Kapitel 1
1
Die winzigen Sonnenstrahlen, die die Wolken durchbrachen, schienen direkt in mein Gesicht. Automatisch kniff ich die Augen zu und hielt mir die Hand vor das Gesicht, damit ich etwas sehen konnte. Für mein Zuhause war es ziemlich unglaubwürdig, dass die Sonne so unnormal schien, aber Hauptsache es wurde hier wärmer. Ich wartete auf dem Gehweg auf meinen Freund Sean. Er war eigentlich ein ziemlicher Draufgänger, und ich war ziemlich verrückt, dass ich mit so etwas zusammen war, aber das würde sich bald ändern - hoffte ich zumindest. Er war der Anführer unserer Clique - keine Ahnung, wie ich ihn sonst nennen sollte - und ähm... herrisch.
Naja, herrisch war noch untertrieben...
Plötzlich wurde ich von einem Pfiff aus meinen Gedanken gerissen. Ich hob meinen Kopf und sah ihn. Da saß er, in seinem Auto, mit einer Zigarette im Mund, und winkte mich herbei. Ich lief auf die andere Straßenseite, riss die Autotür auf und setzte mich ins Auto.
„Klatsch mal meine Autotür nicht so zu, der Wagen war teuer", schnauzte er. Innerlich verdrehte ich die Augen. Übertreib nicht, dachte ich. Aber ich sagte es nicht. Ich gab ihm einen Kuss, und sein Atem stank unerträglich nach Rauch. Ihgitt.
„Tut mir leid", sagte ich stattdessen. Er schnaubte, sagte aber nichts weiter. Wir fuhren die Straße entlang und bogen am Ende rechts ab. Die kühle Mittagsluft ließ meine Augen tränen, aber ich fragte lieber nicht, ob ich das Fenster zumachen durfte. Nach ungefähr zehn Minuten voller Schweigen nahm er das Gespräch auf.
„Wie war dein Tag?"
„Ganz gut", antwortete ich.
„Hast du die Raumpläne?"
Ich stotterte ein wenig, bis ich antworten konnte. „Äh ... Ja." Irgendwie klang es bescheuert, wenn man bei einer Villa von Raumplänen sprach.
„Gut."
Somit war das Gespräch auch schon beendet. Ich wollte das alles nicht machen, aber was blieb mir schon anderes übrig, als mitzumachen? Vielleicht, besser gesagt ganz bestimmt, werde ich im Knast enden, wenn wir erwischt werden. Das werden wir alle. Doch ich sagte wieder nichts.
„Hör mal...", fing ich an, aber er unterbrach mich.
„Wenn du meinst, dass du nicht mitmachen musst, kannst du gleich die Schnauze halten. Wir sind eine Familie und werden das zusammen machen. Wenn du nicht mitmachst, dann kannst du dich auf etwas gefasst machen." Eine Familie. Meine Freunde in dieser „Clique" waren wirklich wie eine Familie für mich, Sean gehörte meiner Meinung nach nicht mehr zu dieser Familie. Ich wollte mich von ihm trennen, aber wie immer hatte ich Angst davor ...
Was würden meine Eltern dazu sagen, wenn sie wüssten, was wir heute vorhatten? Sie würden mich anschreien und vollkommen ausrasten. Aber wer würde das nicht? Marleen und ein paar andere Freunde waren auch nicht allzu begeistert von der Idee, trotzdem wurden wir indirekt alle gezwungen. Vielleicht kommen wir trotzdem aus der ganzen Sache raus, wenn wir anbringen, dass wir gezwungen wurden.
Mein Herz machte einen Satz, als wir in der Tiefgarage ankamen. Er parkte das Auto ganz hinten.
Ich nahm meine Tasche und stieg aus. Diesmal achtete ich darauf, dass ich die Tür ja nicht zu fest zuknallte. Wir liefen schweigend durch das Treppenhaus, bis ganz nach oben. Ich war froh, dass er meine Hand nicht nahm, denn sie zitterte immer noch durch seinen kleinen Ausraster. Er öffnete die Tür und ich erwartete, dass ein Lichtstrahl mich blenden würde, da die Sonne merkwürdigerweise heute so abartig schien, aber es kam fast vollkommene Dunkelheit aus der Wohnung. Wir traten ein, ich schaute Sean stirnrunzelnd an, bis mir einfiel, dass er es nicht sehen konnte. Wie dämlich ich doch bin.
Gerade als wir in das schäbige Wohnzimmer liefen und ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, da die Vorhänge auch noch zugezogen waren, ging ein kleines Licht an.
„Amy!" Marleen, Tommy, Anny und alle anderen strahlten mich an und umarmten mich.
„Und, wie war dein Tag?", fragte Marleen. Sie schaute ein wenig schief zu Sean, jedoch so, dass er es nicht sehen konnte. Wir beide wussten, was sie meinte. ,,Ganz okay. So wie immer."
Wir setzten uns alle in einen Kreis auf den Boden und legten die Blätter in die Mitte. Ich kramte die Raumpläne heraus und legte sie dazu. Sofort begutachtete Sean sie, als könnte er denken, ich hätte meine Arbeit nicht sorgfältig gemacht.
„Die roten Kreise, sind das die Alarmanlagen und so?", wollte er wissen. Ich nickte.
„Ich weiß schon, wie wir die ausschalten können", murmelte Tommy. Man konnte wirklich sagen, dass er ein Technikfreak war. Ohne ihn würde diese Sache überhaupt nicht laufen. Er war das Gehirn dieses Plans. Er erklärte allen, wie er das anstellen wollte, doch ich hörte nicht zu. Ich konzentrierte mich nur auf meine Angst, die Angst, erwischt zu werden. Ich wollte einfach nicht mitmachen! Was für ein kranker Plan war das überhaupt? Als ob das klappen würde!
Und als er fertig geredet hatte, fragte ich mich, wie er es anstellen wollte. Hätte ich lieber zugehört, Herrgott!
