Eine Karte zur Weihnacht

Alle Jahre wieder, wenn die Supermärkte Spekulatius und Dominosteine in den Regalen führten, wenn Lichterketten in die Bäume gehängt wurden und die Kinder in der Schule die Klassenräume mit selbstgebastelten Sternen schmückten, dann wuchs die Unruhe in Karsten. Er blätterte in Zeitschriften, recherchierte auf Pinterest, schaute Youtube-Tutorials, kurz: Er suchte voller Vorfreude nach tollen Ideen für sein Weihnachts-Projekt, wie er es nannte. Sein Freund Moritz ließ ihn. Wenn er nachhause kam, hörte er gleich im Flur die ersten Vorboten des Festes. Karsten spielte seine Rock Christmas CD oder sang und pfiff selbst. Mit besonderer Hingabe machte er dabei Kostümentwürfe für die X-Mas Show am ersten Feiertag, abends im „Chez Charlene". Drei unterschiedliche Outfits würde er dafür benötigen - mindestens. In diesem Jahr erst recht. Zwar war nicht damit zu rechnen, dass der Teillockdown am Jahresende gelockert würde, aber gerade dann müsste seine Show im Livestream aus dem Wohnzimmer eben umso glamouröser sein. Seine Fans erwarteten nicht weniger als das. Und auch sein Schatz rechnete mit allem.

„Wo bist du, Brausebärchen?", rief Moritz, als er seinen Dufflecoat an die Garderobe hing.

„Im Atelier!", kam es flötend zurück.

Natürlich. So nannte Karsten sein Reich, eine Mischung aus Schneiderwerkstatt, Friseursalon und kreativem Chaos aller Art. Neugierig, was ihn dort erwartete, bog der hübsche Brünette um die Ecke und schaute zur Tür herein. Er staunte nicht schlecht. Da war ein großes Paket gekommen und Karsten musste es so eilig aufgemacht haben, dass viele von den kleinen Styroporteilchen der Verpackung im Raum verstreut lagen wie der erste Schnee. Nur in mintgrün.

„Hi! Was ist denn da gekommen?", fragte er und ließ sich ein Begrüßungsküsschen geben.

Karsten war gerade dabei etwas anzuprobieren. Er trug sein Lieblings-T-Shirt mit dem Einhorn vorne drauf, eine schwarze Leggings und einen Reifrock darüber. Das war es also, woran er da seit Tagen gebastelt hatte ...

„Oh, mein Mo! Ich bin so aufgeregt. Das ist ein Teil von deinem Kostüm für die Weihnachtskarten!", verkündete er die frohe Botschaft.

„Ein Teil für mich?"

„JA!"

Die Spannung stieg gewaltig. Seit Moritz mit Karsten und dessen Alter Ego Charlene zusammen war, machten sie jedes Jahr ein gemeinsames Foto als Postkartenmotiv für Freunde und Familie. Aber natürlich musste es in ihrem Fall immer eine ganz besondere Inszenierung sein. Immerhin war Karsten/Charlene einer der buntesten Vögel der Stadt. So hatten sie schon einen Rauschgold-Engel in regenbogenfarbenem Gewand und einen davor knienden Hirten in Lederhose, eine Mischung aus Kometen und Engel mit einem erstaunt zum Himmelskörper zeigenden orientalischen Prinzen und ähnliche Dinge mit oder ohne Gummibaum und Yucca-Palme.

„Verrätst du endlich, was du ausheckst?", wollte Moritz wissen, als er in den Karton starrte und nicht gleich verstand. Darin war so ein hässlicher Anzug für eine Schwangerschaftssimulation in Grau. Karsten hatte doch nicht etwa vor, die schwangere Maria darzustellen? Das passte nicht zu dem Reifrock und der wallenden blonden Perücke, die er sich soeben spontan übergezogen hatte.

„Na schau mich doch mal an, mein Mo. Wie sehe ich aus?", kokettierte Karsten jetzt mit Charlenes Flötenstimme und nahm etwas in die Hand, das aussah wie ein goldener Stern am Zauberstab.

Moritz suchte schnell nach einem passenden Kompliment.

„Du siehst aus wie ... eine Weihnachtsfee."

„Ach, du wieder", kicherte Charlene. „Wer hat denn von so was je gehört? Niemand. Überleg noch mal: ein Traum von einem Kleid aus silbernem und goldenem Taft. Dazu eine blonde Mähne wie aus einem Renaissance-Gemälde von Raffael. Na?"

„Trägst du auch gläserne Schuhe?"

„Nein, die sind doch schon kaputt", winkte Charlene mit Stab-Gefuchtel ab. „Und überhaupt: ganz kalt!"

Da konnte Moritz noch so lange raten, er kam nicht drauf. Und selbst wenn, wäre es lustiger, seinen Dicken ein bisschen zappeln zu lassen. „Hilf mir."

Charlene wirkte leicht echauffiert, was unter Garantie gespielt war. Im Grunde liebte sie es, wenn sie ihren Mo überraschen konnte.

„Na, ich bin natürlich das Christkind!"

Die Überraschung war gelungen.

„Wow!", rief Moritz. „Da hätte ich drauf kommen müssen!", gab er lächelnd zu, bevor sich ihm eine niedliche, aber kritische Falte auf der Stirn formte. „Und dieser Babybauch-Simulations-Anzug ist für mich als ...?"

„Na, du bist natürlich der Weihnachtsmann!"

„Ich?"

In Moritz Hirn ratterten nun die Rädchen. Groß und schlank sah er nun wirklich nicht wie ein Santa aus. Wie kam Karsten nur dazu, ihm so einen künstlichen Bauch verpassen zu wollen ...?

„Oh, warte!", dämmerte es ihm urplötzlich. „Das ist die Reaktion auf letztes Jahr, richtig?"

