wieder.
„Ach du Lieber, meine Arme tun schon weh vom Tütentragen! Ich glaube ich rufe Hoskins an, damit er uns abholen soll."
„Was für ein Service!", antwortete ich Marleen. „Ich glaube, wir bleiben einfach hier und gehen nicht auf das College. Das perfekte Luxusleben, ohne Sorgen!" Marleen, die gerade in ihren Tüten rumgefuchtelt hatte, schaute mich mit großen Augen an. Ich senkte meinen Blick. Wir dachten das Gleiche. Bevor sie etwas antworten konnte, kam der Kellner wieder und brachte uns die Cola.
„Danke", krächzten wir mit rauer Stimme hervor. Er zwinkerte uns, besser gesagt Mar, zu.
„Der hat uns voll süß zugezwinkert!", kicherte sie. Ich spielte mit dem Strohhalm in meiner Cola. „Wohl eher dir, meinst du." Ich versuchte, normal zu klingen, aber das war wohl nichts. Ich scheiterte natürlich.
„Lass den Kopf nicht hängen Süße, du findest schon jemanden, der nicht vorhat, dich zu schlagen."
Aus irgendeinem Grund musste ich lachen, so wie sie redete.
„Nein ernsthaft. Auf dem College gibt es genug heiße Kerle, mit denen du dein Leben genießen kannst. Alles, was dein Herz begehrt. Es gibt einfach alles. Pinke Haare, tattoowiert, normale Jungs, Bad Boys, die ich, wie du weißt, bevorzuge, weil sie unwiderstehlich sind...-"
„Du bist verrückt", lachte ich. „Suchst dir immer Bad Boys raus und am Ende liegst du wieder heulend auf der Couch."
Sie spielte ebenfalls mit ihrem Strohhalm. „Tja, damit muss ich wohl leben, wenn ich mich immer wieder auf sie einlasse. Aber hallo, was soll ich denn dagegen tun? Ich bin unwiderruflich süchtig nach gutem Sex, und diese Sorte ist eben ultraheiß und gut im Bett." Sie saugte provozierend an ihrem Strohhalm. Wenn man Mar nicht kannte und nur so etwas hörte, würde man sie als Schlampe bezeichnen, doch das war sie nicht. Okay, sie hatte zwar mit ein paar Kerlen hin und wieder Sex, aber so viele waren es nun auch nicht. Meistens war es so, dass sie sich in jemanden verliebte und sie sich dann mit anderen Kerlen ablenkte. Sie wurde nur so kalt wie Eis, weil sie so oft verletzt wurde. Irgendwie konnte ich sie auch verstehen. In dieser Sache kam ich schon lange nicht mehr an meine beste Freundin heran.
„Diesen Blick kenne ich", tadelte sie plötzlich mit mir. „Ich weiß genau, was du denkst."
Sollte ich es nicht noch einmal versuchen? Ich öffnete den Mund, aber sie unterbrach mich.
„Ich weiß, was du sagen willst. Dass ich eine Schlampe bin, weil ich mit so vielen Kerlen vögle. Und weißt du was, wenn ich das, was ich so erzähle, von einem anderen Mädchen hören würde, würde ich auch sagen, dass sie eine Schlampe ist. Also was spricht dagegen, dass ich keine Schlampe bin? Ich bin eine." Sie hielt ihren Blick auf das Glas gerichtet und spielte immer noch mit ihrem Strohhalm. Ich war mir sicher, dass sie fast weinte.
„Du bist keine Schlampe. Du wurdest oft verletzt."
„Das kann doch aber nicht immer die Ausrede sein!"
Ich gab ihr zu erkennen, dass sie ruhig sein soll, denn gerade kam der Kellner mit den Pizzen auf uns zu. Er stellte sie vor uns ab, und sie sahen einfach köstlich aus. Mir lief schon das Wasser im Mund zusammen. „Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?", fragte er mit strahlendem Lächeln in Richtung Marleen. „Nein", blaffte sie ihn an. Der Kerl schaute verdattert, entfernte sich dann aber schnellstmöglich.
„Wieso beißt du nicht an? Der ist doch heiß." Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie aufmuntern sollte. Hatte sie nicht irgendwie Recht mit ihrer Aussage? Nein, natürlich nicht!
„Geht so", antwortete sie nur mit leiser Stimme. Ich entschied mich dafür, nichts mehr zu sagen. Es war auch besser so. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf die köstliche Käsepizza und verschlang sie im Nu. Ich fragte mich, wie wohl das Essen auf dem College sein würde. Hoffentlich genauso typisches Essen.