„Alles in Ordnung, Amy?", fragte Sean. Er runzelte die Stirn. Womöglich habe ich einen komischen Blick aufgesetzt.
„Ähm ... mir ist schlecht", log ich. „Ich geh mal kurz aufs Klo." Ich stand mit Mühe auf und lief in Richtung Badezimmer. Als ich die Tür abschloss, hörte ich immer noch gedämpfte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Während ich mich auf den Badewannenrand setzte und mit meinen Fingern durch die Haare fuhr, klopfte es. Meine Güte! Konnte man nicht mal eine Minute seine Ruhe haben?
„Ich bin's", hörte ich eine leise Stimme. Schnell ging ich zur Tür, ließ Marleen herein und schloss sie wieder.
„Hör zu, wir wissen glaube ich beide, dass das nicht klappen wird."
Ich stimmte ihr mit meinem Blick zu. Sie hatte genauso Angst wie ich. „Ich weiß was du denkst. Ich habe auch Angst. Aber das können wir uns jetzt nicht leisten. Wenn es schief geht, hauen wir ab, verstanden?" Ich war vollkommen perplex. Abhauen? Wie bitte?
„Wie willst du das denn bitte machen?"
„Vertrau mir. Wenn wir heute bei dir vorbei fahren, um deinen Eltern Bescheid zu geben, packst du ganz schnell irgendwelche Sachen zusammen. Kleidung, Geld, alles, was du gebrauchen kannst, okay? Dann versteckst du das irgendwo im Garten."
„Aber Marleen, wo wollen wir denn bitteschön hin?" Meine Stimme klang verzweifelt.
„Zu meiner Tante. Ich habe mein Auto in der Nähe der Villa geparkt und meine Sachen schon reingelegt. Dann fahren wir zu dir und holen schnell deine Sachen", erklärte sie mir.
„Wann zum Teufel bist du auf diese bescheuerte Idee gekommen?! Das wird genauso wenig klappen wie diese Scheiße! Und was sollen wir meinen Eltern erzählen? Und deinen?"
Sie verdrehte die Augen. „Es ist vielleicht kein perfekter Plan... Meine Eltern wissen, dass ich zu meiner Tante fahren möchte. Ich habe gesagt, dass ich sie einfach mal wiedersehen möchte. Deinen Eltern sagen wir heute Abend, wenn wir dort vorbeifahren, dass du mit mir kommst. Meine Tante wohnt ja weiter weg, da ist es ein bisschen wärmer. Also sagen wir, dass du sozusagen Urlaub mit mir dort machst."
„Moment mal. Werde ich überhaupt gefragt? Sie werden uns doch sowieso finden. Was machen wir dann? Und außerdem: Wenn die Polizei bei meinen Eltern vorbei kommt, denkst du, wir können von ihnen verlangen, dass sie lügen und nicht sagen wo wir sind?"
Ich hatte so viel Fragen, aber sie reagierte nicht darauf.
„Ich habe alles durchdacht. Wir legen uns einfach neue Nummern zu, löschen unsere Profile überall. So schwer es auch sein wird, wir geben keinem hier unsere neue Nummer, ansonsten bekommt Sean sie noch heraus."
„Okay", murmelte ich. „Aber die Sache, dass er bzw. sie uns finden werden, hast du nicht durchdacht."
„Das wird er nicht. Ich verspreche es dir."
„Wenn sie unsere Eltern fragen, wo wir sind?" Ich fragte nach jedem einzelnen Hacken.
Nachdem ich diese Frage nochmal einzeln stellte, reagierte sie endlich darauf. Sie weitete die Augen. „Daran habe ich nicht gedacht. Scheiße!"
„Was ist los?", unterbrach uns auf einmal jemand von draußen.
„Alles in Ordnung!", schrie Marleen nach draußen. Jetzt flüsterte sie: „Wir kriegen das schon hin. Vertrau mir einfach."
Und dann gingen wir wieder in das dunkle Wohnzimmer. Mir schwirrte der Kopf.
„Amyyyyy, du stehst da gerade so toll. Kannst du Bier aus der Küche bringen?", fragte Josh lächelnd.
Ich regte mich lautlos auf und marschierte wieder zurück in die Küche. Während ich aus einem Kasten mehrere Bierflaschen holte, hörte ich laute Schritte in meine Richtung kommen. Abrupt drehte ich mich um. Sean stand vor mir, seine dunklen Augen wurden nur durch das winzige Licht, das ein wenig von dem kleinen Fenster herein flutete, erleuchtet. Und trotzdem sah man, wie wütend er war. Man sah es einfach an seinen Augen.
Früher liebte ich seine Augen, früher liebte ich ihn. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob ich ihn einfach nur nicht mehr liebte oder ob ich ihn schon hasste. Eins von beidem auf jeden Fall. Er drückte mich unsanft gegen die Wand und hielt meine Arme fest. Seine Finger drückten in mein Fleisch. „Aua!"
„Sei leise, sonst hören sie uns", flüsterte er. „Denkst du, ich bin zu blöd, um zu kapieren, dass du abhauen willst?"
Mein Herz blieb beinahe stehen. Er wusste, was wir vorhatten! Hatte er etwa unser Gespräch belauscht? Tausende von Fragen schossen durch meinen Kopf, und ich hatte fast das Gefühl, dass mein Kopf oder mein Herz oder meine Blutäderchen platzten.
„Wie k-kommst du darauf?" Ich versuchte eine normale Stimme zu haben, aber natürlich erfolglos.
„Wenn du abhaust, werde ich dich finden", lacht er. „Das ist dir natürlich bewusst." Ich schluckte. Wir konnten nicht abhauen. Wir werden es nicht tun.
„Ich hatte nicht vor-"
„Ja genau", unterbrach er mich.
„Ich werde nicht abhauen, okay? Warum sollte ich überhaupt? Wenn ich abhaue, würde ich alles noch schlimmer machen mit der Polizei."
Sobald ich das ausgesprochen hatte, kam mir der Plan immer absurder vor. Die Polizei würde uns sowieso erwischen oder spätestens nach ein paar Wochen finden, also warum sollten wir abhauen? Das würde alles noch schlimmer machen.
