Kap. 20
Amaya
Erneut öffnete ich träge die Augen. Doch dieses Mal befand ich mich nicht auf der Couch, sondern im Keller. Lediglich eine Decke befand sich zwischen mir und dem kalten Boden. Sofort bemerkte ich, dass ich angezogen war. Langsam kehrten meine Erinnerungen zurück. An das Spiel mit Levi, wie er es betitelt hatte. Augenblicklich begann mein Körper zu frösteln.
»Endlich bist du wach.« Erschrocken wirbelte ich herum und starrte in große, blaue Augen. Sofort wich ich etwas zurück, und blickte das Mädchen verwirrt an.
Was? Warum war hier noch ein Mädchen?
Die Bilder der toten jungen Frau erschienen kurz vor meinem inneren Auge und mein Magen verkrampfte sich. Im Keller selbst war nicht mehr die geringste Spur von diesem Blutbad zuerkennen.
Immer noch starrte mich das blonde Mädchen an. »Ich dachte schon, du seist tot«, fuhr sie fort und rückte näher zu mir. »Weißt du, wo wir hier sind?«
Zögerlich schüttelte ich den Kopf. Nein, ich wusste wirklich nicht, wo wir uns genau befanden. Ich selbst wusste ja nicht einmal, wie viele Tage ich schon fest saß. Geschweige denn, wie lange ich ohnmächtig gewesen war.
»So eine Scheiße!«, fluchte das Mädchen. »Das ist doch hier wie in einem Film, mit irgendeinen Psychopathen.«
»Erinnerst du dich, wie du hierhergekommen bist?«, fand ich meine Stimme und fragte mich, warum sie hier war. Wollte Levi etwa mit ihr das Gleiche anstellen, wie mit der jungen Frau davor?!
Ich zuckte unweigerlich zusammen, als das Mädchen plötzlich aufstand und sich im Raum um sah. »Ich weiß nur, wie ich im Park joggen war. Danach bin ich hier aufgewacht. Wie war es bei dir? Ich heiße übrigens Mikoto, und du?«
»Amaya … bei mir war es ähnlich«, presste ich brüchig hervor.
»Gott! Was ist das hier?! Wurden wir entführt?! Will man unsere Familien um Geld erpressen?!«, stellte sie Mutmaßungen an und ging unruhig im Raum hin und her, bis sie vor dem Regal stehen blieb, auf der sich der Glaskasten mit der Urne befand. »Ach du heilige …! Was ist das denn für eine Psycho-Scheiße ?!«, gab sie geschockt an und ihr Gesicht verzog sich zu einem wutverzerrten Ausdruck. Mit einem Aufschrei riss sie den Glaskasten herunter.
Meine Augen weiteten sich. Mein Herz setzte aus.
»Ich will hier raus!!«, schrie sie verzweifelt und krallte ihre Finger ins Haar. »Hey! Du Psycho hörst du mich?!«, brüllte sie von Sinnen. Ich sog scharf die Luft ein und starrte auf die Scherben auf den Boden. Graues Pulver hatte sich aus der Urne verteilt. Dessen Rauchwolke sich langsam verzog. Ich wusste nicht, warum, aber bei diesem Anblick zog sich meine Brust zusammen. Mir kam wieder Levi’s Gesichtsausdruck in den Sinn. Wie seine Augen kurz von Traurigkeit und Schmerz erfüllt waren, als er die Urne anblickte, bevor er sich die Pistole an die Schläfe gedrückt hatte. In dieser Urne war eine Person, die selbst ihm, der so krank war, am Herzen gelegen hatte. Aus einem unbekannten Grund empfand ich kurz Mitleid, das jedoch gleich von Angst überschattet wurde.
Wie würde Levi reagieren, wenn er dies sah? Würde er sie gleich töten? Würde er uns beiden etwas antun? Würde er uns quälen? Ich wusste es nicht. Und diese Ungewissheit raubte mir fast den Atem.
Mikoto hämmerte hysterisch gegen die Metalltür und schrie aufgebracht nach ihrer Freilassung.
»B-Bitte … beruhige dich!«, versuchte ich sie ins Hier und Jetzt zurückzubringen.