Das Bimmeln von Marleens Handy ließ mich aufsehen.
„Ja?", sagte sie ins Handy. „Im Einkaufszentrum, die Lieblingspizzeria von Doreen ... Ja ... Okay, ähm ..." Sie schaute kurz auf ihre Handyuhr. „Eine Viertelstunde, ist das okay? ... Gut, bis gleich."
Sie legte auf. „Das war Rodrick, wir sollen Judy und Amélie noch einen dämlichen neuen Film mitbringen. Hoskins holt uns in einer Viertelstunde vor dem Südeingang ab."
Ich nickte. „Willst du deine Pizza nicht mehr?", fragte sie mit sabberndem Mund.
„Nein," kicherte ich. „Du kannst sie essen."
Sie lachte, anschließend nahm sie meinen Teller, schob ihren leeren zu mir und aß den Rest meiner Käsepizza. Es war nicht allzu viel übrig, also war sie schnell fertig.
„So, jetzt müssen wir uns aber beeilen, wenn wir noch den Film holen wollen." Sie winkte den Kellner zu sich, der, so wie es aussah, dachte, dass er wegen etwas anderes kommen sollte. Ich musste mir ein Lachen verkneifen, als er seinen Charme einsetzte und Mar nur sagte, dass wir bezahlen wollten. Ich bezahlte alles und dann gingen wir in Richtung Süden.
Irgendwie kam es mir so vor, als sähen die Menschen hier viel glücklicher aus als zuhause. An jeder Ecke lachte jemand, man hörte von allen Seiten murmelnde Stimmen. Zuhause hörte man immer nur die Geräusche des Gedränges, die alles übertönten. Abgesehen von den Ereignissen sah Mar auch viel glücklicher aus, viel frischer und lebendiger. Wahrscheinlich freute sie sich auf das College.
„Ach, da ist ja der Laden. Komm." Wir betraten den Laden.
„Ich suche den Film für die Kinder. Du kannst ja schauen, ob du einen für uns heute Abend findest."
„Okay", lächelte ich. „Welche Richtung?"
„Mir vollkommen egal." Da verschwand sie schon in Richtung Kinderfilme. Ich lachte, während sie die Filme durchforstete, als würde sie wirklich einen Film für sich suchen. Ich lief zu den Horrorfilmen, weil diese am nächsten waren und ich überhaupt nicht wusste, wo ich sonst gucken sollte. Ich ging die ganzen langen Gänge entlang, fand aber keinen Film, der mich interessierte.
Seufzend lief ich einen Gang nochmal ganz langsam entlang und versuchte so viele Titel wie möglich zu lesen. Da rammte mich auf einmal von hinten irgendjemand.
„Man, kannst du nicht aufpassen!" Ich drehte mich um. Mein Herz setzte aus.
„Tut mir Leid. Kannst du keinen Film finden?", fragte Sean lachend. Zumindest glaubte ich, dass es Sean war. Ach du Scheiße. Er hatte die gleichen Gesichtszüge, die gleichen dunklen Augen.
„Ähm ... nein." Er lachte noch einmal und griff über meinen Kopf hinweg einen Film heraus.
„Hier, der ist gut." Dann ging er wieder. Ich schaute dem Mann noch hinterher, bis er aus dem Laden war, dann holte ich wieder Luft. Oh mein Gott. Konnte das möglich sein? Nein, auf keinen Fall. Dann hätte er mich doch erkannt. Ich las mir schnell den Film durch, und musste zugeben, dass er wirklich gut war. Also ging ich noch schweratmend zur Kasse und kaufte ihn. Mar kam mit dem Kinderfilm hinterher. „Meine Güte, du siehst aus, als hätte dir jemand aufs Hemd gekotzt. Was ist passiert?", fragte sie, als wir zum Südeingang liefen.
„Ich schwöre dir, da war ein Kerl, der genau aussah wie Sean." Sie blieb stehen.
„Nein, das ist unmöglich", sagte sie. „Oder?" Ich blickte sie an, ohne zu wissen, was ich sagen sollte. War es wirklich möglich, dass er uns nach so kurzer Zeit gefunden hatte?
Ich schaute mich um, in der Hoffnung, dass ich ihn nochmal sehen würde. Tatsächlich: Da vorne an der Frittenbude stand er. „Da ist er!", sagte ich mit zitternder Stimme. Mar folgte meinem Blick.