„Die Polizei wird uns nicht erwischen. Wir haben alles perfekt geplant." Ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Lachen, weil Sean so dumm war und glaubte, dass dieser Plan perfekt war? Oder weinen, weil ich nicht in den Knast wollte? Dieser Plan war keineswegs perfekt. Es war ein ganz simpler Plan, ohne jegliche... ähm... Sicherheitsvorkehrungen.
Ich fragte mich sowieso, wie zur Hölle Tommy die Alarmanlagen abstellen wollte. Hätte ich vorhin doch lieber zugehört... Am besten fragte ich später, ob wir den Plan nochmal durchgehen konnten.
Schlagartig wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als Sean mich losließ und zurück ins Wohnzimmer lief. Ich blieb für eine Weile stehen, um nochmal alles durchzugehen, was wir hier heute Abend vorhatten.
Wir wollten einen reichen Mann ausrauben. Bescheuert und lebensmüde.
Marleen und ich wollten abhauen, falls es schief geht. Es wird sowieso schiefgehen. Und es ist genauso bescheuert und lebensmüde.
Sean hat gesagt, dass er mich finden wird, wenn wir abhauen sollten. Was er auch tun wird.
Ich wünschte mir, ich könnte die Gedanken verschieben, aber das konnte ich nicht. Ich musste mir einfallen lassen, was wir jetzt tun sollen!
„Amy-Linn Sanchez! Wo bleibt das verdammte Bier?" Ich erkannte Joshs Stimme. Er wusste genau, dass er mich mit diesem Satz dazu bringen konnte, endlich das Bier zu bringen, denn ich hasste meinen Zweitnamen.
Ich nahm den Kasten Bier, der direkt hinter mir stand und machte mich wieder auf den Weg in das Wohnzimmer. Inzwischen war es draußen schon ein wenig dunkler geworden, sodass die Vorhänge nochmal alles doppelt dunkler machten und wir ein größeres Licht anmachten. Ich musste das Bier auch noch jedem an den Arsch bringen. Als wir alle wieder im Kreis saßen, redeten alle durcheinander. Ich hörte nicht zu, sondern versuchte zu entscheiden, was wir heute tun sollten. Doch mir fiel nichts ein. Beides war vollkommen bekloppt. Wir kamen aus dieser Sache nicht mehr raus. Wäre es möglich, wenn wir bei der Polizei sagen würden, dass wir gezwungen wurden? Ich hatte keine Ahnung, denn eigentlich wurden wir nicht gezwungen, jedoch machte er uns Angst, falls wir nicht mitmachten. War das nicht indirekt dasselbe? Auf einmal rammte mir jemand von der Seite einen Ellenbogen in die Rippen. Ich unterdrückte mir einen kleinen Schrei, da es Marleen war.
„Mach deine Grübeleien nicht so offensichtlich, du dumme Nuss!", flüsterte sie energisch.
Ich nahm ihren Rat ernst und hörte jetzt ohnehin zu, da es nochmal um den Plan ging.
„Also, gehen wir es nochmal durch. Amy und Joleen halten Wache. Falls jemand kommen sollte oder sonst irgendetwas, drücken sie auf den roten Punkt bei dem Walkie-Talkie."
„Moment mal", sagte Marleen. „Ich sollte doch mit Amy Wache halten?"
Da fiel es mir selbst ein: Wie sollten wir abhauen, wenn der andere nicht in der Nähe war?
Sean grinste. „Egal." Marleen schaute mich von der Seite an. Wir beide wussten, dass er das absichtlich gemacht hatte. Unser Plan war durchkreuzt.
„Also weiter. Josh und Ana bewachen die anderen zwei Eingänge. Wenn der rote Punkt gedrückt wurde, piept bei allen das Walkie-Talkie. Dann rennen wir logischerweise raus und treffen uns beim schwarzen Van. Wenn irgendeiner innerhalb von 30 Sekunden nicht da ist, fahren wir trotzdem los. Wenn jemand einzeln erwischt wird, redet er nicht. Er sagt nicht, wer beteiligt war. Einfach gar nichts. Tommy legt die Alarmanlagen lahm und dann gehen wir rein. Der Safe ist im zweiten Stockwerk, rechter Flügel. Dylan und ich knacken ihn und drücken dann den grünen Knopf. Dann vibriert euer Walkie-Talkie, das bedeutet, dass wir wieder schnell zum Van gehen und alles gut gegangen ist."
Ich hatte das Gefühl, als würde mein Kopf gleich platzen. Was würde heute Abend passieren? Würden wir ein Piepen oder ein Vibrieren hören? Oder das knackende Geräusch von Handschellen? Oder sogar der laute Ton eines Schusses? Ich wusste es nicht.
Ich fing Seans Blick auf - und dann war es mir egal, was wir heute Abend hören würden. Nur im Folgendem war ich mir klar: Die Faust von Sean wollte ich diesen Abend definitiv nicht sehen. Also blieb mir nichts anderes übrig. Ich musste mitmachen. Wir mussten mitmachen.
Sean, Marleen und ich fuhren schnell bei meinen Eltern vorbei. Wir konnten natürlich nicht sagen: Hey, wir wollen abhauen, deswegen müssen wir schnell meinen Eltern sagen, dass wir zu Marleens Tante fuhren.
Wir sagten zu Sean, dass ich meinen Eltern vergessen hatte Bescheid zu geben, dass wir heute Abend feiern gingen. Natürlich verlangte er, dass ich nur anrufe, aber sie gingen nicht dran. Das war meine Rettung. Perfekt.
Also fuhren wir den Wagen in die Einfahrt und klingelten. Ich sah das Licht angehen. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und als Dad mich erkannte, ließ er uns rein.
„Ähm... Dad. Hi." Er verschränkte die Arme.