Karsten, nein, Charlene, klimperte mit den Augen, auch ohne angeklebte Wimpern. Also hatte Moritz ins Schwarze getroffen.

„Keine Ahnung was du meinst", wehrte sie auffallend schnell ab. „Der Weihnachtsmann ist eine wirklich tolle Rolle ..."

„Du willst, dass ich so ein Ding trage, in dem ich einen Bauch habe wie im 9. Monat! Und das, weil ich im letzten Jahr das Jesuskind gespielt habe! Dabei war das deine Idee ..."

„Na ja, und wenn schon. Meine Idee. Ja! Ich dachte es ist voll supi, weil wir da den Turban von deinem Prinzen aus dem Morgenland nochmal verwerten können, so als Recycling. Ich habe nicht daran gedacht, was du für eine Sahneschnitte bist und dass du mir die Show stiehlst."

„Ach, das war nicht dein Plan?"

„Nein! Wenn ich gewusst hätte, dass mich hinterher alle darauf ansprechen, wie heiß du in der Krippe ausgesehen hast, mit nichts an als deiner Turban-Windel, hätte ich das nie gewollt."

„Du hast das genau gewusst. So wie du als Maria anbetend daneben sitzt und auf die Windel guckst."

„Na schön: ja. Aber ich wollte eben zeigen, wie sehr ich dir zugetan bin. Und nicht, dass du sooo im Mittelpunkt stehst."

„Na, da bin ich aber beruhigt, dass es nicht nur darum ging, deine Eltern zu schocken."

„Jetzt übertreibst du. Immerhin hattest du eine Windel an. Und meine Eltern mögen dich."

„Das musst du jetzt ja sagen."

Charlene war nun ein wenig beleidigt, denn es war nicht übertrieben, dass die Eltern Moritz mochten. Seine Mutti war sogar richtig begeistert von ihm. Etwas zu sehr sogar, denn das Gerücht ging um, sie hätte die Weihnachtskarte vom letzten Jahr den anwesenden Damen vom Roten Kreuz bei der Adventsfeier im Schützenhaus gezeigt. Und eben so etwas musste in diesem Jahr unbedingt vermieden werden.

„Ach, mein Mo", begann sie zu zirpen. „Wenn du wüsstest!"

„Wenn ich wüsste, was?", hakte er misstrauisch nach.

„Oh, fast nichts. Nur etwas, das mir zu Ohren gekommen ist."

Moritz fand, er war jetzt lange genug auf die Folter gespannt und verlangte Aufklärung:

„Jetzt mach's nicht so spannend, Zuckerbär, wer noch, außer dir, all deinen Fans vom Club Charlene, unseren Freunden und meinen Arbeitskolleginnen fand das Kartenmotiv mit mir fast nackig so heiß, dass es dich stört?"

Da half kein Ausweichen mehr. Im Grunde war es ein Wunder, dass Moritz nicht schon von selbst darauf gekommen war.

„Meine Mutter ...", murmelte Charlene endlich und klimperte mit den Augen.

Vielleicht fand ihr Verlobter es ja gar nicht so schlimm. Sie lauerte, ob er schon eine Reaktion zeigte, doch er schien zu ahnen, dass dies noch nicht alles war.

„... und ihre Schwestern vom Roten Kreuz."

„Au Backe!"

Moritz ließ es jetzt einfach raus. Erst den Ausruf, dann folgte ein herzliches Lachen, das so bald kein Ende fand. Charlene war nicht gleich klar, was das zu bedeuten hatte. War er jetzt hysterisch?

„Ja, aber, Mo? Was ist denn? Findest du das so witzig? Bist du nicht sauer?"

Noch immer lachend, hatte dieser Mühe zu antworten.

„Oh! ... Karsten, ich meine, Charlene-Schatz! ... Ich lebe zusammen mit dir und so wie du bist. Glaubst du, da kann mich noch irgendetwas groß erschüttern?" Als das gesagt war, schaffte es Moritz, trotz des ausladenden Reifrocks, seinen Freund in den Arm zu nehmen. „Ich finde es total süß von dir, dass dir das unangenehm ist, wenn deine Mutti unser Bild rumzeigt. Aber damit war zu rechnen ..."

Erleichtert entspannte sich Charlene.

„Und wenn schon", fand sie und klang schon wieder etwas schnippisch. „Du bist mein Mo und die doofen Tussis sollen sich ihre Männer angucken. Und deine Arbeitskolleginnen auch."

Ein Blick auf ihren Süßen verriet ihr, dass der nun noch auf etwas wartete. „Tschuldigung", fügte sie also hinzu. „Das war echt überdreht von mir letztes Jahr."

„Angenommen. Und wenn es dir so wichtig ist, dann spiele ich halt den dicken Santa im klassischen rot-weißen Mantel. Ich steh ja auf Röllchen, weißt du doch."

Wie zum Beweis kniff Moritz Charlene einmal keck in die Seite.

„Du wirst trotzdem ganz hinreißend aussehen, wie immer!", jubelte sie.

„Nicht so hinreißend wie du", gab er das Kompliment zurück.

„Aber dicht dran. Du bekommst Bart und Perücke in Regenbogenfarben!"

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?"

„Du hast mich ja nicht zu Wort kommen lassen."

Moritz nickte, obwohl er seine Zweifel hatte. Aber was machte das schon? Es war Advent, die schönste Zeit des Jahres und er hielt seinen Süßen im Arm, der ihn gerade wieder verzaubert hatte. So beschloss er, ihn wirklich nicht zu Wort kommen zu lassen, beugte sich vor und schenkte ihm einen langen, liebevollen Kuss. Schade, dass es davon hinterher kein Foto für die Weihnachtskarten gab. 


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top