Sonne
Er schoss, bevor ich überhaupt mitbekam, dass er mich beobachtete. Ich hatte keine Chance, keine Sekunde um zu reagieren, da – katschu – ragte mir ein Pfeil aus der Schulter. Ich habe Ihnen ja vorhin schon gesagt, dass ich glaube, dass meine Schulter nicht das eigentliche Ziel war. Warum ich das glaube? Weil er, als ich aufsah, bereits am Nachladen war. Ich rannte um mein Leben. Der zweite Pfeil verfehlte sein Ziel; er zischte an mir vorbei ins Gebüsch.
Ich weiß es nicht mehr. Das ist jetzt was, wie lange her? Etwas mehr als vier Jahre, glaube ich. Sehr wahrscheinlich ist es aber nicht, oder er hätte mich eingeholt, schließlich war ich verwundet, ausgehungert und deshalb wohl nicht sehr schnell. Irgendwie gelang es mir dennoch, zurück nach Zone A zu gelangen und mir den Pfeil aus der Schulter zu ziehen. Sollte Ihnen das eines Tages einmal passieren, zögern Sie nicht. Sie müssen ihn schnell herausziehen, anderenfalls machen Sie die Schmerzen nur noch schlimmer. Ich persönlich hoffte, dass der Pfeil keine Splitter in meinem Körper hinterlassen würde. Mendel hatte ihn selbst geschnitzt, aber nicht behandelt, seine Oberfläche war also recht uneben. Die Wunde hätte sich sehr leicht entzünden können. Aber so oder so war ich am Ende meiner Kräfte – körperlich, seelisch. Eines Morgens wachte ich auf und dachte, ich könne den Tod schmecken, so nah war ich ihm. Wissen Sie, wonach er schmeckt? Nach gar nichts – nicht auf die gleiche Weise, wie Wasser oder Mehl nach nichts schmecken. Eher wie das Nichts, das auf nichts mehr hoffen kann, das vergessen wird und allmählich Staub fängt, das sich schließlich auflöst und selbst zu Staub wird. Ungefähr so schmeckte mein Tod. Wie mein eigener Verfall. Am gleichen Tag, wenige Stunden nach diesem Erwachen, machte ich mich wieder auf den gewohnten Weg zu den übrigen Inseln und ich tat es nicht länger, weil ich etwas zu finden glaubte, sondern schlicht weil ich meine wahrscheinlich letzten Stunden nicht in einem Bunker vergeuden wollte.
Nein, ich muss Sie wieder enttäuschen. Auch während dieser Suche fand ich nichts Essbares. Stattdessen fand ich etwas anderes, das mir in dieser Stunde beinahe noch lieber in die Hände fiel. Können Sie erraten, was es war?
Gut. Sie verstehen allmählich. Sie war geladen. Alles, was ich noch tun musste, war abzudrücken. Und es war nicht länger Mendel, an den ich dabei dachte. Ich war bereit. Ich hätte es nie zuvor für möglich gehalten. Ich war bitter enttäuscht von mir. Ich öffnete meinen Mund und steckte mir den Pistolenlauf hinein so weit es ging. Und wissen Sie was?
Ich konnte es nicht. Ich konnte es nicht. Nicht einmal der Wind wehte. Die Küste war nicht in Sicht, ich stand inmitten des Waldes und plötzlich sah ich, dass es heller war als sonst und dass mir die Farne grüner und die Luft klarer vorkam als sonst. Das war die Sonne, die schien. Da hörte ich es.
Ich hörte mein eigenes Herz schlagen. Mir steckte eine Pistole im Hals, aber dieser einsame Kämpfer war noch immer da, er hatte mich noch nicht aufgegeben. Menschen, die die Hoffnung verlieren, wachen manchmal einfach nicht mehr auf. Sie sterben einfach und ihre Herzen stehen von einer Sekunde zur nächsten still – aber hier war ich und ich lebte und es schien, dass ich noch Hoffnung hatte, für die es sich zu leben lohnte. Ich war so sehr enttäuscht von mir, überhaupt so tief gesunken zu sein. Dort zu stehen, auf diese Weise zu gehen. Ohne Glauben. Ohne Aussicht. Geschlagen. Wie hätte ich da auch noch meinen letzten Verfechter, mein kleines, so tapfer schlagendes Herz, enttäuschen können? Die Pistole schmiss ich ins Meer, sobald ich die Küste erreichte. Danach suchte ich mir etwas Weißes und ging zu Mendel. Friedensflagge, verstehen Sie.
Hatten wir denn eine Wahl? Wir hatten uns getrennt, weil wir uns fast umgebracht hätten. Dem Anschein nach jedoch erging es uns seitdem schlechter als je zuvor. Unsere Gedanken waren erfüllt von Hass und Hunger und wir waren uns selbst zuwider, trauerten einer Vergangenheit hinterher, in der wir noch von einer Zukunft zu träumen wagten, in der es sich zu leben lohnte. Glauben Sie nicht, dass es für uns an der Zeit war, dieses Wagnis erneut einzugehen? Allein hätten wir es nicht geschafft. Dann würde ich nicht vor Ihnen sitzen. Mendel und ich, wir haben uns verabscheut, aber darum ging es nicht. Es ging nicht um Sympathien oder Antipathien – wir mussten zusammenhalten. Das war alles, was zählte.
Mendel stimmte dem zu. Ich holte ihn zurück nach Zone A. Wir gingen gemeinsam jagen – und als ob es das Leben so gewollt hätte, wurden wir belohnt. Wir fanden sogar ein Gelege voll großer Eier. Wir würden wohl niemals Freunde werden, aber wir akzeptierten, dass wir einander brauchten. Wir kämpften wir die gleiche Sache.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top