„Wolltet ihr nicht feiern gehen?" Mein Herz rutschte mir in die Hose. Das wars. Scheiße, verdammt Dad! Ich spürte Seans unnormal festen Händedruck. „Also... Naja... Mom, sie-"
„Moment mal, wer hat etwas von Feiern gesagt?! Niemand hat mir etwas gesagt!", hörte ich Moms Stimme aus der Küche. Natürlich wusste sie es. Sie kam auf uns zu. „Aber ich-", sagte Dad. Doch Mom übertönte ihn mit ihrem Husten und einem Kuss auf den Mund.
Mom - meine Rettung. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte mitgehört. Ich liebe dich Mom, dachte ich. Es tut mir so Leid, dass ich heute Abend womöglich euren Ruf zerstöre.
„Ja, ich wollte dir nochmal Bescheid geben, Mom. Wir gehen feiern, in der Disco neben dem Stadtcafé."
Sie lachte. „Heute Abend nicht, Süße. Wir wollten einen Familienabend machen."
Sean schnaubte. Er mochte meine Eltern nicht, für ihn waren sie zu spießig, doch er setzte immer eine falsche Miene auf.
„Aber Miss Sanchez, nur heute. Der Abend kann doch morgen stattfinden, bitte. Wir wollten Anas Geburtstag feiern! Sie wird 18! Den Achtzehnten darf man doch nicht ohne eine der besten Freundinnen feiern!"
Es überraschte mich selbst, wie er so überzeugend klingen konnte. Innerlich dachte ich: Nein Mom, lass mich nicht gehen. Zwing mich, hier zu bleiben. Doch sie konnte mein Flehen nicht hören.
„Na gut. Aber nicht zu spät nachhause kommen, in Ordnung?" Mist.
Ich nickte. „Ach ja Amy, komm mal bitte mit nach oben. Onkel Billy aus Pennsylvannia hat dir ein Paket geschickt. Ich gebe es dir eben."
Ich ließ Seans Hand los, der Druck entwich sofort. Eine Befreiung. Dad unterhielt sich mit Marleen über seine Lieblingsfernsehserie, die gerade lief.
Ich fragte mich, ob Mom Verdacht schöpfte, denn ich hatte gar keinen Onkel aus Pennsylvannia! Natürlich wusste sie es.
Ich folgte ihr in das Schlafzimmer, sie schloss die Tür ab.
„Mom-", fing ich an. Meine Stimme zitterte.
„Ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Erklär es mir irgendwann. Hast du mir noch irgendetwas Wichtiges zu sagen, das du vor Sean nicht sagen kannst?"
Du meine Güte, ich liebte meine Mom. Sie war so klug. Sie durchschaute mich. „Oh Gott, Mom, ich lie-"
„Sag schon, wir haben nicht viel Zeit!", drängte sie. Ich überlegte scharf nach, was sie für mich tun konnte.
„Ich fahre für ein paar Wochen mit Marleen zu ihrer Tante. Sean darf das auf keinen Fall wissen, Mom, hast du verstanden? Ich weiß selbst nicht, wo sie wohnt. Sag Marleens Eltern ebenfalls, dass sie es Sean und auch keinem anderen von unseren Freunden sagen dürfen, hörst du?!"
Sie nickte. Ich fuhr also fort. „Richte bitte Klamotten für mich, Geld, ein paar Lebensmittel. Aber keinen Koffer! Höchstens so viel, dass es in eine große Tasche passt, die aber nicht zu groß ist. Versteck sie hinter der Hütte im Garten. Ich werde NIEMANDEM meine Nummer geben. Wenn ich mich sicher fühle, rufe ich euch irgendwann an. Spätestens nach zwei Wochen werdet ihr etwas von mir hören, das schwöre ich dir. Ich werde aber anonym anrufen, damit keiner irgendwie dahinter kommt. Schreit dann nicht „OH MEIN GOTT AMY", sondern ganz ruhig bleiben. Mom, bitte stell keine Fragen! Wenn es passt, werde ich es dir erklären, okay? Mom, ich liebe dich. Erklär es Dad. Sag ihm, dass ich ihn lieb hab."
Mom stellte keine Fragen, obwohl sie doch so viele hatte. Wie sollte sie meinen Aufenthaltsort vor Sean fernhalten? Irgendwann verlangte er eine Erklärung! Wie sollte sie nachts ruhig schlafen können, ohne zu wissen, wo ihre Tochter genau war? Was würde passieren, wenn die Polizei bei ihr auftauchen würde? Sie konnte unmöglich lügen! Das konnte ich von meiner Mutter nicht verlangen.
„Ich werde alles dafür tun, dass dich keiner findet", sagte sie, anstatt zu fragen, ob ich lebensmüde war. Vorher dachte ich noch, dass es echter rüber kommen würde, wenn ich weinen würde, aber ich es unmöglich schaffen würde. Aber jetzt umarmte ich meine Mom, die ich schon fast mit meiner Größe überholte, und weinte. Ich spürte ihren Herzschlag, ihre Tränen sickerten durch meine Jacke. Sie strich mir über mein goldbraunes Haar. Dann kramte sie schnell noch in einem Fach rum, das ich zuvor noch nie gesehen habe, und gab mir einen Umschlag.
„Tu so, als wäre das der Brief von deinem Onkel. Sieh nur zu, dass ihn keiner liest." Ich nickte. Oh Gott, meine Mom. Sie dachte an alles, wobei sie gar nicht vorbereitet war. Ich umarmte sie noch ein letztes Mal, in dem Gewissen, dass ich sie die nächsten paar Wochen weder sehen noch spüren würde. Ich schaute auf die Uhr. Wir hatten zu lange gebraucht.
„Mom, ich muss jetzt echt gehen. Sonst fällt es auf. Wisch dir deine Tränen weg und komm dann runter."
„Pass auf dich auf, mein Schatz", flüsterte sie.
Das waren offenbar die letzten Worte.
Ich ging die Treppen nach unten und steckte den Brief in meine Jacke.