„Gott, Amy, das ist nicht dein Ernst!" Sie lachte lauthals. „Das ist doch nicht Sean!"
„Schon klar, dann hätte er mich ja erkannt, aber sieh doch mal. Der sieht ihm total ähnlich!"
Sie lachte immer noch. „Krieg dich wieder ein. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht schon, aber... Okay, nur die Augen und die Haare vielleicht. Du hast Paranoia."
Ich wollte ihr widersprechen, doch sie hatte recht. Ich hatte Paranoia. Noch bevor ich mich wieder sammeln konnte, sah ich Hoskins vor uns parken. Das Auto glänze bis auf den letzten Millimeter.
Er stieg aus und hielt uns die Tür auf. Irgendwie peinlich... Schnell stieg ich ein, nachdem ich Hoskins die Tüten gab, der sie dann im Kofferraum verstaute. Das Auto war zwar angenehm kühl, aber ich fragte mich, wie Hoskins den ganzen Tag in solch einem Anzug rumlaufen konnte. Mein Puls hatte sich immer noch nicht normalisiert, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Das konnte unmöglich Sean sein. Woher sollte er wissen, dass wir hier sind? Und er hätte mich doch dann erkannt... aber trotzdem! Er sah ihm so ähnlich! Gerade als ich mir klar machte, dass Sean nicht hier war, lief der Typ an unserem Auto vorbei. Die hinteren Scheiben waren getönt, doch er starrte trotzdem in mein Gesicht. Oder einfach nur auf das Auto? Meine Güte, reg dich ab Sanchez! Ich atmete tief durch und schaute dem Typ hinterher, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Das gab mir ein wenig Sicherheitsgefühl. Nur waren wir in Wirklichkeit keineswegs sicher. Die Polizei - oder Sean - oder sonst wer - konnte jede Minute aufkreuzen, nichtsdestotrotz war es Marleen vermutlich egal oder verdrängte sie es einfach den ganzen Tag? Ich hatte keinen blassen Schimmer. Mir war es zumindest nicht egal. Ich hatte jede Sekunde Angst, dass irgendwer etwas herausfand.
Doch wenn ich auf das College wollte, musste ich mich zusammenreißen, auch wenn es schwer war. Also verdrängte ich die Gedanken, darin war ich ziemlich gut, und genoss die Aussicht, während wir nachhause fuhren. Die Sonne ging schon langsam unter, so lange waren wir unterwegs. Egal wie oft ich Sonnenuntergänge sah, ich fand sie immer wieder wunderschön. Und romantisch. Vielleicht würde ich ja die Chance bekommen, einen mit jemanden anzusehen. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln.
„Was ist so komisch?", fragte Marleen mit einer gerunzelten Stirn.
„Nichts", schmunzelte ich erneut. „Egal."
Sie verdrehte die Augen. Das war immer so bei ihr. Sie wollte unbedingt wissen, woran ich dachte, jedoch sagte ich es ihr nie. Ich hatte immer meine eigene Welt - neben der realen natürlich. Und genau deswegen bemerkte ich nicht, dass wir schon längst da waren.
„Jetzt steig endlich aus, du dumme Nuss!", hörte ich Mar lachen. Ich stieg aus, wollte Hoskins helfen, allerdings ließ er sich, wie zu erwarten, nicht helfen. Nur den Blumenstrauß gab er mir. Deswegen folgte ich meiner besten Freundin nach drinnen. Erst jetzt fiel mir auf, dass das mit dem Blumenstrauß genauso peinlich war wie die Idee mit den Barbies. Sie hatten doch schon alles Mögliche. Trotzdem übergab ich nach Mars Überredenskünste den beiden den Blumenstrauß.
„Vielen Dank", lächelte Doreen. Rodrick war nicht da. Die Zwillinge jedoch waren da und rannten Mar fast um.
„Meine Fresse, rammt mich nicht so!", fluchte sie. Die Zwillinge lachten, und ich musste mich zurückhalten, damit ich nicht mitlachte. Ihr süßes Lachen war so ansteckend.
„Hast du den Film dabei?", fragten sie neugierig und zerrten an ihrem T-Shirt.
„Ja, den hat Hoskins. Amy hat auch etwas Kleines für euch, also bedankt euch bei ihr."
