Kapitel 10

10

Plötzlich riss ich meine Augen auf. Ich war komplett durchnässt, mein Atem ging stoßweise.

Bin ich aufgewacht? Hektisch griff ich nach dem Schalter der Lampe, die neben mir auf dem Nachttisch stand. Das Licht ging an. Ich war aufgewacht. Es war nur ein Traum. Nur ein Albtraum. Schweißgebadet rappelte ich mich auf und ging auf das Bett von Marleen zu.

„Marleen?", sagte ich und rüttelte an ihr. Okay, im Bett lag sie schon mal.

„MARLEEN!"

Sie drehte sich um und öffnete ihre Augen. Kurz glaubte ich, dass ihre Augen immer noch schwarz waren, schrie und wich zurück. Herrgott, bleib auf dem Boden!

„Bist du eigentlich bekloppt? Was ist denn los?", fragte sie noch im Halbschlaf und setzte sich auf. Ich keuchte und fasste mir an die Stirn. Ihr ist nichts passiert. Es geht ihr gut.

„Ein Albtraum?"

Ich nickte und sie setzte sich neben mich auf mein Bett.

„Willst du es mir erzählen?", fragte sie leise und nahm mich in den Arm.

Jetzt schüttelte ich den Kopf. Ich wollte Mom und Dad anrufen. Ich wollte wissen, ob es ihnen gut geht.

„Mar, ich muss Mom und Dad anrufen." Plötzlich wurde ihr Griff lockerer.

„Das geht nicht. Es ist mitten in der Nacht. Und denkst du nicht, dass es noch zu früh ist?"

Ignorant griff ich nach meinem Handy, das auf meinem Tisch lag. Mit zittrigen Händen wählte ich die Nummer.

„Das ist mir egal", murmelte ich und drückte auf den grünen Knopf. Gleich würde ich wieder ihre Stimmen hören. Wie gerne würde ich sie in den Arm nehmen. Aber das musste reichen - für den einen Augenblick. Nach dem siebten Tuten nahm jemand ab. Es war Dads Stimme.

„Was fällt Ihnen -"

„Dad, ich bin es."  Am Ende der Leitung wurde es still.

„Amy?", flüsterte er. „Oh Gott, wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wie geht es dir? Wo bist du? Warte, ich hole deine Mutter!" Noch bevor ich antworten konnte, hörte ich, wie Dad die Treppen hinauf eilte. Es war so schön, seine Stimme zu hören. In meinen Augen glitzerten Tränen. Nun ertönte auch Moms Stimme, die etwas leiser und müde klang, also hatten sie den Lautsprecher an.

„Geht es dir gut?", fragte sie.

„Ja, mir geht es gut. Geht es euch gut?"

„Natürlich."

„Sicher?", hackte ich nochmal nach. Was war, wenn Sean bei ihnen war? Oder die Polizei?

„Ja, sicher. Was ist los, Amy? Warum zum Teufel bist du weggegangen?", hörte ich Dad schimpfen. Ich blieb kurz still. Was sollte ich ihnen sagen?

„Amy?"

„Das kann ich euch nicht sagen. Ist nicht so wichtig." Das war die größte Lüge, die ich meinen Eltern jemals aufgetischt hatte. Ist nicht so wichtig.

Gott, ich schämte mich für mich selbst.

„Wo zum Geier steckst du? Wann kommst du nach Hause?" Die Verzweiflung war deutlich raus zu hören. Sollte ich ihnen sagen, dass ich erst nach einem Semester kurz vorbei schaue? Ich würde es nicht ertragen, ihre Reaktion danach zu hören. Und ich wollte ja selbst nicht erst nach einem halben Jahr zuhause vorbei schauen.

„Bald", sagte ich stattdessen. Vielleicht konnte ich es ja einbauen, an einem Wochenende mal kurz hinzufahren. Das Problem war nur, dass die Fahrt ewig dauerte; aber ich nicht lange bleiben konnte.

„Was bedeutet bald?", fragte Mom.

„Ich weiß es nicht, okay? Sagt einfach jedem, der fragt, dass ich mit Marleen bei ihrer Tante bin und mich dort ein bisschen entspanne, was weiß ich denn. Erzählt niemanden von dem Gespräch. Ihr telefoniert angeblich nie mit mir, weil ich Abstand wollte, okay? Aber es geht mir gut, ich verspreche es euch."