Mit wütender Miene drehte sie sich zu mir um und kam auf mich zu. »Was ist mit dir, Mädel?! Wieso bist du so ruhig?!«, zischte sie gereizt und kam vor mir, zum stillstand. »Bist du dumm, oder was?! Hilf mir gefälligst einen Weg zu finden hier herauszukommen!«
»Glaubst du, es ist gut, so kopflos hier herumzuschreien? Beruhige dich, und wir denken in Ruhe na -«
»Einen Scheiß werde ich! Ich will hier raus, verdammt! Oder … oder bist du eine Komplizin?!«, presste Mikoto atemlos hervor.
»W-Was? Nein! Keines falls!«, versicherte ich lautstark. Doch sie hatte recht. Obwohl ich Angst vor diesem Mann hatte … warum war ich so ruhig? Angesichts der Tatsache wozu dieser Mann fähig war, was er mir angetan hatte, was er mit der Frau gemacht hatte, wie er Tsujido getäuscht hatte …
Angesichts dieser ganzen Punkte müsste ich doch mit Mikoto zusammen arbeiten, und mir mit ihr zusammen überlegen, wie wir hier rauskommen. Wie wir Levi überwältigen könnten. Ich hatte doch ein paar mehr Informationen als sie. Warum teilte ich sie ihr nicht mit?
»Dann such mit mir nach einem Ausgang oder irgendwelche Gegenstände, mit denen wir uns wehren können! Wir sollten es ausnutzen, dass man uns nicht gefesselt hat!«
Mikoto hatte recht. Ja, sie hatte mit allem recht! Doch warum saß ich immer noch auf den Boden, und hatte kein Bedürfnis ihr zu helfen?! Es ging dabei ja auch um meine Freiheit. Um mein Leben. Warum zum Teufel empfand ich ihr herum Gekreische als eher nervig und wünschte mir, Levi würde bald auftauchen? Etwa nur, weil ich die Ungewissheit nicht aushielt?
»Komm! Steh endlich auf!«, knirschte Mikoto, packte meine Hand und zog mich auf die Beine. Augenblicklich stöhnte ich vor Schmerzen auf, und entriss mich ihrem Griff. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf meine verletzte Hand. »Oh mein Gott! Was …?! Entschuldige ich …«, sie hielt kurz inne. »Woher hast du diese Verletzung?«, flüsterte sie und ging ein paar Schritte zurück. Ich presste die Lippen zusammen und versuchte, in den Schmerz hinein zu atmen. Mikoto schüttelte panisch den Kopf. »Du … du bist schon länger hier, nicht wahr?«, hauchte sie schockiert und schlug die Hände über den Kopf zusammen. »Oh. Mein. Gott! Wir werden hier sterben! Wir kommen hier nie wieder raus!«, kreischte sie und hyperventilierte beinahe.
»M-Mikoto … hör mir zu, ich -«
»Nein!«, schrie sie verzweifelt und Tränen stiegen in ihre Augen auf. »Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du schon länger hier drin bist?! Du hast diesen Psycho schon getroffen! Oh mein Gott!« Wie eine Wahnsinnige wandte sie sich wieder zur Tür und rüttelte hektisch am Griff, ehe sie laut schluchzend auf die Knie sank. Wie versteinert beobachtete ich Mikoto und unterdrückte meine aufkommenden Tränen.
Zeitgleich zuckten ich und Mikoto zusammen, als plötzlich die Tür in einem Schwung aufsprang. Mikoto fiel rücklings auf den Boden, während jegliches Gefühl aus meinen Gliedern wich. Das Echo der Schuhabsätze halte im Raum wieder. Bedrohlich lichtete sich seine Silhouette, und Levi trat aus dem Schatten hervor.
»Oii! Was soll dieser gottverdammte Lärm?«, knurrte er tief und ich blickte automatisch in seine grauen, kalten Augen. Mikoto gab einen verächtlichen Ton von sich. Levi schritt weiter in den Raum hinein, wobei seine Augen mich fixierten. Wieder legte er dieses finstere Grinsen auf die Lippen. Eine Gänsehaut durchfuhr mich. Mit einem Schlag wich jeglicher Ausdruck aus Levi’s Gesicht, als er den zerbrochenen Glaskasten sah. Die dunkle Aura, die sich um ihn aufbaute, war regelrecht greifbar. Mein Herz hämmerte wie wild und ich traute mich nicht zu atmen.
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