Herrgott, sofort wurde ich rot. Jetzt umarmten die beiden mich und freuten sich und wussten nicht, dass es nur eine dämliche Barbie war.
Gerade in diesem Moment kam Hoskins herein. Er trug tonnenweise Tüten, doch draußen war der Kofferraum immer noch offen und voll mit anderen Tüten.
„Du meinte Güte, wie viel habt ihr denn gekauft?" Doreen schüttelte grinsend den Kopf.
„So viel ist es nicht mal! Durch die schweren Bücher konnten wir nicht so viele Klamotten kaufen!", argumentierte Mar. Sie grinste ebenfalls. Hoskins brachte die Tüten nach oben. An der Treppe oben blieb er kurz stehen. „Wohin die ganzen Tüten?", fragte er freundlich.
„Alles in mein Zimmer, wir sortieren es selbst." Mar zeigte nach links.
„Danke!", rief ich ihm noch schnell hinterher. Er lächelte mich an. Für mich war es ungewohnt, Personal zu haben, also bedankte ich mich.
„Wir haben schon zu Mittag gegessen, wollt ihr noch etwas?" Doreen deutete mit ihrem Kopf in die Küche.
Ich winkte es ab. „Nein, aber danke. Wir haben eine Pizza gegessen."
„Oh, ihr wart bestimmt in meiner Lieblingspizzeria!" Sie grinste und ließ ihre Augenbrauen hoch und runter hüpfen.
„Was denkst du denn wo sonst", feixte Marleen. „Es ist nicht nur deine Lieblingspizzeria. Auch meine." Die beiden stritten sich lachend darum, wer die Pizzeria wohl besser kannte, wobei ich von den Zwillingen auf das Sofa geschickt wurde.
„Was gibt's denn?"
„Wir wollten danke sagen", kicherten beide. „Für die Barbies." Noch ehe ich sagen konnte, dass es doch nur eine Barbie war, umarmten, besser gesagt erdrückten, die beiden mich.
„Wir werden dich vermissen, wenn du auf das College gehst mit Marli", jammerte Amélie.
Es war kaum zu glauben, wie ich innerhalb so weniger Stunden die beiden ins Herz geschlossen hatte. Naja, so schwer war das ja auch bei ihnen nicht.
„Ich euch auch, aber ich komme euch ganz bestimmt besuchen. In den Ferien vielleicht. Auf jeden Fall, wenn ich das Semester fertig habe", erklärte ich fröhlich.
Ihr Lachen überzeugte mich nochmal, dass ich sie auf jeden Fall nochmal besuchen wollte.
Aufgrund der Tatsache, dass ich die Stimmen von Doreen und Marleen, die sich stritten, nicht mehr hörte, stand ich vom Sofa auf und sagte den Kindern, dass ich jetzt mit Marli die Klamotten, die Hoskins in ihr Zimmer gebracht hatte, aussortieren würde, damit ich meine in mein Zimmer tun konnte. Ich lief fröhlich in die Küche und fragte Doreen, wo Marleen sei.
„Sie ist nach oben gegangen, in ihr Zimmer." Also ging ich nach oben und klopfte vor ihrem Zimmer an.
„Ja", rief sie. Ich machte die Tür auf, ging hinein und ließ sie wieder ins Schloss fallen. Überall standen Tüten herum, sodass man schon fast gar nicht mehr erkannte, welche Bettwäsche Marleen auf ihrem Bett hatte.
„Bereit zum Aussortieren?", fragte ich mit einem Honigkuchenpferd-Grinsen.
„Oh ja. Das könnte lange dauern."
Ich schmunzelte. „Dann machen wir uns lieber direkt mal an die Arbeit!" Infolgedessen schnappte ich mir die erste Tüte. Die Klamotten von Mar legten wir auf ihr Bett, meine auf das ausschiebbare Sofa. In der ersten Tüte waren nur neue Sommersachen von mir drin, also warf ich einfach die ganze Tüte auf das Sofa. Dass ich im Zielen bzw. Werfen grottenschlecht war, machte sich deutlich bemerkbar: Ich verfehlte glatt das Sofa und warf die Tüte nebendran auf den Schreibtisch, woraufhin die ganzen kleinen Schreibmaterialien runterfielen. Na super.
Mar hielt inne und krümmte sich vor Lachen. „Wie kann man nur so daneben werfen?!"
„Sei ruhig", schmollte ich ironisch. Ich nahm ein paar ihrer Klamotten in der nächsten Tüte und warf sie nach ihr.