Die beiden atmeten deutlich hörbar ein. „Okay. Wir lieben dich", sagte Dad.

„Ich liebe euch auch", schluchzte ich und legte auf.

Montags darauf klickte ich meinen Wecker bestimmt hundertmal weg. Nach dem Traum und dem Gespräch mit meinen Eltern hatte ich so gut wie keinen Schlaf bekommen, auch in der Nacht von Sonntag auf Montag nicht. Gestern war mein Kater beinahe unerträglich gewesen, aber mittlerweile war es nur noch ein dumpfes Pochen in meinem Hinterkopf.

Müde quälte ich mich aus dem Bett. Auch wenn ich den Wecker ein paar Mal weggedrückt hatte, hatte ich noch genug Zeit. Das Frühstück ging noch eine halbe Stunde.

Gelassen zog ich mich an und packte die Sachen zusammen, die ich heute brauchte.

Marleen folgte mir, als ich mich auf den Weg in die Cafeteria machte. Wir holten uns unser Frühstück ab und setzten uns dann schweigend an einen Tisch.  Ein paar Minuten später tauchten ein paar unserer Freunde auf, darunter auch Dean. Lächelnd setzte er sich neben mich.

„Hey", begrüßte er mich. „Tut mir echt Leid, dass ich am Samstag so dicht war." Ich schmunzelte. Gestern war er den ganzen Tag nicht da gewesen, weswegen er mich jetzt erst darauf ansprach. Offenbar hatte er seine Eltern oder so besucht.

„Schon okay. Du darfst dich so vollaufen lassen wie du willst, da hab ich doch nichts zu melden."

„Ja, schon, aber dann hätte ich noch etwas mitbekommen. Der erste richtige Abend mit meinen kompletten Freunden und ich besoffener Depp habe nichts gecheckt."

Ich lachte und widmete mich wieder meinem leckeren Frühstück. Es war Eier und Speck.

Genüsslich verschlang ich es und ließ meinen Blick zur Essensausgabe schweifen, um Mia zu suchen, die noch nicht da war.

„Weißt du, wo Mia ist?", fragte ich Tessa. Sie war Mias Zimmergenossin.

Sie schaute von ihrem Handy auf. „Sie hat ihre Eltern besucht, ist aber in einem Stau gelandet. Sie kommt deswegen später."

Also musste ich meine erste Biologie Stunde ohne Mia überstehen. Mein Blick war immer noch auf die Essensausgabe gerichtet, als ich plötzlich blau-grüne Augen wahr nahm, die mich wütend anfunkelten. Nathan stand ein paar Meter neben der Essensausgabe und wartete auf seine Freunde, die sich gerade bedienten. Ich funkelte ebenfalls genauso zurück.

Glaub mir, ich hasse dich genauso. Und wenn ich das von Samstag zurückbekomme, wirst du dein blaues Wunder erleben. Dean folgte meinem Blickwinkel. Plötzlich trafen sich Nathans und Deans Blicke und diesem Hass konnte ich nicht mehr entgegen treten. Der Hass, der sich zwischen Nathan und mir durch unsere Anfunklerei zeigte, war nichts im Gegensatz zu diesem. Es schien, als würde Dean Nathan gleich aufschlitzen wollen und umgekehrt genauso.

Okay, man konnte es ja auch übertreiben. Kopfschüttelnd aß ich weiter, während Marleen mich mit gerunzelter Stirn ansah. Prompt kam sie um den Tisch herum.

„Dean, pflanz dich mal auf meinen Platz", sagte sie und schubste ihn weg. Dean setzte sich mit erhobenen Augenbrauen auf ihren Platz und Mar saß nun neben mir.

„Okay, was ist zwischen diesem Nate, wie Ethan ihn nannte, und dir vorgefallen? Der Hass war ja förmlich greifbar." Genervt ließ ich meine Gabel fallen. Kaum wurde man eine Sekunde von ihm genervt, verfolgte das einem das ganze Frühstück lang. Langsam schilderte ich Marleen die Situation, die am Samstag vorgefallen war. Geschockt begaffte sie Nathan, der sich gerade auf einen Stuhl plumpsen ließ. Am Ende der Story hievte sie ganz seelenruhig ihre Tasche über die Schulter.

„Okay, er ist dumm", sagte sie, mehr nicht. Was? Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie losschreien und ihm ein Getränk ins Gesicht schütten würde. Aber offenbar war sie ganz ruhig.

