Verlust

Selbstverständlich gelang es mir nicht gleich, mich wieder zu beruhigen. Der Schock saß zu tief und unsere neue Realität schien schlicht zu grausam. Du kannst nicht glauben, was gerade vor sich geht - du willst es nicht glauben. Auf der einen Seite wärst du gern allein mit deinen Gedanken. Du schämst dich, dass jemand dich in diesem Zustand sehen muss. Am Boden. Dann widerum beruhigt es dich, nicht die Letzte auf dem Planeten zu sein. Und zum Schluss holt dich die alte Gewissheit wieder ein, die dich schon seit Jahren verfolgt - dass gerade du noch nie jemanden gehabt hast. Dass gerade du schon immer für dich allein gestanden hast, weil niemand dich bei sich haben wollte.  Ich habe mich immer unwohl gefühlt in der Nähe von Menschen. Meine Haut fing dann immer an fast schon schmerzhaft zu prickeln, ich wurde ganz steif und mir wurde heiß und der Kopf tat mir weh. Die Mittagspausen im Speisesaal waren meine persönliche Hölle. Alle sehen dich an sobald du durch die Tür kommst und sehen dann blitzschnell wieder weg, als würden sie auf jemanden warten, aber ganz sicher nicht auf dich. Am Ende sitzt du abgesondert von allen anderen, ganz allein an einem Tisch und musst ihnen beim Lachen und Gackern zuhören und es quält dich so sehr, dass du dir die Ohren zuhälst, aber es bringt nichts. Ihr Glück und dein Unglück haben sich bereits fest eingenistet in deinem Kopf und dann brichst du zusammen unter der Last. Du hälst es nicht mehr aus. Du kippst einfach vom Stuhl und schreist und hoffst, aber vergeblich ... Irgendwann bekam ich die Erlaubnis der Stationsleiter, die Mahlzeiten in meinem eigenen Zimmer einzunehmen.  Mein Psychologe riet mir davon ab; er meinte, je mehr ich menschlichen Kontakt vermeide, desto schlimmer würde es werden. Trotzdem hat man mich hier aufgenommen – oder besser gesagt, gerade deswegen haben sie mich hier auf Ahti aufgenommen. Thomas Ahap bekam Subventionen dafür, mir eine Chance zu geben mit dieser Art von Therapie und wenn die Firma irgendwo Geld riecht, na ja ... Das muss eine ganze Menge Geld gewesen sein, das hier begraben wurde, aber Sie wissen das ja selbst am besten, oder warum sind Sie hier? Doch wohl nicht wegen des einladenden Wetters und der überwältigenden Fauna. Wobei ... ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass Thomas Ahap nichts wusste von Ahtis Tierwelt. Diese geheimen Expeditionen mitten im tosenden Meer, bei denen irgendetwas erforscht wurde. Eine wissenschaftliche Forschungsstation auf dem Meeresgrund vor der Küste der Kolonie. Bei allem Respekt, aber so viel Geld hätte man doch niemals ausgegeben, wenn es sich nur um Wasserproben und Gewächshäuser gehandelt hätte ...

Jaja, schon klar. Ich merke schon, Sie reden nicht gern über's Geld oder über die Beweggründe  Ihre Firma. Schon okay, ich bin ja nicht blöd. Ich weiß, was da läuft, auch wenn Leute wie ich von Leuten wie Ihnen konstant angelogen werden oder man uns gar nichts sagt, was im Grunde auf das gleiche Resultat hinausläuft. Sobald ich hier fertig erzählt habe und Sie meinen Bericht sachgemäß zensiert und für geheim erklärt haben, richten Sie der Firmenleitung bitte Folgendes aus: Ich bin nicht so dumm, wie Sie denken. Und stellen Sie denen folgende Frage: Wenn der, der für dumm verkauft wird sich über diesen Umstand im Klaren ist, für wie dumm ist er dann noch zu halten?

Was ich damit sagen will, ist ganz einfach: Wenn Sie und Ihre Leute das nächste Mal vorhaben, Menschen in ein unerforschtes Ökosystem einzusperren, dann sparen Sie sich gefälligst Ihre widerlichen Werbesprüche und diese verfluchten Flyer mit grauenvoll grinsenden Gesichtern vorne drauf. Diesen ganzen Schwachsinn glaubt Ihnen sowieso niemand. Und dann investieren Sie das Geld, das beim Marketing frei wird, in irgendwas anderes. Kinderheime oder die Entmüllung unseres Sonnensystems oder Sicherheitsmaßnahmen in Kolonien oder sonst einen gutmenschlichen Scheiß, den Ihnen auch keiner abkaufen wird.