„Nein, wir veranstalten jetzt keine Klamottenschlacht. Ich will heute noch fertig werden!"
Darum schnappte ich mir die Tüte, aus der ich gerade ein paar Teile nach ihr geworfen hatte, und sortierte weiter aus. Wir redeten die nächsten Stunden - ja, wir brauchten ernsthaft mehrere Stunden - nicht miteinander, sondern sortierten schweigend aus. Später hinaus waren wir fertig und mussten alle Klamotten von mir in die Tüten verstauen. Diese brachten wir dann in mein Zimmer. Wir mussten mehrere Runden laufen.
„Ich glaube, es wäre sinnvoll, wenn du einen Koffer nimmst. Naja eher gesagt, du musst einen nehmen", sprach Mar an.
„Ja, stimmt. Ich frage deine Tante gleich mal." Mar verabschiedete sich mit einem Gähnen, sie war zu müde, um den Film zu schauen, und ich ging nach unten und suchte Doreen. Leise schlich ich mich durch die Räume, um sie zu suchen. Draußen war es schon ein wenig dunkel. Leise ging ich in die Küche, da dort Licht brannte. Rodrick saß an der Küchentheke und aß Spaghetti.
„Hallo, Amy", lächelte er. Er hatte wieder Augenringe; und trotzdem sah er gut aus.
„Oh, hallo. Ich suche Doreen. Wissen Sie, wo sie ist?"
„Du", korrigierte er mich. „Sie ist schon schlafen gegangen. Was wolltest du denn?"
„Ich wollte fragen, ob ich vielleicht einen Koffer ausleihen könnte, bis das Semester auf dem College vorbei ist. Meine neuen Klamotten, die ich gekauft habe, passen nicht in meinen kleinen Rucksack."
Er lachte. „Natürlich. Ich sage Hoskins, er soll dir einen vom Dachboden holen. Sonst noch irgendetwas?"
„Nein, nein, vielen Dank", lächelte ich und machte mich wieder auf in Richtung Treppe.
„Amy?", rief Rodrick mir hinterher. Ich kam wieder zurück, weil ich nicht so laut rufen wollte. Vielleicht schliefen die Zwillinge ja schon, wer weiß.
„Setz dich doch." Was ging denn jetzt ab? Verwirrt setzte ich mich gegenüber von ihm auf einen Barhocker und verschränkte die Hände unter der Theke.
„Kann ich dich auch etwas fragen?" Ich nickte. Was wollte er mich wohl fragen?
„Wenn es dir zu persönlich ist, musst du mir auch nicht antworten, allerdings sind wir eine Familie, die immer zusammenhält und immer füreinander da ist. Und ich glaube, dass du auch gerade jemanden brauchst." Ach du Scheiße. Hatte Doreen mit ihm über das, was sie vermutete, geredet und setzte ihn jetzt darauf an, mit mir zu reden, da Marleen alles abstritt? Ich hoffte nicht. In solchen Dingen war ich eine grauenhafte Lügnerin. Und das merkte man mir immer an: Ich wurde dann rot, schwitzte gelegentlich und fuchtelte mit meinen Händen herum.
„Ähm ... na klar. Fragen Sie, äh, frag einfach", stotterte ich nervös.
„Also, das ist dir jetzt vielleicht ein bisschen unangenehm, mir ehrlich gesagt auch, doch ich habe dich öfters weinen gehört ... Ich würde ja jetzt fragen, ob alles in Ordnung ist, aber die Frage ist ja vollkommen absurd, denn natürlich ist nicht alles okay, wenn du so oft geweint hast."
Okay, das war jetzt wirklich peinlich, trotzdem war es gut, dass er das andere Thema nicht ansprach. Mir wurde ein bisschen leichter ums Herz.
„Willst du mir erzählen, was los ist? Vielleicht tut es dir gut, das Herz auszuschütten. Ich verstehe es trotzdem, wenn du nicht willst. Wir kennen uns ja kaum. Dennoch solltest du wissen, dass ich bzw. wir dir gerne zuhören."