„Ich muss jetzt, wir sehen uns später", sagte sie und war schon auf dem Weg zu ihrer ersten Stunde. Ich sah noch Nathan, der sich gerade mit einer Schlampe beglückte, und ging dann auch zu meinem Bio Saal. Zieh dich warm an, Lambert, mit Marleen Corey ist nicht zu spaßen.

In Biologie musste ich Mister Crichton erstmal eintrichtern, dass es Mia angeblich nicht gut ging und sie deswegen im Bett lag. Er war zwar misstrauisch, kaufte es mir aber zum Glück ab. Fieberhaft schaute ich nach einer halben Stunde heimlich auf mein Handy, ob sie mir vielleicht eine Nachricht hinterlassen hatte. Ich vermutete, dass sie wahrscheinlich erst zur zweiten Stunde oder auch später kommen würde.

Nachdem ich mich in Bio mit meinen total falschen Hausaufgaben ordentlich blamiert und ein paar Stunden hinter mir hatte, hatte ich wieder Französisch bei der Hexe. Ich musste wirklich sagen, dass ich recht gut mit kam und ich merkte schnell, dass es mein bester Kurs war, allerdings hing ich trotz allem immer noch ein wenig hinterher. So kam es, dass ich die Textstelle der Lektüre, die wir in der heutigen Stunde analysieren mussten, überhaupt nicht verstand.  Als die Meisten schon fast einen halben Aufsatz geschrieben hatten, war mein Blatt immer noch leer. Zu meinem Pech bemerkte die Hexe das und sah mich mit verschränkten Armen an. Wenigstens redete sie nicht so laut und auch mal so, dass ich es verstand.

„Miss Sanchez, würden Sie mir freundlicherweise verraten, warum Sie noch kein einziges Wort geschrieben haben?", fragte sie mit ihrem falschen Grinsen.

Ich schaute hoch. Das war echt peinlich, wenn ich sagen musste, dass ich den Text nicht verstand.

„Ich verstehe den Text nicht, tut mir Leid", sagte ich mit puterrotem Gesicht. Gott wie peinlich. Sie schaute sich um und zeigte dann auf einen Jungen, der gerade fleißig am Schreiben war. Sein Haar war rabenschwarz, etliche Tattoos zierten seinen Arm. Heiliger Bimbam.

„Dann gehen Sie doch bitte zu Mister Hunter, der wird Ihnen helfen."

Mit einem aufgesetzten Lächeln nahm ich meine Sachen und setzte mich zu Hunter. Er saß alleine, weswegen sie mich wahrscheinlich zu ihm geschickt hatte.

Urplötzlich stand Miss Claude wieder neben mir und erklärte Hunter die Situation.

„Mister Hunter, ich würde Sie bitten, Miss Sanchez den vorliegenden Text zu erklären", sagte sie und musterte mich mit hochgezogenen Brauen. Spar dir dein Miss, du Hexe.

Er nickte und lächelte mir zu. „Hi", sagte er. Für einen Jungen und sein Aussehen war seine Stimme ungewöhnlich hoch.

„Hi", gab ich kühl zurück.

„Ich bin Mason."

„Amy. Bist du von hier? Du siehst überhaupt nicht aus wie ein Amerikaner", fragte ich neugierig und musterte ihn von der Seite.

„Nein, ich komme aus Spanien." Er lächelte. Der Name passte ja mal gar nicht zu einem Spanier.

„Achso." Endlich kam ich zum eigentlichen Thema zurück. „Also, Mister Hunter, könnten Sie mir eventuell sagen, worum es sich in diesem Text handelt?" Sarkastisch hob ich mein Kinn an und faltete meine Hände. Er musste sich ein Lachen verkneifen, und auch ich hielt  mich zurück, weil ich im Augenwinkel sah, dass die Hexe uns beobachtete. Leise begann er, mir zu berichten, worum es in der Textstelle geht. Immer wenn Miss Claude vorbeikam, redete er flüssig auf Französisch, wenn sie weg war, erklärte er mir das selbe nochmal - allerdings so, dass ich es verstand. Durch seine Hilfe hatte ich am Ende der Stunde immerhin eine Seite zustande gebracht und musste später nicht mehr all so viel machen. Im Übrigen fragte ich mich, warum er mir nicht schon vorher aufgefallen war.

