Vorfall

Danach ich habe mich ins Shuttle gesetzt und bin zurück zu meinen Wohnbunker gefahren. Noch am gleichen Tag habe ich eine Nachricht erhalten, dass ich mich zu einem Gespräch mit der Kolonieleitung einfinden müsse. Mendel – oder die anderen – haben also keine Zeit verloren, mich anzuschwärzen. Das Gespräch hat allerdings nie stattgefunden, weil vorher schon alles zu Ende ging. Die nächsten Tage habe ich den Bunker nicht verlassen dürfen – auch dass stand in dieser Nachricht. Die offizielle Begründung lautete „aus Sicherheitsgründen" – aber nicht, weil ich da draußen einer Gefahr ausgesetzt gewesen wäre. Ich selbst war es, die eine Gefahr für andere darstellte. Zwei Veilchen haben ausgereicht – das waren schon genügend Gründe, mich unter Arrest zu stellen. Mir blieb also nichts anderes übrig als den ganzen Tag im Bett zu liegen oder am Tisch zu sitzen mit niemandem als der Kaffeemaschine und des Kolonial-Internets zur Gesellschaft und mir die Zeit totzuschlagen. Haha.

Mir ist gerade wieder eingefallen, dass – Also ich hatte ein paar Weintrauben bei mir. Ich habe sie überreif werden lassen und dann gegessen. Genau genommen war das illegal. Niemand in der Kolonie durfte Alkohol konsumieren, besitzen, verkaufen oder herstellen. Wenn das jemand herausgefunden hätte, dann wäre ich kommentarlos verbannt worden. Ich wäre vor Langeweile gestorben, hätten in unserem Kolonial-Internet nicht einige alarmierende Nachrichten kursiert, die ich in diesen Tagen gelesen habe. Leute waren verschwunden, waren nicht zurückgekehrt von Spaziergängen am Strand oder Wanderungen in den unbewohnten Gebieten. Zwei Kinder, die mit ihrem Vater an einem der weniger windigen Tage ein Picknick an einer Bucht gemacht hatten, waren nicht wieder nach Hause gekommen. Von keinem der Vermissten konnte man noch ein Funksignal empfangen. Ihre Sender, von Ihrer Firma. Ich habe meinen noch. Angehörige hatten um Hilfe gebeten; jeder, der etwas gesehen hatte oder wusste, wo die Verschwundenen hin sind, sollte sich schnellstens melden.

Ich konnte nicht auf diese Nachrichten antworten. Für die Dauer meines Arrestes war ich im Netz gesperrt.

Ich weiß nicht. Genau genommen wusste ich ja nicht, wo diese Leute waren. Ich habe ein Tier gesehen. Gut möglich, dass ich das mit der Kolonie geteilt hätte. Aber in meiner Situation waren mir die Hände gebunden. Ich konnte diesen Leuten nicht helfen.

Niemand würde mir helfen, wenn ich am Boden läge. Dass diese Menschen tot sind, hätte nicht sein müssen, aber nein – ich fühle nichts, wenn ich an sie denke. Weil ich sie nicht einmal kannte. Für mich waren es nur Namen, die verschwunden waren, keine Menschen mit Körpern aus Fleisch und Blut in meinem Leben. Es ist so einfach zu vergessen, dass wir nicht allein sind in der virtuellen Welt. So einfach, sich vollkommen gehen zu lassen. Ich kann deshalb verstehen, weshalb die IPGH die Automatische Netzsperre damals beschlossen haben. Ich bin zu jung, um die Welt vor der Netzsperre zu kennen, aber es muss verheerend gewesen sein, wenn sie so weit gegangen sind, den täglichen Internetkonsum übergreifend auf drei Stunden am Tag zu begrenzen.