Gott, ich schämte mich in diesem Moment so sehr. Sie waren so lieb zu mir, sie ließen mich in diesem tollen Haus wohnen, ohne, dass sie irgendetwas zurückverlangten, sie nahmen mich wie ihr eigenes Kind auf, sie hörten mir zu - wie ihrem eigenen Kind. Und ich? Ich belog sie. Ich, wir, hielten vor ihnen geheim, dass die Polizei allem Anschein nach hinter uns her war. Wenn die Polizei zu Doreen und Rodrick kommen würde, würden sie ihnen sagen, dass wir hier waren und wo wir gerade waren? Auf dem College? Wir konnten nicht von zwei weiteren Personen verlangen, dass sie für uns logen. Das wären dann insgesamt sechs.
Ich konnte es nicht verhindern - mir flossen schon wieder die Tränen an meinen Wangen hinunter. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie viel Tränen ich wohl noch in den nächsten Wochen vergießen werde. Entweder, weil ich im Gefängnis war oder weil mich mein schlechtes Gewissen umbrachte. „Hey, nicht weinen ... Du kannst es mir sagen, es bleibt auch alles bei mir", versuchte er mich zu beruhigen. Wenigstens schluchzte ich nicht mehr, sondern es flossen einfach nur Wassertröpfchen. „Wenn du möchtest", betonte er noch einmal. Okay, ich musste ihm irgendetwas sagen, wenn er schon so liebevoll zu mir war. Ich entschied mich also für die halbe Wahrheit: „Ich habe großen Schaden angerichtet ... Und es frisst mich auf, weil ich weiß, dass ich es nie wieder gut machen kann." Meine Stimme zitterte, weil ich mich bemühte, das Schluchzen zu unterdrücken. Das sollte keinen Verdacht schöpfen ...
„Amy, jeder macht mal Fehl-"
„Nein", unterbrach ich ihn jetzt doch schluchzend. „Das war nicht nur ein Fehler, verstehen Sie?" Ich konnte mir das Sie einfach nicht abgewöhnen. „Es war viel mehr als das. Ich kann es nicht erklären." Er holte tief Luft und trank seinen letzten Schluck von irgendeinem Wein. Irgendwie war das eine lustige Kombination: Spaghetti und Wein.
Anschließend lief er zur Tür. Bevor er die Treppen hochging, wendete er sich noch einmal an mich. Ich hörte zu, drehte mich aber nicht um.
„Du musst noch viel lernen und wirst auch viel auf dem College lernen müssen. Nichtsdestotrotz solltest du nicht vergessen, zu lernen, wie man sich selbst vergibt."
Ich drehte mich um, um seinen Gesichtsausdruck zu sehen. Er marschierte schon die Treppen hoch. Seufzend nahm ich mir ein Glas und füllte es mit Wasser aus dem Wasserhahn. Sofort trank ich es in einem Zug leer. Er hatte recht. Mir selbst zu vergeben - das musste ich noch lernen. Doch würde ich jemals schaffen, genau das zu lernen? Ich wusste es nicht. Ich glaubte nicht daran.
Am nächsten Tag las ich mir, zu meiner eigenen Verwirrung, die Anfangskapitel von ein paar Büchern durch. Ich kollabierte jetzt schon fast bei dem Gedanken, wie viele Kurse ich belegen musste. Marleen konnte mich nicht fragen, welche Kurse ich wollte, da es ja eine Überraschung sein sollte. Zu meiner Erleichterung wusste sie, welche Fächer mir damals in der Schule am meisten lagen, und hat sich daran ein wenig orientiert. Sie hat mich zum Beispiel in Französisch eingetragen. Heiliger Bimbam! Sprachen waren meine Stärke, sonst aber auch nichts. Außerdem hatte ich schon ewig kein Französisch mehr weder gesprochen noch geschrieben! Ich musste also ziemlich viel nachholen, um mithalten zu können ... Ehrlich gesagt hatte ich Angst, dass ich überhaupt gar keine Freizeit mehr haben würde, sondern nur noch pauken müsste. Allerdings konnte ich jetzt nicht mehr kneifen.
Ich überlegte fieberhaft, wie viel der ganze Spaß eigentlich kosten sollte. Ich meine, wenn wir dort ein Jahr wohnten und das mit der ganzen Verpflegung - welcher Mensch konnte sich so etwas leisten? Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht! Ich legte meine Bücher zur Seite und suchte Marleen. Ich lief durchs Haus und fand alle im Garten. Rodrick stand an der Bar und winkte mir zu. Ich winkte zurück und lief zu ihm an die Bar. „Nicht geweint. Du fängst schon an zu lernen", grinste er. Ich setzte ein falsches Grinsen auf und fragte, ob ich einen Drink haben könnte. Er gab mir einen, machte ein süßes Sonnenschirmchen rein und stecke eine Zitrone an den Rand.
