Jekyll and Hyde
Moritz und der Mann an seiner Seite, der es heute zum ersten Mal wagte, vor seiner Familie als Charlene zu erscheinen, betraten zusammen mit der kleinen Nichte in pfirsichfarbener Federboa den gut gefüllten Tanzsaal des Gemeindehauses. Für einige, scheinbar unendliche Sekunden tat sich gar nichts. Wahrscheinlich war die Sippschaft so unvorbereitet auf das Erscheinen eines Mitglieds in Drag, dass sie Karsten überhaupt nicht erkannten. Der drückte noch immer die Hand des kleinen Mädchens und hielt tapfer Ausschau nach dem Silberpaar, seinen Eltern Lutz und Sabine. Moritz fand die ganze Situation etwas merkwürdig, denn er hatte fest damit gerechnet, dass Karstens Familie mit irgendeiner Art Aufschrei der Empörung reagieren würde, so als habe sich Dr. Jekyll gerade in Mr. Hyde verwandelt, aber nichts davon geschah. Nicht sofort jedenfalls.
Charlene nahm jetzt ihre Bühnenpose ein und hatte ganz offensichtlich das Silberpaar an einem Tisch mit den Blumen und Geschenken ausgemacht.
"Da sind sie, Mo, komm! Auf in den Kampf!"
Moritz lächelte seinem Karsten zu, dann gingen sie zielstrebig zu dessen Eltern, die mit anderen Gratulanten beschäftigt waren. Auf dem Weg zu ihnen nahm Moritz jetzt den ein oder anderen überraschten Blick wahr. Diejenigen unter den Gästen, die ihn als den Freund von Karsten erkannten - und immerhin waren die beiden so weit schonmal gegangen, den attraktiven jungen Mann als einen, wenn auch nicht den Freund vorzustellen - schienen zu realisieren, dass die moppelig-dralle Brünette im rosa Glitzerkleid nicht dessen Freundin war.
"Ist das etwa ...?"
"Das kann doch nicht sein, oder?"
"Hast du so was schon mal gesehen?"
"Na, die trauen sich ja was!"
Charlene ging vollkommen unbeeindruckt weiter, schaute nur kurz zu ihrem Süßen herüber, dann hatten sie das nichtsahnende Silberpaar auch bereits erreicht.
"Hallo ihr zwei! Ganz, ganz herzlichen Glückwunsch!", eröffnete Charlene die Begrüßung.
Ihre Stimme klang ganz eindeutig wie die von Karsten, aber eben höher als sonst. Beide Eltern drehten sich zu ihrem Sohn um und sahen aus, als könnten sie ihren Augen nicht trauen. Weder Lutz noch Sabine brachten irgendein Wort heraus und so starrten sie nur.
Moritz fand es besser, jetzt einzugreifen und zwar mitsamt der niedlichen kleinen Nichte. Er machte einen Schritt vor und sah Charlenes Eltern direkt ins Gesicht.
"Herzlichen Glückwunsch, euch beiden!"
"Ja", brachte Lutz etwas verdattert heraus. "Moritz, richtig? Danke ... ja."
Seine Frau, die noch immer auf ihren Sohn stierte, sagte noch immer nichts.
"Schöne Deko habt ihr hier", begann nun Charlene, wie beiläufig. Ganz offensichtlich wollte sie sich auf gar keinen Fall vom Kurs abbringen lassen.
Beim Stichwort "Deko" taute Sabine jetzt halb an.
"Ja, ... nicht wahr? Ist von Frau Kruses Blumenladen an der Ecke, weißt du doch sicher, ... Karsten."
"Oh, heute bin ich als Charlene gekommen, Mutti. Ich hab mir schon so lange gewünscht, dass ihr sie endlich kennenlernt."
"Karsten, was soll das!?", ging sein Vater nun dazwischen. "Das ist nicht witzig!"
Lutz sah sich im Saal um, mit einem Mal der Tatsache bewusst, dass sie hier praktisch in der Öffentlichkeit standen. Es war wohl am besten, einfach Ruhe zu bewahren.
Um die Situation fürs Erste zu retten, kam auch Moritz dazu.
"Das soll ganz gewiss kein Witz sein. Es ist einfach nur die Wahrheit."
Inzwischen lief Karstens Schwägerin Jutta herbei, um die kleine Nichte zu sich zu holen. Das Mädchen schaute etwas empört und wollte seiner Mama widersprechen, aber die hatte sie schon am Arm gepackt, sodass Charlene die Hand der Kleinen gehen ließ und ihr nur ein kleines Bussi zum Abschied zuwarf.
"Bis später, Liebes!"
"Heißt das, ihr wollt bleiben?", fragte Lutz und sah zu seiner Sabine, in der Hoffnung auf Rückendeckung.
"So?"
"Auf der Einladung stand etwas von formeller Kleidung", wandte Moritz ein, "und ich finde, wir sind formell genug oder etwa nicht?"
Er schaute zu Charlene.
"Aber ja!", fand sie. "Das ist nachgemachter Lacroix. Lacroix wird auf dem Dorf doch wohl formell genug sein!"
"Bitte!", meldete sich Sabine zu Wort. "Keinen Aufstand! Setzt euch einfach zu euren Platzkarten und ... "
"Oh, schon klar! Danke Mutti", zickte Charlene zurück.
Sie war enttäuscht. Allerdings fand Moritz, dass diese Schlacht nicht in dem Sinne verloren war. Am ehesten war das gerade eine Pattsituation.
"Komm, Charlene-Schatz. Wir schauen mal, was die für schöne Kärtchen gebastelt haben."
Sein Freund blickte etwas verlegen, denn er durchschaute das Manöver noch nicht s ganz. Aber so wie er Moritz kannte, wäre der Abend noch längst nicht vorbei. Beide nahmen sich bei der Hand und Charlene ließ sich von ihrem Moritz zu den freien Plätzen am Ende der Tafel führen. Hoch erhobenen Hauptes.
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