Alte Traditionen

Karsten saß schon seit einer geschlagenen Stunde vor seinem Schminkspiegel und probierte ein neues Make-Up aus. Sein Haar hatte er dafür mit einem Stretchband nach hinten geschoben und nachdem er es mit verschiedenen Grundierungen versucht hatte, entschied er sich für die hellste. Es ging bei dieser Sache schließlich nicht nur darum, seinen trotz gründlichster Rasur im Laufe des Tages zurückkehrenden Bartschatten abzudecken, nein, für einen solch grandiosen Austritt wie den, zu dem er und Moritz sich nachher aufmachen würden, da wollte er geradezu elfengleich aussehen. Allein schon, dass sein Schatz nicht nur dabei war, sondern auch mittanzte, machte es zu etwas Besonderem.

„Wo bleibst du denn, Mo? Wir haben nicht ewig Zeit und du musst dich auch noch fertig machen!", rief er flötend ins Bad, wo sich sein Freund offenbar ohne Eile duschte und rasierte.

„Ich bin gleich fertig. Du brauchst doch immer viel länger als ich. Wir sind absolut im Fahrplan!", kam es zurück.

Im Fahrplan. Karsten wünschte sich, es wäre so, ihm kam es vor, als seien sie viel zu spät dran.

„Du weißt, es geht pünktlich um zwölf los!"

„Ja, Zuckerbär, ich weiß ..."

Im Grunde war dies einer der Tage, wo er seinen Liebsten für dessen Ruhe bewunderte. Im Vergleich zu Moritz war Karsten schon wieder viel zu aufgeregt. Und wenn er aufgeregt war, dann suchte er überall nach Schnökerkram, der ihn beruhigte. Suchen war zu viel gesagt: Er öffnete einfach die unterste Schublade seines Schminktisches und holte sich zwei Rorrero-Küsschen heraus. Danach waren seine Hände ruhig genug für den Lidstrich und das Ankleben der rosa-schwarzen Mega-Boost-Wimpern.

Als Moritz endlich kam, beugte er sich über seine Schulter, schaute im Spiegel nach, was Karsten so zauberte und gab ihm einen Schmatzer auf die Wange.

„Du wirst die schönste Kate am Platz sein", bemerkte er.

„Jetzt hast du Grundierung an den Lippen, ich war noch nicht gepudert!", mokierte sich Karsten, inzwischen ganz eindeutig als sein weibliches Selbst, Charlene.

„Ach, das hast du doch ruckizucki wieder gerichtet, Schatz", rief Moritz schon vom Schrank, aus dem er die beiden roten Flatter-Kleider holte, die sie tragen würden. Eins davon hielt er sich vor dem Spiegel an.

„Die Farbe stimmt zu hundert Prozent. Hast du gut ausgesucht."

„Dir steht knallrot ja auch, bei deinem Teint. Ich werde aussehen wie ein Mozzarella auf Tomate."

„Ja, zum Anbeißen!"

„Du bist und bleibst ein Charmeur, mein Mo."

Durchaus geschmeichelt klimperte Charlene nun mit ihren Wimpern. Die hielten.

Moritz verlor keine Zeit und zog sich sein rotes Kleid mit den durchscheinenden Trompetenärmeln an. Er sah die ganze Aktion, eine Choreografie von „Wuthering Heights" im Park mit hunderten von kostümierten Fans einzuüben, mehr als reinen Spaß und hatte für sich weniger den Anspruch an Perfektion als sein Dicker.

Als es endlich so weit war, dass sich Charlene mit ihrem Make-up zufriedengab, machte sich Moritz daran, ihr in das zweite Kleid zu helfen. Wie immer hatte Charlene aus Eitelkeit eine etwas knappe Größe bestellt, was aber ihre sexy Bären-Röllchen perfekt zur Geltung brachte.

„Du siehst super aus. Und das extra bisschen Flitter im Gesicht steht dir!", bewunderte Moritz das Gesamtkunstwerk.

„Jetzt fehlen nur noch unsere Perücken und es kann losgehen."

Charlene strahlte. Ja, sie würden toll aussehen.

„Das ist das erste Mal, dass wir so im Partnerlook gehen", zirpte sie begeistert.

„Stimmt, das ist neu", fand Mo und begutachtete ihre Erscheinung im Spiegel. Zweimal Kate Bush in rotem Kleid und mit dunkel-gelockter Langhaarperücke. Einmal schlank mit schwarzen Sneakern. Einmal drall mit flachen Ballerinas und aufgeklebten Glitzer-Sternchen.

„Sag mal", wandte er sich an seinen Süßen, „wie alt ist diese Sache mit „Wuthering Heights" im Park eigentlich? So lange kann es das doch noch nicht geben. Ich wollte das noch googlen."

„Ist doch völlig egal. Wo alte Traditionen fehlen, da schaffen wir eben neue und bessere, mein Mo!"

„Du hast wie immer recht. Und jetzt los, damit wir rechtzeitig da sind. Ich freu mich riesig, mit dir zu tanzen!"

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