„Vielen Dank. Können Sie sogar mixen?" Er tadelte mal wieder, dass ich doch du sagen sollte.
„Naja, drei vier Drinks kann ich auswendig, das war's dann aber auch schon." Erstaunt, wie viel diese Familie hier wohl konnte, nippte ich an dem Drink und hob den Daumen zu ihm nach oben. Er schmeckte köstlich. Doreen kochte ausgezeichnet, Rodrick konnte Drinks mixen - fast wie in einem fünf Sternehotel. Langsam lief ich zu Mar, damit ich bloß keinen wertvollen Tropfen von dem Drink verschüttete. Amélie und Judy spielten mit Doreen im Pool (wenn man dieses Riesending noch als Pool bezeichnen konnte ...).
„Hey, auch endlich mal die Bücher weggelegt?", piesackte sie mich. Ich wollte ihr richtig fest in die Rippen boxen, doch daraus wurde nur ein jämmerlicher Schlag, denn ich wollte nichts verschütten. Meine Zitrone fing ich noch auf, denn die war gerade auf den Weg in Richtung Boden. Schnell drückte ich sie über meinen Mund aus.
„Sehr elegant", lachte sie. Ich streckte ihr die Zunge raus und zog sie ein bisschen weiter weg vom Pool, damit uns niemand hörte, falls ich gleich ausrasten würde.
„Was ist denn?"
„Wie viel kostet das College eigentlich? Ich meine die ganze Verpflegung undso, das muss doch schweineteuer sein!"
„Ähäm ... Ja ..." Ich wusste, dass ich jetzt gleich eine Summe hören würde, die ich nicht hören wollte.
„Spuck es aus", drängte ich teilweise wütend.
„Ich glaube es waren ungefähr ... so an die 50000 pro Jahr oder so ..."
Ach du heilige Scheiße.
„WIE BITTE? Willst du mich eigentlich verarschen?! KEIN MENSCH KANN SICH DAS LEISTEN! Was sagen wir überhaupt unseren Eltern? Die können nicht einfach mal so viel bezahlen!" Sie schob mich hinter das Gartenhäuschen, weil ich zu laut wurde.
„Jetzt beruhig dich, okay? Der saure Zitronensaft war anscheinend nicht gut für dich."
„BERUHIGEN?", schrie ich sie an. „Ich soll mich beruhigen?"
„Hör mal. Deine Mutter hat dir doch einen Haufen Geld mitgegeben, davon wäre schon mal ein wenig bezahlt. Ich hab ein Sparbuch von meinen Großeltern, da sind ungefähr 30000 drauf, weil das von meinen beiden Omas und Opas noch vor meiner Geburt angelegt wurde. Dann hab ich, seit ich 12 bin oder so, ein bisschen gespart, das eigentlich für meinen Führerschein vorgesehen war. Den haben mir dann aber meine Eltern komplett bezahlt. Und ich bekam das alte Auto von Dad. Also hab ich das Geld auch noch, das sind ungefähr 3000.
Neben dem Sparbuch kommt noch das Erbe von einer Oma dazu, das waren glaube ich 15000. Fehlen nur noch 2000. Ich weiß, ich kann mich glücklich schätzen, solche Großeltern wie ich habe."
„Das ist ja alles schön und gut, aber was ist mit mir? Ich erbe nichts und ich habe auch kein Sparbuch!", protestierte ich. Für sie war es einfach, doch meine Großeltern hatten mich nichts erben lassen. Es hatte auch nicht viel gegeben, das sie mir hätten vererben können.
„Zähl erstmal das Geld deiner Mutter, das sind bestimmt 30000 oder so."
„Bist du bescheuert? Das sind nie im Leben 30000!"
„Okay, okay", gab Marleen langsam nach. „Vielleicht 15000 oder so."
„Nicht mal. Das sind bestimmt nur 5000. Also ich meine 5000 sind natürlich schon sehr viel und klar bin ich Mom dankbar, dass sie mir überhaupt so viel mitgegeben hat, aber für das College reicht das nicht. Und meine Eltern können nicht innerhalb von ein paar Wochen 45000 oder irgendetwas in diesem Dreh auftreiben."
„Wir zählen jetzt gleich das Geld, ja? Dann schauen wir, was wir machen können. Meine Tante könnte dir sogar notfalls Geld vorstrecken."