Persönlich? Ich komme gut mit der Sperre klar. Anders kenne ich es ja gar nicht und ich wüsste auch überhaupt nicht, was ich den ganzen Tag im Internet machen sollte. Aber ich kannte viele – vor allem ältere Menschen – die ziemlich wütend auf die Politik waren deswegen. Viele von denen haben Jahre in einer Entzugsklinik verbracht oder mussten Pillen nehmen. Verrückt. Ich bin jedenfalls froh, dass ich nicht internetsüchtig war, als die Kolonie zerstört wurde, sonst hätte ich diese sechs Jahre wohl nicht überlebt und diese Nachrichten über die verschwundenen Kolonisten markierten im Nachhinein betrachtet den Anfang eines nahenden Endes. Uns blieb also nicht mehr viel Zeit, um uns auf einen Untergang vorzubereiten, den niemand kommen sah. Eigentlich war keiner von uns darauf gefasst.

Nein, nicht einmal ich hätte gedacht, dass es so kommen würde. Dass es so schnell kommen könnte. Es traf uns mit einem Schlag; wir waren den Kräften der Natur wehrlos ausgeliefert. In meinem Fall gab es ihn also wirklich, den einen Moment, von dem ich heute sagen kann, dass danach alles zu Ende war. Und ich – ich hab's denen ja gesagt. Das wir nicht allein sind. Keiner wollte es hören. Jetzt sind sie alle tot.

Genugtuung ...

Ja. Es gab mir damals Genugtuung und heute gibt mir das immer noch Genugtuung. Also? Verurteilen Sie mich. Dank denen saß ich jahrelang hier fest, wäre manchmal fast verhungert, gefressen worden, ertrunken oder verblutet. Und Sie sind sowieso nur hier, weil ich Ihnen ein Notsignal geschickt habe. Ich! Beschafft es mir innere Befriedigung, dass ein Teil der Verantwortlichen tot ist? Ja. Glaube ich, dass es dem anderen Verantwortlichen, Ihrer Firma, jetzt auch an den Kragen geht? Nein. Aber ich hoffe es. Haben Sie sich Pläne angesehen von der Kolonie?

Gut. Dann haben Sie gesehen, dass es zwischen mehreren eng beieinander liegenden Inseln Brückenverbindungen gegeben hat – für die Landshuttles – und dass unter Wasser, direkt unter den Brücken ebenfalls Trassen verliefen. Das waren die Unterseeshuttles. Innerhalb der Kolonie war jede Insel eng verbunden mit den Nachbarinseln, innerhalb einiger weniger Minuten fuhr man von F2101 im Nordareal zu E2116 im Südareal. Manchmal fuhr man direkt durch die Seegraswiese. Man sah nicht sehr viel, aber es sah sehr hübsch aus, vor allem an den raren Tagen, an denen die Sonne schien. Na ja. An dem Abend war es stockdunkel und kalt. Ich befand mich auf dem Nachhauseweg, saß im Landshuttle. Das war der Tag, an dem ich das Gespräch mit der Kolonieleitung haben sollte, aber es war abgesagt worden nachdem mehrere Mitglieder des Führungsstabes nicht zur Arbeit erschienen waren. Da sollte ich wieder zurück in meinen Bunker. Wäre ich irgendwo anders hingegangen, hätten sie das mitbekommen. Stichwort Sender. Es war später Nachmittag und das Shuttle war voll, weil jetzt alle von der Arbeit nach Hause fuhren. Ich saß allein, sah aus dem Fenster und hielt mich fern von allen anderen. Ich saß links im Shuttle, Blick in Fahrtrichtung, was bedeutet, dass der Ausblick nicht besonders interessant war. Da war das Meer und es war schwarz und der Himmel, der auch schwarz war. Wahrscheinlich habe ich meinem Spiegelbild in die Augen gesehen.

