Mimik
Es war einer der seltenen Nachmittage, an denen Moritz relativ ungestört zuhause arbeiten konnte. Mit anderen Worten, ihm war schon seit einer Weile langweilig, denn wenn nicht ab und zu eine kleine Unterbrechung kam, sei es in Form des Post- oder Hermesboten, der älteren Dame von unten, der ihre Wohnungskatze wieder im Treppenhaus entlaufen war, oder, was häufiger der Fall war, in Gestalt von Karsten aka Charlene, dann blieb ihm fast nur der Weg zum Vanilleeis im Gefrierfach, um mal kurz vom Notebook aufzustehen. Doch als er aufsah, stand sein Süßer tatsächlich gerade im Türrahmen und schaute, als ginge es um etwas Wichtiges.
„Duhu, Moo", begann er im Flötenton wie so oft und kombinierte dieses Intro mit einem Augenaufschlag, der seinem Alter Ego, Charlene würdig war.
„Was gibt's denn?", fragte Moritz und tat ein wenig so, als fühle er sich gestört. Eigentlich mehr so für's Protokoll, denn er war ehrlich nicht besonders überzeugt vom Homeoffice.
„Weiß du wo die ganzen kleinen, bunten Pins mit der Regenbogenflagge hingekommen sind? Die mit der Werbung für's Chez Charlene?"
„Was willst du denn damit, der Club wird noch 'ne Weile zu sein."
Die Neugier des hübschen Brünetten war längst geweckt und er stand auf, bereit, beim Suchen zu helfen. Außerdem fiel ihm ein, dass Karsten sich erst gestern so einen Anstecker an die Weste gefummelt hatte, kurz bevor er zu seinem neuen Aushilfs-Job gegangen war. Mo bekam jetzt so eine Ahnung.
„Stell dir vor, Schatz", legte Karsten los. „Ein paar von den älteren Leuten, die ich da vom Taxi ins Impfzentrum geschoben habe, wollten wissen, was das für ein hübscher bunter Anhänger ist. Und da habe ich ihnen das erklärt. Die waren ganz nett und fanden das toll, dass ich ihnen helfe, jetzt, wo ich gerade nicht auftreten darf."
Moritz stellte sich in der Tat sehr bildhaft vor, wie sein Muckl da die Alten betüddelte und gleichzeitig Werbung in doppelt eigener Sache machte : Gay Rights und Charlenes Show. „Da ist doch bestimmt dem einen Opa oder der anderen Oma die Mimik entglitten, möchte ich wetten", tastete er sich vor, um mehr zu erfahren.
„Ach iwo!" Karsten winkte mit einer dramatischen Geste ab. „Die sind voll auf unserer Seite! Eine Omi meinte doch glatt, wir Minderheiten müssten eben zusammenhalten. Gerade in diesen Zeiten! Und jetzt möchte ich da morgen Pins verteilen."
„Alles klar!" So wirklich war es das nicht, aber wenn es um die Sache ging, dann war Moritz immer dabei. Und die Anstecker zu suchen war gerade spannender als Webdesign. So dauerte es nicht lange, bis sie das Tütchen mit den Dingern in der Küchenschublade fanden. Irgendwie fand Moritz, wäre es dann Zeit für ein Eis.
„Du willst jetzt Eis essen? Mitten am Tag?" Karsten tat entrüstet und Moritz fiel direkt wieder ein, zu welchem Zweck sie das gute Langnese zuletzt entfremdet hatten.
„Na ja, nur essen, nicht gleich wieder sooo schlecken", erklärte er und lauerte auf Karsten-Charlenes Reaktion.
„Das hoffe ich für dich, mein Lieber", neckte dieser. „Ich brauche nämlich nochmal deine Hilfe". Wieder der Augenaufschlag.
„Was ist denn noch?"
„Weil das heute so toll war, möchte ich morgen als Charlene gehen. Du weißt schon. Im Fummel. Nichts großes, aber so im Siebziger Look. Ganz leger. Im Häkelrock mit Hippiebluse."
Moritz ließ das kurz sacken. Okay: damit war zu rechnen gewesen. „Und für welchen Teil davon brauchst du meine Hilfe?"
„Na, ich kann da nicht so lange auf Absätzen rumlaufen ..."
„Kannst du nicht?"
„Nein."
„Okay, also?"
„Du musst mir helfen, die Absätze von meinen Karsten Lobotins abzusägen." So. Das war raus. Augenaufschlag.
Moritz schaute etwas skeptisch. Es hatte seinen Knuffelbären echt Mühe gekostet, die billigen High Heels von Deichmann mithilfe roten Nagellacks an den Sohlen so herzurichten, dass sie fast aussahen wie die Treter von Viktoria Beckham.
„Du opferst die Absätze deiner nachgemachten Lobotins für den Job im Impfzentrum? Alle Achtung!", lobte er.
„Für die Sache, mein Mo. Alles für die Sache mit den Minderheiten. Was meinst du, was die netten Senioren gucken werden!"
Moritz lächelte. Ja, das konnte er sich vorstellen. „Ja, die sind bestimmt noch nie von einer Künstlerin im Hippie-Kostüm mit abgesägten Schuhen im Rollstuhl kutschiert worden."
„Siehste. Also hol die Laubsäge. Ich nehm' schon mal das Eis aus dem Gefrierfach, damit es gleich schön cremig ist."
„Du hast auch immer die tollsten Ideen", fand Moritz und machte sich auf.
„Und du machst mit, mein Zuckerstück!"
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