Ich wischte mir noch über die Augen, da ich das Gefühl hatte, dass man nicht sehen konnte, dass ich geweint hatte. Also sollte es offensichtlicher sein. Sean und Marleen runzelten die Stirn. Ich hatte gerade eine perfekte Geschichte auf Lager, und war froh, dass Dad nicht hier war, da er diese Geschichte für unmoralisch halten würde.
„Mein Onkel hat Krebs." Ich senkte den Kopf. Es war unverschämt, über so etwas zu lügen, das wusste ich. Ich schämte mich für mich selbst, aber was hätte ich tun sollen? Ich hatte keine Wahl. Marleen kapierte sofort.
„Mom sagt, ich soll trotzdem feiern gehen. Mich ablenken", erklärte ich, und abermals strömten Tränen über meine Wangen, wegen Mom. Dachte ich. Sie nahmen mich in den Arm, doch ich wusste, dass ich trotzdem mitkommen musste. Und das musste ich auch. Ich umarmte noch schnell Dad, verbarg meine Tränen, da es ja so rüber kommen sollte, dass ich nur für eine Nacht feiern bin. Ich hätte ihn gerne länger umarmt. „Ich hab dich lieb, Dad", flüsterte ich ihm so ins Ohr, dass nur wir beide es hören konnten. Dann setzten wir uns in das Auto, holten die anderen ab und fuhren zur Disco.
Wir gingen also einfach rein und blieben für 20 Minuten, dann schlichen wir uns raus. Jetzt konnten mindestens drei Mitarbeiter sagen, dass sie uns heute hier gesehen hatten, wenn die Polizei auf uns zurückkam.
Mein Herz drohte aus der Brust zu springen, während ich mich umzog. Die Handschuhe waren zu groß. Der schwarze Stoff kratzte auf meiner Haut, aber was noch viel mehr 'kratzte', war Seans Hand in meinem Gesicht. Er half mir mit der Maske. Statt ein warmes Prickeln auf der Haut zu spüren, spürte ich gar nichts. Schon lange nicht mehr. Außer Ekel. Seine Berührungen kamen mir fremd vor. Es war das selbe fremde Gefühl wie vor zweieinhalb Jahren. Er war Türsteher, schon 19, ich war 16. Es war 1:00 Uhr in der Nacht oder irgendetwas in dem Dreh, ich durfte natürlich eigentlich nicht in die Disco. Marleen, ein paar andere Freunde ich versuchten es trotzdem. Der andere Türsteher wollte Marleen und mich nicht rein lassen, weil wir erst 16 waren, aber dann kam Sean dazu. Er grinste mich schief an und ließ uns rein. Seit diesem Abend sind wir fast immer in diese Disco am Wochenende gegangen, wenn wir Sean an der Tür stehen sahen. Er ließ uns immer rein. Er lächelte mich auch immer an.
Und irgendwann wollten wir eines Abends wieder feiern gehen, aber er war nicht da. Wir wollten gerade weglaufen, als er uns hinterher rannte.
„Ich habe keinen Dienst, aber ich kann euch hinten rein lassen. Kommt."
Er legte den Arm um meine Taille. Ich starrte ihn an und entwand mich dem Griff, da es mir logischerweise zu fremd war. Das selbe Gefühl hatte ich heute. Fremd. Kalt. Kratzend. Mir fielen tausende Adjektive ein, die es aus meiner Sicht hätte beschreiben können.
„Ich liebe dich", sagte er auf einmal. „Wir werden heute Abend reich."
Ich konnte sein Ich liebe dich schon lange nicht mehr ernst nehmen. Er meinte es auch nicht ernst. Wahrscheinlich sagte er das nur öfters, weil er dachte, dass ich ihn noch liebte und er ja die Beziehung aufrecht erhalten musste, bevor ich mich verpisste, weil er so zu mir war. Ich glaubte, er dachte, dass sein Ich liebe dich meine Stimmung hob. Da ich ihn ja noch angeblich liebe. Also tat ich einfach so, als würde es wirklich meine Stimmung heben.
Ich grinste - ein bisschen zu übertrieben - und flüsterte: „Ich liebe dich auch." Er lächelte zurück und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Mein Magen drehte sich um. Früher liebte ich dieses Lächeln. Es gab mir das Gefühl, geliebt zu werden. Jetzt gab es mir das Gefühl, eine 'Scheinbeziehung' zu führen (ich nannte es jetzt einfach mal so). Vor den anderen taten wir so, als würden wir uns lieben, wenn wir alleine waren, zeigte er sein wahres Gesicht. Ich vermisste solch ein Gefühl der Sicherheit...
Er nahm seinen letzten Zug von der Zigarette und schmiss sie in den Aschenbecher. Dann nahm er zu meinem Bedauern meine Hand und wir gingen nach unten. Ich fragte mich, ob es nicht zu auffällig und laut wäre, wenn mindestens zwanzig Füße auf einmal die Treppen runter gehen würden. Natürlich war es mitten in der Nacht, es war unmöglich, dass jemand uns sehen würde, doch die Wahrscheinlichkeit uns zu hören, war dafür umso größer. Meine Grübeleien wurden dadurch beantwortet, dass ich sah, dass nur Sean und ich nach unten gingen. Als wir im Van saßen, sorgfältig darauf bedacht, dass der Van gut versteckt war, gab er mir mein Walkie-Talkie. Ich saß auf dem Rücksitz, die Raumpläne steckte ich ihm zu. Er drückte den grünen Knopf, und unsere Walkie-Talkies vibrierten. Offenbar war das das Zeichen, dass die nächsten zwei kommen sollten.
Die Paare kamen immer so, wie wir eingeteilt waren: Joleen setzte sich zu mir. Josh zu Ana. Tommy ging auf den Beifahrersitz, zu Sean, zu. Wir warteten, bis alle drin waren, dann drehte Sean den Schlüssel um. Der Motor heulte auf, es kam mir vor, als würde ich gleich wortwörtlich mit heulen. Zum Glück war er nicht allzu laut.