Glauben Sie mir, es gibt Dinge, die vergisst man nicht. Das waren die letzten Minuten meines Lebens bis dahin, in denen ich an etwas anderes denken konnte als daran, nicht zu sterben. Diesen Moment vergisst man nicht. Und er fühlt sich nicht so an, als läge er nur sechs Jahre zurück. Dass er überhaupt passiert ist, dass ich einmal – mehr oder weniger – sorglos einfach so gelebt habe und die Zeit gehabt habe, mir mein eigenes Spiegelbild anzusehen ... das erscheint mir so falsch. Ich kann mich auch noch sehr gut daran erinnern, was dann geschah. Es gab einen gewaltigen Ruck. Das Licht ging aus, ich wurde gegen den Sitz vor mir geschleudert und rutschte hinunter auf den Boden. Mein Glück, dass ich mir nichts gebrochen hatte. Andere hatten weniger Glück, das konnte ich an den Schreien hören. Noch eine Sache, die einem einfach nicht aus dem Kopf gehen will. Diese Menschen sind tot und das einzige, dass noch an sie erinnert, sind ihre Schmerzensschreie. Ich habe nicht geschrien, aber ich war geschockt und überrascht und mir war ziemlich schlecht. Ich habe mich dann wieder aufgerappelt und aus dem Fenster gesehen – alles war dunkel, da waren überhaupt keine Lichter mehr. Dann erzitterte alles, Leute schrien. Ich klammerte mich an den Sitz und schnappte mir eines dieser Dinger, die zur Sicherheit an jeder Schreibe angebracht werden. Die roten, mit denen man im Notfall das Glas zerschlagen kann. Die Idee hat mir das Leben gerettet. Alles um mich herum schepperte und da war dieses ekelhafte Geräusch von Stahl, der an Stahl reibt. Plötzlich fühlte ich mich taub, unnatürlich leicht ... wir fielen nach unten, viel zu weit nach unten und dann schlug das Shuttle mit einem zermürbenden Schlag auf der Wasseroberfläche auf. Unser Shuttle hatte es von einer der Brücken gerissen und wir hatten großes Glück, dass die Brücke nicht auf uns drauf gefallen ist. Das heißt, ich hatte das Glück. Das Problem war, dass die Menschen jetzt wirklich Panik bekamen, jetzt, da das Wasser eindrang. Wir befanden uns in einer Luftblase, aber die Wände und Fenster des Shuttles so stark beschäftigt, dass immer mehr Wasser immer schneller eindrang. Die Menschen überschlugen sich geradezu, sie wollten raus. Viele hyperventilierten. Andere verloren vollkommen die Kontrolle über sich, schlugen um sich, griffen an. Das Shuttle begann zu sinken, aber der hintere Teil schneller als der vordere, wo ich saß. Sie können Sich das vielleicht nicht vorstellen, aber es kitzelt einem ganz schön im Nacken, wenn man hinter sich das mörderische Gluckern einströmenden Wassers hört und dazwischen um Hilfe bettelnde Menschen, die gerade ertrinken und steckenbleiben zwischen den Leichen, die um sie herum leblos umhergeschleudert werden von den einströmenden Fluten.

