Spieglein, Spieglein an der Wand
Moritz staunte nicht schlecht, als er das Schlafzimmer betrat, wo sein Partner auf seinem Prinzessinnenstuhl vor dem Schminkspiegel saß. Er trug nur seinen fliederfarbenen Morgenmantel und die Pantoffeln mit dem rosa Flauschbommel. Um Karsten herum lagen Berge von Kleidungsstücken in den schrillsten Farben verteilt, dazu sämtliche Moritz bekannten Federboas und mindestens die Hälfte all seiner Pumps.
"Du liebe Güte, Dicker, ich hab gedacht, du hast dich längst entschieden, was du tragen willst", brachte Moritz einigermaßen irritiert hervor, trat von hinten an Karsten heran und drückte ihm einen kleinen Schmatzer an den Hals. So schaute er ihm über die Schulter und vorn in den Spiegel, um zu sehen, was los war. Karsten wirkte nicht wenig echauffiert. Trotz seiner wie immer perfekten Make-up-Grundierung sah man, dass er gerötete Wangen hatte.
"Du hast leicht reden", gab Karsten zurück, "dein Anzug steht dir bei deiner Figur natürlich super und deine Frisur ist auch nicht gerade kompliziert!"
Moritz rollte etwas verständnislos mit den Augen.
"Es war deine Idee. Du hast gesagt, wenn wir jemals wieder zu einer Feier deiner nervigen Spießerfamilie fahren, dann gehst du in full Drag ..."
"Ja genau! Und darum will ich auch, dass es perfekt ist!" Karstens Stimme überschlug sich regelrecht. Er stand ganz kurz vor einer Krise und schniefte leise.
Moritz kannte diesen Zustand. Sein Dicker war nie gut drauf, wenn es um seine Familie ging und das jetzt war nur insofern untypisch, als sie es nun wirklich tausendmal besprochen hatten. Es wäre überhaupt kein großes Ding, wenn sie beide, wie die anderen Male zuvor, zu dieser Familienfeier fuhren, sich in Männerkleidung unter die Tanten, Onkel, Geschwister und Cousinen mischten und eben so taten, als wäre es die normalste Sache von der Welt. Nur war Karsten einfach nicht der normalste Sohn der Welt. Was auch immer man darunter verstehen könnte. Und er wollte nicht länger so tun, als sei er jemand anderes. Also was konnte Moritz tun?
"Es wird perfekt sein, Schatz, okay?! Komm, ich helf dir."
Moritz blickte sich um und fand auf dem Bett, irgendwo zwischen Tüll und Glitter Karstens Lieblingsperücke, die mit den langen schwarzen Locken.
"Hier, nimm die, in der siehst du immer toll aus und es ist noch ein bisschen Flitter-Konfetti von deinem letzten Auftritt drin."
"Oh! Danke", schniefte Karsten und lächelte seinen Partner an, während er sich das Teil aufsetzte.
"Was brauchst du jetzt?", fragte Moritz, als ob er das nicht wüsste, aber es half immer, wenn er sich bei dieser Verwandlung von Karsten in Charlene ein wenig doof stellte.
"Na was schon, du Dummerchen", wies Karsten ihn jetzt mit zunehmender Begeisterung an, "meine Corsage natürlich. Die liegt da hinten irgendwo."
"Alles klar." Moritz holte also die Corsage aus der Ecke neben dem Schrank. Dann half er seinem Dicken hinein. Das Teil war die Hölle, aber aus irgendeinem Grund besserte sich Karstens Laune deutlich, kaum dass Moritz das Werk vollendet und Karsten in Charlenes Form geschnürt hatte.
"Findest du, ich sollte abnehmen?", flötete Charlene.
"Auf gar keinen Fall, ich vergöttere jedes deiner Röllchen!", antwortete Moritz und meinte es auch so. Er liebte den Dicken, so wie er war, in jeder Hinsicht. Er lächelte ihn bestätigend an und endlich lächelte auch Karsten-Charlene. Damit war das Schwierigste geschafft. Jetzt war es praktisch egal, welches Kleid Moritz auswählen würde, denn es ging nur darum, Karsten das nötige Selbstbewusstsein zu geben, um voll und ganz Charlene zu sein. Er begann, den Haufen auf dem Bett zu durchwühlen.
"Wo ist denn dieses hinreißende Kleid mit den rosa Pailletten, das du immer trägst, wenn deine Lieblingsserie im Fernsehen läuft?"
"Was denn, der alte Fummel?"
"Ja, in dem siehst du immer zum Niederknien aus!"
"Oh, der liegt ... irgendwo da, weiter links ..."
Moritz fand das Teil im Handumdrehen und kam damit zum Spiegel, wo Charlene sich nur zu gerne von ihm hineinhelfen ließ. Zum Glück ging der Reißverschluss noch zu. Als auch das vollbracht war, drehte Moritz seinen Karsten vor dem Spiegel um, sodass sie beide sehen konnten, was für ein Bild der Mann mit der schwarzen Langhaarperücke und dem rosa Kleid abgab. Moritz legte das Kinn auf dessen Schulter und flüsterte ihm zärtlich etwas ins Ohr.
"Spieglein, Spieglein an der Wand ..."
Charlene begann zu strahlen. "Ich bin die Schönste im ganzen Land!"
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