Natürlich saß Marleen weit weg von mir, so weit, wie es in diesem Auto möglich war. Danach ging es los. Je näher wir der Villa kamen, desto nervöser wurde ich. Die unglaubliche Dunkelheit machte alles noch schlimmer. Die Straßenlampen waren schon längst ausgeschaltet, keine Menschenseele war in Sicht. Ich wollte die Maske abnehmen, da ich spürte, wie mir die Schweißperlen die Stirn hinunter rannten. Sie kratzte unheimlich auf meiner empfindlichen Haut, und meine zusammengeknoteten Haare machten das ganze nochmal schlimmer.
Ich schaute kurz in den Rückspiegel, und als würde sie es spüren, schaute Marleen auch rein. Sie nickte und machte komische Bewegungen mit ihren Fingern. Ich glaubte, dass es rennen bedeuten sollte, also, dass wir abhauen würden. Wie um Himmels Willen sollte ich das anstellen, wenn ich nicht mal wusste, wo ihr verdammtes Auto stand? Meine Güte! Wie dämlich waren wir denn!
Ein plötzlicher Ruck riss mich aus meinen Gedanken. Wir waren da. Oh Gott.
Ich steckte mein Walkie-Talkie in meinen Gürtel und stieg aus, die Tür ließ ich ganz leise zufallen. Marleen lief an mir vorbei. Ich hätte schwören können, dass sie derPark gesagt hatte! Anfangs dachte ich, was das jetzt bitte sollte, aber dann dachte ich besser nach. Denk nach. Denk nach. Die Villa war von mehreren Grundstücken umgeben, natürlich. Ich blickte mich um. Ich sah keinen scheiß Park! Mir rutschte das Herz in die Hose. Scheiße, denk nach. Denk nach. Denk nach.
Ich folgte einfach den anderen. Während meine Lunge vor Angst zu versagen drohte, fiel es mir wie Schuppen vor die Augen. Der Park! Ja natürlich! Auf der anderen Seite der Villa war gegenüber ein Park! Das musste sie gemeint haben. Da musste das Auto stehen. Ich schmunzelte ein wenig über meine Dummheit. Das Schmunzeln verebbte sofort, weil ich über irgendetwas stolperte, das einen Riesenkrach machte. Verdammt!
„MEINE FRESSE!", flüsterte irgendjemand. Ich hätte wetten können, dass es sowieso Sean war. Um nicht wieder aufzufallen, konzentrierte ich mich jetzt auf den Weg und richtete meine Augen nach vorn. Bloß nicht die Fassung verlieren. Ganz locker. Es wird alles gut gehen.
Doch egal wie viel Zuspruch ich mir gab: Ich wusste, dass es nicht gut gehen würde. Ich konnte nicht verhindern, dass ich anfing zu schwitzen. Wenn mich jetzt einer an der Hand nahm oder so, würde es peinlich werden, denn ich hatte das Gefühl, dass jede Stelle meines Körpers mit Schweißperlen übersäht war. Oh Gott. Noch ein paar Meter.
Mein Herz pochte wie wild.
Noch fünf Meter.
Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen.
Noch drei Meter.
Gleich war es soweit.
Und dann standen wir davor. „Los", flüsterte Sean. Jetzt verteilten sich alle auf ihre Plätze. Ich blieb in der Nähe des Tores, versteckte mich aber in einem Gebüsch. Joleen versteckte sich hinter einem Baum in der Nähe der Haustür. Ich beobachtete Sean und Tommy dabei, wie sie den Code eingaben. Dylan stand hinter ihnen und schaute sich um. Woher hatten sie den überhaupt? Auf diese Frage bekam ich wohl nie eine Antwort. Ich schaute kurz zur Seite - niemand war zu sehen. Nur die Bonzenautos von der Familie hier.
Dann hörte ich ein Knacken. Sie gingen rein. Wahrscheinlich war das Knacken von der Alarmanlage direkt hinter der Tür, denn eine Tür konnte unmöglich so knacken. Da ich die Raumpläne gemacht hattee, wusste ich, dass dort eine Alarmanlage war. Nicht nur da... Abermals hörte ich nichts, außer meinem unregelmäßigen Atem und mein pochendes Herz. Es war unerträglich, sodass sogar schon fast meine Brust vom Herzschlagen wehtat.
Ich schloss die Augen, um darüber nachzudenken, an welchen Stellen die tausenden Alarmanlagen angebracht waren. In den Vorräumen des Safes sind mindestens sechs, dachte ich. Natürlich an der Haustür. Am Hintereingang. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass es noch viel mehr gab, das Haus war natürlich voll davon, aber mir fielen momentan keine ein.
Du bescheuerte Kuh, konzentrier dich auf deine Umgebung! Sofort öffnete ich die Augen und sah mich um. Herrgott, ich sollte doch sehen, ob jemand kam! Um nicht wieder in Gedanken zu versinken, riss ich meine Augen weit auf und starrte umher. Es war niemand zu sehen. Nicht einmal Polizeisirenen. So weit, so gut. Ich griff also in meine Jackentasche, um herauszufinden, was in dem Umschlag stand. Vielleicht stand sogar etwas darin. Doch noch bevor ich den Umschlag anfassen konnte, passierte es: Mein Walkie-Talkie piepte. Es war ein schriller, aber leiser Ton, sodass es unmöglich war, ihn etwas weiter weg zu hören. Und dann ging alles ganz schnell: Ich hörte eine Alarmanlage aus der Nähe, und durch ein Fenster konnte ich sie leuchten sehen: Es kam aus einem Zimmer von links.
Dann hörte ich Polizeisirenen. Ich wusste nicht, wie lange ich erstarrt war, denn es war unmöglich, direkt nach der Alarmanlage die Sirenen zu hören. Anstatt los zu rennen, um abzuhauen, bleib ich wie erstarrt. Es ist etwas schiefgegangen. Nirgendswo ist das Licht angegangen, also war eine Alarmanlage Schuld. Ich habe vergessen, eine einzuzeichnen. Oh Gott. Mein Herz raste. Die Sirenen kamen immer näher, und auch die 30 Sekunden Deadline, zum Van zu kommen, verging.
