Schein und Sein
„Ich weiß nicht, was du daran so aufregend findest, mein Brausebär. Das ist doch alles mehr Schein als Sein", stellte Moritz mit einem kritischen Blick auf die flimmernde Mattscheibe fest, während er nach der Schale mit Erdnussflips angelte, die zwischen ihm und seiner hauseigenen Wuchtbrumme auf dem Sofa klemmte.
„Wie kannst du so was nur sagen?", mokierte sich diese. „Der ESC ist das queere Ereignis des Jahres! Zumindest bei den Öffentlich-Rechtlichen. Stell dir nur mal vor, es gäbe ihn nicht! Wo wären wir denn da? Im Blauen Bock? Bei Silbereisen? Im Fernsehgarten? ..." Um ihre Worte zu unterstreichen, klimperte Charlene demonstrativ mit den angeklebten Glitzerwimpern und schnaufte etwas durch die Nase nach oben, was ihre türkisen Ponysträhnchen fliegen ließ. Sie wusste, das würde Eindruck hinterlassen.
„Da gebe ich dir ja recht", räumte Moritz mit einem entschuldigenden Schmollmund ein, „aber, wenn du mich fragst, ist eine über das Jahr verteilte Repräsentation doch das, was wir wollen. Nicht dieses grellbunte Knallbonbon einmal im Jahr. Und jetzt schau dir das an: schon wieder ein Trickkleid! Warum müssen die Mädels immer gleich ausziehen?"
„Das stört dich doch sonst nicht!", beschwerte sich seine Diva im Scherz und fuhr ihm mit der Spitze ihrer regenbogenfarbenen Federboa über die Nase.
Moritz musste erst niesen und dann zugeben, dass es so war. „Deine Trickkleider sind was anderes, Darling. Da interessiert mich ja auch, was drunter ist."
„Wie frech, mein Mo!", kam es mit einem Auflachen. "Glaubst du wirklich, dass du da heute noch eine Chance hast, wenn du hier über den ESC lästerst?"
Nach kurzer Überlegung entschied der hübsche Brünette, die Taktik zu ändern. Im Fernsehen rappte inzwischen eine Russin mit goldenem Turban.
„Dann verrat mir doch mal, mein Bärchen, was dich daran so fasziniert."
„Ach, das haben wir doch jedes Jahr und trotzdem kapierst du es nicht. Dafür bist du einfach zu ..."
„Ich bin zu? Da bin ich mal gespannt." Moritz spitzte die Ohren.
In einer kurzen Kunstpause holte Charlene Luft, bevor sie es ausposaunte. „Na, zu cis!"
„Zu cis?! Du hast mir doch für heute Abend extra deine pinke Puschelboa geliehen. Wie kann ich da zu cis sein?" Leicht echauffiert langte Moritz volle Pranke in die Flips.
„Du bist sooo sexy, wenn du dich aufregst", flüsterte Charlene nun, aber in Karstens Stimmlage.
Wie um zu beweisen, dass sie falsch lag, fuchtelte Moritz etwas unelegant mit den Puschelenden, was Charlene zum Lachen brachte.
„Siehst du, das meine ich", setzte sie nach. „Aber dafür hab ich dich ja."
Ihr Süßer schaute etwas ratlos.
„Sieh es doch mal so, mein Mo", begann sie zu erklären. Die Frau da mit dem Turban sieht wirklich voll albern aus. Und auch wie sie sich bewegt: mittelmäßig, bestenfalls." Bei diesen Worten ließ Charlene die ganze Diva heraushängen. Sie war nicht umsonst die gefragteste Travestie-Künstlerin nördlich des Berliner Currywurst-Äquators. „Und trotzdem kriegt sie Applaus. Und sie hat Spaß. Das ist es, worum es dabei geht. Egal, wie bekloppt man sich auf der Bühne des Lebens anstellt, Applaus hat man trotzdem verdient. Als ich klein war, wollte ich das auch: So wie ich bin ins Rampenlicht und dafür beklatscht werden, auch wenn's schiefgeht."
Am Abschluss dieser kleinen Rede, die Charlene selbst durchaus gelungen fand, beugte sie sich zu ihrem Mo vor und setzte ihm einen kleinen Schmatzer auf die Nasenspitze.
Er lächelte. „Das hast du geübt, oder? Ich sehe ein, dass es dann so etwas Tolles für dich ist, was die da veranstalten."
„Nein, so was improvisiere ich dir auch mal eben, mein Cis-Schnuggi. Und jetzt hole ich uns noch etwas Vanilleeis, danach kuscheln wir unter der Decke während der gaaaanzen Punktevergabe."
„Oh, das ist lang", bemerkte Moritz erfreut.
„Hast du dir verdient."
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