Meine Argumente gingen mir nicht aus. „Ich kann doch nicht deine Tante nach Geld fragen, und dann auch noch so viel! Was geht in deinem Kopf bitteschön vor?"
Wutentbrannt zog sie mich hinter sich her. Doreen und Rodrick schauten uns mit gerunzelter Stirn hinterher. Sie hielt nicht an, auch nicht an der Treppe.
„Aua!", jammerte ich. Ich hatte mir das Knie gestoßen. „Warte doch mal, meine Fresse!"
„Zick nicht rum und komm mit." In meinem vorläufigen Zimmer machte sie halt.
Gespannt mit verschränkten Armen wartete sie, bis ich etwas machte. Sollte ich jetzt die Box mit dem Geld suchen? Ich glaubte schon. Demnach ging ich an mein Bett, hob die Matratze an und kramte die Box heraus.
„Gib her, ich zähle das jetzt." Ich betete, dass es mehr als 5000 sein würden. Das würde einiges leichter machen.
Mar setzte sich auf mein Bett und fing an, leise zu zählen. Währenddessen lief ich im Raum umher und beobachtete die Kinder, die gerade ums Haus rannten.
„Wie lange zählst du denn?", fragte ich genervt. Sie zählte schon seit mehr als zehn Minuten.
Ich setzte mich auf den Boden, beobachtete die Vögel und achtete nicht mehr auf die Zeit. Irgendwann, ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, sagte Marleen, sie sei fertig.
„Und, wie viel?"
Sie schüttelte lachend den Kopf. „Das sind nie im Leben 30000", äffte sie mich nach.
„Das sind höchstens 5000. Herrgott, ich sagte es dir doch! Ich kenne Maggie."
Mein Herz machte einen Satz. „Jetzt sag endlich, wie viel!"
„Maggie ging vom höchsten aus und noch ein bisschen Taschengeld dazu oder so." Sie grinste kurz. „Ich glaube der Durchschnitt eines Stipendiums liegt zwischen 4000 und 30000 oder so. Jedenfalls wollte sie ja, dass du studierst, und dafür hatte sie das Geld angelegt. Also es sind 35000, wenn ich mich nicht getäuscht habe. Und jetzt überleg mal: Du hast schon ein bisschen davon ausgegeben. Sie hatte dir noch mehr mitgegeben." Oh. Mein. Gott. Meine Mom ... 35000 ...
„Jetzt bloß nicht weinen!" Sie nahm mich in den Arm. „Sind das jetzt Freudentränen, Traurigkeitstränen oder beides?"
Ich lachte. „Beides. Sie haben wahrscheinlich schon ihr ganzes Leben dafür gespart ... Ich kann mich so glücklich schätzen, Mar, dass ich solche Eltern habe."
Sie strich mir übers Haar. „Wir können uns beide glücklich schätzen, solche Eltern und Großeltern zu haben, die für uns sorgen." Und wir zerstörten ihren Ruf. Meine Eltern waren angesehene Geschäftsleute, die deswegen nicht viel Zeit für mich hatten. Vielleicht hatten sie deshalb so viel für mich gespart.
„Aber das sah nicht mal nach so viel Geld aus. Die Box ist doch auch total klein, wie passt da alles rein?" Mar zeigte auf den Rucksack.
„In der Box war ganz unten ein Zettel, von wegen das sei nicht alles. Also schaute ich im Rucksack nach, und da war noch einmal eine kleine Tüte."
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie im Rucksack rumgefuchtelt hatte.
„Ich liebe meine Eltern", wisperte ich. Ich hatte solch ein schlechtes Gewissen.
„Ich weiß. Die restlichen 15000 können deine Eltern bestimmt auftreiben. Sie sind Geschäftsleute, also bitte. 50000 wären vielleicht fragwürdig gewesen, aber 15000 gehen ja noch." Ich nickte. Das stimmte.
„Auch wenn du dir von dem Geld zwischendurch was kaufst, das wird schon klappen. Mach dir keine Sorgen. Und jetzt lass uns den Film von gestern ansehen." Gesagt, getan. Wir legten den Film in meinem Zimmer in den DVD Player und aßen dazu Popcorn.
„Bist du nervös, wegen morgen?", fragte ich Mar, als sie Play drückte.
„Ja, total. Wir müssen echt früh aufstehen. Und du?"
Mein Kopf fing an zu schmerzen. „Ja."
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