Wo sollte ich hinrennen?, dachte ich. Zum Park? Abhauen? Oder zum Van?
Ich musste jetzt unbedingt eine Entscheidung treffen. Doch ich konnte es nicht. VERDAMMT, ENTSCHEIDE DICH! DIE POLIZEI KOMMT!
Ich sah die roten und blauen Lichter immer näher kommen. Sie waren schon fast da. Scheißescheißescheiße, was sollte ich tun?! Anscheinend waren die 30 Sekunden sowieso schon längst vorbei, also rannte ich. So schnell wie ich noch nie in meinem Leben gerannt war. Und auf einmal hörte ich einen Schuss. Noch einen. Und noch einen. Ach du Scheiße. Wer wurde getroffen? Der Besitzer? Joleen? Dylan? Einer der anderen?
Ich rannte auf die andere Seite, und es dauerte ewig, bis ich am Hintereingang der Villa angekommen war, da das Grundstück so riesig war. Meine Muskeln widersprachen mir, ich konnte nicht mehr atmen, aber ich hörte nicht auf zu rennen. Ich konnte nur an eines denken: Ich muss hier weg. Meine Beine wurden schwer, ich spürte sie schon gar nicht mehr! Jemand hat geschossen.
Plötzlich sah ich ihn: Den Park. Die Sirenen waren immer noch zu hören, ich fragte mich, was jetzt mit den anderen passierte. Ich rannte in den Park, suchte Marleens Auto. Wahrscheinlich hatte sie es irgendwo hinter dem Park geparkt, sodass man es hier nicht sah. Und da sah ich es. Schlicht in den Büschen versteckt. Ich rannte noch schneller, obwohl ich nicht mehr richtig atmen konnte, und sprang in das Auto hinein.
„DU BLÖDE KUH! WO WARST DU?", schrie sie.
„Fahr los!", rief ich atemlos.
Der Motor war schon an. Sie raste los. Ich wurde in den Sitz gedrückt.
Erstmal versuchte ich, meinen Atem wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Das Auto schlitterte um die Kurve, weg von den Sirenen. Ich hatte das Gefühl, dass sie leiser wurden, aber irgendwie auch, dass sie uns verfolgten und es lauter wurde.
„Oh Gott", murmelte ich. „Hast du die Schüsse gehört?"
„Ja", sagte Marleen leise. „Lass uns lieber nicht darüber nachdenken, wer getroffen wurde. Ich will mir das nicht ausmalen ..." Ich sah sie an, aber sie schaute nicht zurück. Natürlich. Wir mussten hier weg. Ich sah auf den Tacho. Sie fuhr nicht langsamer.
„Ich glaube, ich habe vergessen, eine Alarmanlage einzuzeichnen."
Das hatte ich wirklich. Wenn es stimmen sollte, habe ich die anderen womöglich in den Knast gebracht. Das würde ich mir nie verzeihen.
„Bist du bescheuert? Du hast tagelang da dran gesessen, um jede Alarmanlage einzuzeichnen! Nie und nimmer hast du eine vergessen! Sie haben vergessen, eine lahm zu legen!"
Egal was sie sagte, sie konnte mich nicht überzeugen. Ich war mir nicht sicher. Der Gedanke ließ mich einfach nicht los.
Als ich merkte, dass sie langsamer wurde, schrak ich hoch.
„Fahr schneller!", rief ich.
„Ich will nicht, dass man die Reifen quietschen hört, wenn wir anhalten, du dämliche Nuss." Oh. Darauf wäre ich gar nicht gekommen. „Mach dich schon mal bereit, um auszusteigen."
Ich schnallte mich ab und ging auf Position. Ich hatte vielleicht 20 Sekunden Zeit ohne entdeckt zu werden. Der Wagen hielt an.
„Renn!"
Ich stieg aus, rannte los, ließ die Tür auf. Meine Beine waren immer noch vom endlangen Sprint des Villawegs betäubt.
Ich riss das Tor unseres Hauses auf und rannte in den Garten. 20 Sekunden. In der Küche brannte noch Licht. Am liebsten wäre ich rein gegangen, meinen Eltern um den Hals gefallen und ihnen alles gesagt. 15 Sekunden. Doch ich duckte mich unter dem Küchenfenster und rannte zur Gartenhütte. Schnell ging ich drum herum und fand einen Rucksack. Mein Schulrucksack. Perfekt, der würde nicht auffallen. 10 Sekunden. Sofort nahm ich ihn, duckte mich wieder unter dem Küchenfenster und rannte zum Wagen. Ich drehte mich nochmal um, um das Haus zu betrachten. Es tut mir Leid, Mom und Dad. Passt auf euch auf.
Dann stieg ich wieder ein. Sofort fuhr Marleen los.
„Schau mal, was in dem Rucksack alles drin ist", fing sie an.
Ich öffnete den Reisverschluss des Rucksacks und griff tief hinein. Ich spürte eine Box, eine große Flasche und weichen Stoff. Klamotten. Außerdem sah ich meinen Personalausweis, meinen Reisepass, meinen Führerschein und viele andere wichtige Dinge. Die Box holte ich heraus und öffnete sie. Um Himmels Willen!
„Ach du Scheiße", murmelte ich leise.
„Was ist?", fragte meine beste Freundin. Ich hielt ihr die Box hin.
„Oh mein Gott!"
In der Box waren unzählige Scheine drin.
„Meine Mom hat für mich gesorgt."
Ich nahm den Umschlag, den ich in der Jacke hatte, heraus und las ihn, weil ich das Gefühl hatte, er hatte etwas damit zu tun:
Mein Schatz, das Geld hatte ich eigentlich für dein Studium gespart. Da du aber nie vorhattest zu studieren und dein Abitur auch nicht machen wolltest, habe ich dir nie davon erzählt und es als Notgroschen aufgehoben. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Ich hoffe, du weißt was du tust. Auch wenn ich nicht weiß, was du vorhast, wünsche ich dir das Beste. Ich hoffe, du machst keine Dummheiten. Nutz das Geld sinnvoll. Pass auf dich auf. In Liebe, Mom
Mein Hals schnürte sich zu. Da du aber nie vorhattest zu studieren. Meine Mom wollte schon immer, dass ich studiere. Ich habe es nie getan. Ich habe mich auf die faule Haut gelegt und gerade noch so meinen Abschluss geschafft. Die Aufgabe, meine Mom bzw. meine Eltern stolz zu machen, wollte ich immer erfüllen, aber ich habe es nie geschafft. Das zerriss mir das Herz.