Glauben Sie bloß nicht, die Menschen auf Ahti sind damals hierhergekommen, weil Thomas Ahap Ihnen unentdeckte Weiten versprochen hat. Oder – oder Ihr eigenes Haus am Meer! Nur dreihundert Meter bis zum Strand! Hm. Mir fallen diese ganzen irrwitzigen Sprüche gerade wieder ein. Und wie egal sie mir damals waren. Ich wollte kein Haus am Strand. Ich wollte weg von meiner Raumstation, Freiheit und ich wollte eine Arbeit. Wenn ich unentdeckte Weiten gewollt hätte, hätte ich mich um einen Platz in Soror beworben. Da gibt es wenigstens was zu entdecken. Wenn Sie hier raus auf's Meer fahren finden sie höchstens unendliche Weiten, Ihnen geht der Treibstoff aus und Sie verdursten. Oder werden gefressen, eins von beiden. Vergessen Sie nicht, das da draußen ist nicht der Pazifik – das hier ist nicht wie die Erde. Im Vergleich zu Ahti ist die nur ungefähr so groß wie Merkur. Die Menschen, die hier gelebt haben, wollten ihre Ruhe und sie wollten eine Arbeit. Und was bekamen sie?

Was bekamen sie, habe ich gefragt.

Rotzkacke! Sie bekamen gar nichts, außer einen qualvollen Tod. Welche Chance auf ein neues Leben - wovon reden Sie da überhaupt?

Ich lebe noch, weil ich diejenige bin, zu der Menschen wie Sie mich diskreditiert haben und weil ich das so hingenommen habe. Ich bin nicht diejenige, die aus Sicht der Allgemeinheit hätte überleben sollen, das war mir schon damals klar. Ich kann mich noch sehr gut an dieses Gefühl der Taubheit erinnern. Nichts fühlte sich mehr echt an. Nicht der Boden, nicht die Bäume, nicht Mendel. Nicht einmal ich fühlte mich echt. Mein ganzes Leben – der Teil davon, der noch vor mir lag – war wie weggeblasen. Ich hatte immer eine Vorstellung von meiner Zukunft. Nichts Genaues oder Rosiges, aber ich schloss zumindest gewisse Dinge aus, ohne darüber nachzudenken. Sie waren bis dahin nie passiert, daher bin ich davon ausgegangen, dass sie niemals eintreten würden. Das ist ein Fehler in unserem Denken. Wir denken, dass all die schlimmen Dinge immer nur den anderen passieren würden, aber nicht uns selbst. Zugegeben, selbst wenn ich realistisch gewesen wäre und mich mental auf ein schlimmes Ereignis eingerichtet hätte – so kreativ wäre ich nicht gewesen, als dass ich daran gedacht hätte, irgendwann allein auf einem Planeten festzusitzen, ohne Strom, manchmal ohne Essen, manchmal ohne Hoffnung – über Jahre hinweg. Wer denkt schon an solche Dinge? Derjenige muss ja echt paranoid sein, ganz ehrlich.

Ja, geschehen ist es trotzdem. Da saßen wir mit leeren Köpfen und starrten ins Nichts. Stundenlang, tagelang saßen wir so da und keiner von uns sagte ein Wort oder aß etwas. War es an jenem Tag oder am darauffolgenden ...? Da hatte plötzlich für einen Moment die Erde gebebt. Das Beben war so schnell weg, wie es gekommen war, aber uns kam das ungewöhnlich vor. Mit einem Beil, das Mendel irgendwo bei sich unter dem Bett hervorgekramt hat – ja, ich weiß, sagen Sie nichts – sind wir dann nach draußen gegangen zu einer Stelle, von der aus man auf's Meer sehen konnte. „SCHEIßE!", hatte Mendel plötzlich gebrüllt. Ich glaube, er ist sogar auf die Knie gegangen. Zuerst wusste ich gar nicht, was er meinte, bis ich hinsah. Im Küstengebiet südwestlich von uns, nicht weit weg von E2101, hatte sich ein hellblaugrauer Fleck auf der Wasseroberfläche gebildet, wie ein wuchernder Tumor. Luft, die von unten an die Oberfläche stieg und Trümmerteile mit nach oben schwemmte. Das war Ihr Unterwasserlabor, dass da explodiert ist. Später erklärte mir Mendel, dass es sich wohl um eine Selbstdetonation gehandelt hat. Wenn der Strom da unten ausfällt, springen die Notstromaggregate an, aber die halten natürlich auch nicht ewig aus. Die Selbstzerstörung war als Schutzmechanismus gedacht, damit das, was sich dort drin befand und nicht herausgelangen sollte, vernichtet würde. Sie verstehen, wieso ich so interessiert daran bin, was genau dort unten erforscht worden ist. Immer wieder habe ich versucht, aus Mendel herauszubekommen, was sich dort unten befunden hatte; habe ihn beinahe angebettelt, ihm gedroht, ihn zusammengeschlagen, aber es war nicht aus ihm herauszubekommen. Dabei hat er nie an unser Überleben geglaubt, also was für einen Unterschied hätte es schon gemacht? Ich habe an mein Überleben geglaubt, womöglich war das in seinen Augen schon genug Hoffnung.

Nein, habe ich nicht. Ich war von Anfang an davon überzeugt, dass er sterben würde. Hätten Sie ihn kennengelernt, dann hätten Sie mir zugestimmt. Der Mann war schwach. Ich habe uns am Leben erhalten. Ich war das! Aber ich muss zugeben, dass auch meine Hoffnung auf Rettung in diesem Moment an einem Tiefpunkt angelangt war.

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