Ich würde lügen, zu behaupten, keine Angst gehabt zu haben. Ich konnte nicht atmen; da waren zu viele Menschen um mich herum, und die Luft wurde weniger und dünner. Aber ich musste warten. Alles in mir schrie danach, die verdammte Scheibe einzuschlagen, um zu entkommen oder zu sterben, einfach um ihre Gesichter nicht mehr sehen und ihre Schreie nicht mehr ertragen zu müssen. Ich habe oft daran gedacht. Ans Sterben. Aber ich ... ich konnte es nicht ... Sehen Sie, wenn man sinkt, dann muss man warten bis der gesamte Raum voll mit Wasser ist. Das ist wichtig, weil man erst dann die Scheibe einschlagen kann. Erst dann, wegen des Druckausgleiches. Ansonsten erhöht man nur die Chance, draufzugehen. Deswegen musste ich warten und mir das Flehen und Gurgeln und das Sterben anhören. Irgendwann wurde es übertönt von dem Dröhnen des Wassers und als ich untertauchte, wurde es still. Jedes Geräusch wurde stumpf. Da waren ... sie schnappten nach Luft, das ist ein Reflex, nur dass da keine Luft mehr war und sie stattdessen Wasser in ihre Lungen pumpten und sie graublau anliefen. Erst jetzt zerschlug ich die ‚Scheibe, was nicht so leicht war, aber länger konnte ich nicht warten, weil wir nach wie vor sanken. Ich hatte keine Ahnung, wie tief unter Wasser ich mich befand. Ich konnte die Wasseroberfläche nicht sehen, einfach alles war dunkel. Aber ich war wieder allein; ich war ganz allein und auf mich gestellt, dem Tod so nah, dass es fast Spaß machte. Nein, nicht Spaß. Aber ich spürte das Adrenalin durch mich hindurchschießen und ich spürte mein Herz und wie es mir einen Takt vorgab. Ich schrie, als ich die Wasseroberfläche durchbrochen hatte. Ich weiß noch, dass der Wind in jener Nacht noch ein wenig stärker wehte als sonst schon und Orkane sind auf Ahti keine Seltenheit, manchmal halten sie tagelang an. Der Wellengang war schwer und ich konnte nichts sehen. Ahti besitzt ein Dutzend kleinerer Monde, aber die sieht man nur selten, weil es fast immer bewölkt ist. Man sah gar nichts, auch nicht die Wellenberge, die einen wieder unter Wasser drückten und einem schmerzhaft die Luft aus den Lungen pressen bis man fast das Bewusstsein verliert.

Ich gebe zu, an den Teil erinnere ich mich nur deshalb so gut, weil ich ihn mehrere Male durchlebt – das heißt überlebt – habe. Glauben Sie mir, ich habe Angst vor Wasser. Sehen Sie mich an, sehen Sie sich meinen Körper an. Sehen Sie die hier?

Dazu komme ich noch. Ich habe Ihnen versprochen, alles der Reihe nach zu erzählen und wie ich zu der hier gekommen bin, steht sehr weit am Ende der Geschichte. Also. Ich habe ja schon erwähnt, dass die ganzen Lichter ausgefallen sind. Sie haben in Ihrem Leben wahrscheinlich noch nie einen Stromausfall erlebt, genauso wenig wie ich. Ich meine, das Mittelalter haben wir hinter uns gelassen, stimmt's? Aber es war wirklich so – wohin ich auch sah, alles war finster. Die Trassen, die Bunker, nichts war mehr beleuchtet. Ich war vollkommen orientierungslos und das salzige Meerwasser brannte mir in den Augen, ganz zu schweigen von der Kälte des Wassers. Ihrem Körper geht es gut, aber es sind die Hände und die Füße, für die man das Gefühl verliert. Bis man am Ende nur noch im Wasser herumpatscht und schließlich ganz starr wird – dann dauert es nicht mehr lang und man unterkühlt.

Ich habe mich von den Wellen leiten lassen. DerWind kommt hier meistens aus Westen oder Südwesten, wenn man also west- bissüdwestlich der Inseln im Wasser schwimmt, dann wird man direkt an die Küstegespült. Ich musste also nur mit dem Strom schwimmen, versuchen mich zu bewegenund nicht zu erfrieren. Der Plan ging jedenfalls auf, weil ich an einen Strandgespült wurde. Wenn ich mich recht erinnere, blieb ich einfach da liegen. Ichwar am Ende. Es gab nur ein Gefühl, für das ich noch Raum hatte und auch darankann ich mich nur deshalb erinnern, weil ich die letzten drei Wochen wiederdamit leben musste – nämlich mit dem Gefühl, der letzte Mensch auf diesemPlaneten zu sein. Das ist ein Gefühl, sage ich Ihnen. Ein bittereres kann es gar nicht geben.

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