„Was steht da drin?"
Ich fing an zu weinen.
„Du meine Güte, Amy, was ist los?"
Ich las ihr den Brief vor. Meine Stimme brach mitten im Satz ab. Nach einer Weile kicherte sie.
„Was gibt's da zu kichern?" Ich war wütend. Wütend auf mich selbst, weil ich so dumm war und meine Freunde im Stich ließ, meine Eltern anlog, vor der Polizei abhaute. Und auf Marleen.
„Du wirst deine Eltern stolz machen. Dafür habe ich gesorgt."
„Wovon redest du?" Was zum Teufel meinte sie?
„Ich habe uns auf einem College eingeschrieben." Wie bitte?
„Du hast was?", protestierte ich. Ohne mich zu fragen? Was sollte das?
„Wie hast du das überhaupt gemacht, wie bist du an meine Unterlagen gekommen?"
„Mein Gott, Amy, tu doch nicht so. Deine Zeugnisse lagen immer in deinem Zimmer. Deine weiße Kommode, zweite Schublade, in einem roten Ordner.
Es war ganz einfach. Ich konnte deine Unterschrift ganz leicht fälschen und am Telefon wussten sie ja sowieso nicht, dass ich nicht du bin. Das Bewerbungsschreiben habe ich auch für dich geschrieben. Dass du bereit bist, jetzt viel mehr zu lernen undso. Erst waren sie am Telefon unsicher, weil wir so beschissene Zeugnisse haben, aber sie haben uns eine Chance gegeben. Übrigens unter dem Vorwand, dass wir nach den ersten drei Monaten auch schon gute Noten haben müssen - und diese natürlich halten müssen.
Du glaubst gar nicht, wie lange ich darüber nachdenken musste. Normalerweise muss man sich mindestens ein Jahr vorher anmelden, also dachte ich schon, dass ich es vergessen konnte. Aber ein Internat ein paar Orte von meiner Tante entfernt hatte noch ein paar Plätze frei, also probierte ich es einfach. Es hat alles gepasst. Das Geld muss man immer am Ende des Jahres bezahlen."
Ich musste das erstmal verdauen. Ich auf einem College? Du liebe Güte. Wie konnte sie das nur ausmachen, ohne mich zu fragen? Wie viel kostete die Scheiße überhaupt?!
„Und wenn ich nicht auf das College gehen möchte?"
Sie lachte. „Du wirst es lieben. Meine Tante war auch dort. Es war die beste Zeit ihres Lebens. Partys, neue Freunde, Sex, einfach alles."
Ich stimmte in ihr Lachen mit ein. „Ja, ich gehe wegen dem unglaublich tollen Sex dorthin."
Sie kicherte. Oh man. „Nein, ernsthaft. Es wird toll, glaub mir. Wir müssen zwar lernen, aber das ist doch die perfekte Gelegenheit, deine Eltern stolz zu machen? Du kannst dein Abi dort machen. Dann hast du zumindest ein Ziel erreicht. Studieren kannst du dir immer noch überlegen."
„Wie kamst du eigentlich darauf? Du bist doch stinkfaul", entgegnete ich.
Marleen schmunzelte. „Ja, schon. Ich dachte einfach, es ist eine gute Idee, neu anzufangen, weißt du. Diese Assis hinter uns lassen und endlich mal unser Leben in den Griff bekommen."
„Manche Assis sind aber unsere Freunde, Mar. Und wir haben sie im Stich gelassen." Wieder schnürte sich mein Hals bei diesem Satz zu.
„Reg dich ab. Ich wette mit dir, dass ein paar auch abgehauen sind. Außerdem hätten sie uns auch im Stich gelassen, wenn wir nicht zum Van gekommen wären."
Wieso konnte sie das so locker nehmen? Ich konnte es nicht. Mich erwürgte der Gedanke, dass ich sie im Stich gelassen hatte. Und dass ich eine Alarmanlage vergessen habe einzuzeichnen. Und dass wir Schüsse gehört hatten. Sie sagte jedoch nichts mehr dazu, sondern kam auf ein ganz anderes Thema.
„Wir können jetzt eigentlich die Sachen ausziehen, wir sind gleich auf dem Highway." Sie hielt am Straßenrand. Ich schnallte mich ab und zog die Maske ab. Was für ein Glück, dass es dunkel war und uns keiner mit den Masken gesehen hatte.
„Was für eine Befreiung", grinste Mar. Ich nickte und zog mich bis auf die Unterwäsche aus, dann zog ich mir schnell irgendetwas anderes aus dem Rucksack über.
„Die Maske müssen wir irgendwie verschwinden lassen, der Rest fällt ja nicht auf. Sind ganz normale Klamotten", erwähnte ich.
Was sollten wir mit den Masken machen?
„Wir zerschnippeln sie einfach, bis sie nur noch einzelne, unerkennbare Stofffetzen sind und schmeißen sie in den Mülleimer", entgegnete sie.
„Okay." Gesagt, getan. Mar holte eine Schere aus ihrer Tasche und zerschippelte die Masken. Sie hatte wirklich an alles gedacht, was sie alles dabei hatte, war verrückt. Dann schmissen wir sie in einen Mülleimer am Straßenrand und fuhren weiter.
„Du bist vollkommen bescheuert", fing ich irgendwann nach einer gefühlten Ewigkeit an. „Wir müssen doch ewig fahren."
Sie sagte nichts. „Wir wechseln uns einfach ab."
Darauf schlief ich ein.
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