In der Mittagspause bot ich ihm an, bei uns am Tisch zu sitzen, und auch meine anderen Freunde nahmen ihn, genau wie Marleen und mich vor einer Woche, freundlich auf. Mich wunderte es, dass er anscheinend noch keinen Anschluss gefunden hatte, da er eigentlich ganz gut aussah und ziemlich nett war.

Inzwischen war Mia wieder da. „Leute, ich bin so kaputt, das glaubt ihr mir gar nicht. Und jetzt auch noch Sport, ich könnte heulen", beschwerte sie sich. „Oh, wer bist du denn?"

Sie richtete ihren Blick auf Mason und so entstand ein lockeres Gespräch zwischen den beiden. Ich bekam nur Bruchteile mit, aber offenbar erzählte Mason ihr einiges über seine Heimat. Irgendwann stiegen alle in das Gespräch ein, allerdings hielt ich mich ein wenig raus, weil ich dermaßen Hunger hatte. Mia und Mason schienen sich sehr gut zu verstehen, was ich mit einem innerlichen Grinsen bemerkte.

Nachdem Marleen, Mia, ein paar andere Mädchen und ich fertig gegessen hatten, verabschiedeten wir uns von den Jungs und gingen zum Sport. Okay, das würde die Blamage meines Lebens werden. Ich hasste Sport wie die Pest und war nicht sonderlich sportlich. Marleen war total gut in Sport und hatte überhaupt keine Probleme damit.

Erschöpft lief ich auf einen Spint zu und verstaute meine Tasche. Anschließend nahm ich meine Sportsachen heraus und zog mich um. Letzte Woche  konnte ich mich damit retten, dass ich mir angeblich den Fuß verstaucht hatte, allerdings konnte ich dieses Mal keine bescheuerte Ausrede finden. Mir blieb wohl nichts anderes übrig als mitzumachen. Der Stundenplan der Schüler hatte sich noch einmal verschoben, weswegen wir letzten Donnerstag und heute montags Sport hatten.

Seufzend schnürte ich meine Schuhe zu, als ich dröhnendes Gelächter in der Jungenkabine wahrnahm. Ich hörte, wie jemand lauthals fluchte und schaute der Mädchenmenge hinterher, die sich auf den Weg zur Jungenkabine machte. Widerwillig und mit rollenden Augen lief ich der Masse hinterher, weil ich ja einerseits schon wissen wollte, was da abging. Ich hörte nun noch mehr Gelächter, was mich ahnen ließ, dass nun auch die Mädchen lachten. Mühsam quetschte ich mich durch, um etwas zu sehen. Während sich Marleen neben mir nicht mehr kriegte, wusste ich immer noch nicht, was abging. Ich sah nur Nathan, der ohne T-Shirt vor allen stand und versuchte, die Masse wegzulocken. Auf einmal prustete ich wie ein schwangerer Elefant los, was natürlich sofort jeder bemerkte, weil kurz Stille war. Sofort stimmte jeder in das Lachen mit ein. Normalerweise wäre das gar nicht mal so witzig gewesen, aber wenn es um Nathan den Frauenaufreißer ging, war das einfach urkomisch.

Sein Trikot hielt er nun mit der rechten Hand umklammert. Trotzdem erkannte ich, was darauf war. Hinten, neben dem Schriftzug Lambert, stand mit knallrotem Lippenstif Ich liebe dich xoxo und tausende Küsse waren drum herum verteilt. Um seine Nummer herum stand  ,aber du bist meine Nummer eins!'

Ich wusste genau wer das gewesen war.

Nathans zorniger Blick blieb an mir haften, weil ich so laut los geprustet hatte, und zerfleischte mich schon regelrecht. Ich glaubte er dachte, dass ich das war.

Mir fiel gar nicht auf, dass mich manche Mädchen anstarrten, obwohl sie noch mit lachten.

Da fiel es mir plötzlich ein: Ich. Ich war das Mädchen, das dieses Trikot anhatte. Ich war das Mädchen, das damit einen Tag rumgelaufen war. Ich war das Mädchen, von dem alle dachten, dass ich nur wegen diesem scheiß Trikot etwas mit ihm hatte. Und jetzt dachten alle, dass ich das gewesen war. Dass ich das darauf geschmiert hätte. Ach du Scheiße. Was hatte Marleen nur angerichtet?

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