Selener (2)
Wissen Sie, Leena, wenn man Selener ist, dann kann man der Welt auf genau zwei Weisen begegnen: Entweder, man gibt sich sofort geschlagen, trägt seine Fußfesseln kommentarlos, lässt jede Schmähung, jeden Fußtritt, jeden scheiß Schwanz im Mund über sich ergehen. Die Alternative lautet, einen Humor der zynischsten, schmutzigsten Art zu entwickeln. Die Erniedrigungen muss man immer noch über sich ergehen lassen, aber irgendwie schafft man es am Ende des Tages immer noch, zu lachen – und diese dünne Schutzschicht war wichtig. Selener müssen sich ein dickes Fell wachsen lassen, wenn sie nicht vollkommen durchdrehen wollen. Unsere Realität sieht so aus: Jeden Tag müssen wir es durch ein Mienenfeld schaffen. Treten wir auf eine, dann war es das. Entweder sackt man uns ein und wir verbringen den Rest unserer Tage in einer Gummizelle am Rand der Galaxis. Oder wir sterben. Kopfschuss. Elektrischer Stuhl. Innere Blutungen. Erwürgt. Wen kümmert das schon? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jeder von uns auf eine Miene tritt. Früher oder später trifft es jeden von uns. Unsere Lebenserwartung ist signifikant geringer als die der Restbevölkerung. Wissen Sie, wie viel kürzer?
_
Im Schnitt dreiundvierzig Jahre. Ein paar begehen Selbstmord. Ein paar werden verurteilt. Viele fallen der Selbstjustiz zum Opfer. Ich erkläre es Ihnen. Folgendes: Ich, Denise, darf mich nicht wehren, wenn mich jemand bedroht. Die Leute wissen das. Also nur einmal angenommen, jemand hat einen richtig miesen Tag. Zufällig laufe ich dieser Person über den Weg und werde zur Zielscheibe. An mir haben schon so viele Leute ihre Wut abgeladen.
_
Zu welchem Sinn und Zweck? Diejenigen, bei denen man sich beschweren könnte – dem Sicherheitspersonal, der Verwaltung – sind Teil des Problems. Niemand würde mir die Rippen prellen, wenn es Konsequenzen hätte. Die Wahrheit ist, dass diejenigen in den richtigen Positionen oft selbst nicht besser sind, auf verschiedene Weisen. Entweder sind sie selbst die Täter – diesen einen Polizisten hat es so richtig heiß gemacht, mir seine entsicherte, geladene Waffe in den Hals zu schieben und den Finger dabei immer schön über den Abzug gleiten zu lassen. Krank, ich weiß. Ich gehe nicht ins Detail. Und wenn sie nicht die Täter sind, dann sind sie Mittäter. Da war diese eine Frau an der Rezeption der Polizeistation. Ich muss noch sehr jung gewesen sein, denn später bin ich da gar nicht erst hingegangen, sondern habe mich mit einem Kühlakku auf mein Bett gelegt. Ich kam zu ihr und berichtete von einem Überfall auf mich. Ich kannte die Täter; es waren ältere Schüler mit sehr hässlichen Angewohnheiten, die in äußerst guten Verhältnissen aufgewachsen waren. Ich hatte eine Platzwunde am Kopf, genau hier und konnte deswegen nicht viel sehen. Ich gab ihr die Namen, den Tatort, schilderte ihr den Tathergang. Kurz und knapp, nach sechs Minuten konnte ich wieder abtreten. Sie nannte mich eine kleine Lügnerin. Die Kopfwunde hätte ich mir selbst zugeführt – ungewöhnlich, aber sehr engagiert und ein nettes Detail zur Geschichte ... Selener werden häufig für Lügner gehalten. Dahinter steckt, fürchte ich, ein wahrer Kern. Wir lügen häufig und – bleiben Sie bei mir, Leena, machen Sie jetzt nicht dicht – das müssen wir auch. Wir müssen lügen, um zu überleben und wir tun das so häufig und so selbstverständlich, dass wir nicht mehr sagen unterscheiden können zwischen dem Wert unserer Wahrheit und dem Wert unserer Lügen. Was man sich fragen muss, Leena, ist, was es noch für einen Unterschied macht, wenn mein Gegenüber davon ausgeht, dass ich ihn anlüge. Mit einer geschickten Lüge kann ich für mich mehr herausholen als mit der Wahrheit, weil ich ungefähr abschätzen kann, zu welchen Schlüssen mein Gegenüber kommt. Jahrelange praktische Erfahrung. Wenn Sie gut lügen wollen, lügen Sie nie direkt. Sagen Sie die Wahrheit und ändern Sie gerade genügend Details, um sich aus der Affäre zu ziehen. Bei Thomas Ahap sollten Sie damit weiterkommen, da gehört der Wahrheitsdetektor doch zum Einstellungstest, oder nicht? Aber warum erzähle ich Ihnen das überhaupt? Jetzt sind sie verwirrt, Leena. Sie wissen nicht mehr, was Sie mir glauben sollen und was nicht. Denken Sie zurück an den Anfang unseres Gesprächs. Ich versprach Ihnen die Wahrheit. Das war der Deal. Sie hören mir zu und ich sage die Wahrheit. Dieses eine Mal. Unser kurzer Ausflug in meine Vergangenheit ist Teil der Geschichte. Sie können die Geschichte nicht begreifen, wenn ich Ihnen den Teil über mich verschweige. Ich wollte vermeiden, dass Sie diese Informationen von einer dritten Person erhalten. Was hätte ich dadurch erreicht? Informationen vorzuenthalten macht verdächtig. Mein mangelnder Kontakt zu Menschen machte das Zusammenleben mit Mendel unglaublich schwer. Ich brauchte Zeit, seine Berührungen zu akzeptieren und zu erwidern, als wir unsere Affäre begannen. Mendel wollte mir nicht weh tun, das war eine neue Erfahrung. Er war ein Mann aus Fleisch und Blut, keine künstliche Intelligenz – auch das war neu für mich. Mendel hatte tatsächlich so etwas wie Gefühle – er konnte vor Schmerz schreien oder vor Lust, wenn er etwas Nettes sagte, dann nicht, weil ein Algorithmus das errechnet hatte. Ein richtiger Mensch ist nicht vorprogrammiert – schwer zu verarbeiten für jemanden, der von Programmen erzogen wurde.
_
Mendel hat es von sich aus herausgefunden. Bei ihm habe ich den Fehler begangen, nichts zu sagen und das machte sämtliches Vertrauen, das wir seit unserer Wiedervereinigung aufgebaut haben, auf einen Schlag zunichte. Von da an blieb er wach, bis ich eingeschlafen war und hielt bis zum Morgen ein Messer in der Hand. Somit war er wie alle anderen. Alles, was wir zuvor durchgestanden hatten und all meine bisherigen Taten wurden von ihm plötzlich ganz anders interpretiert. Wer ich bisher gewesen war, spielte keine Rolle mehr. Galt mein Herumschnüffeln in seinem Camp während der Hungermonate bisher als Resultat der Verzweiflung, wurde es von Mendel nun als hinterlistiger Mordversuch interpretiert. Dass ich kam und ihm Frieden anbot, war nur noch ein schmieriger Trick, um ihn in meine Falle zu treiben und in einem Moment der Unachtsamkeit – intrigant, wie ich bin – die Klinge in den Rücken zu stoßen. Vorbei waren die Zeiten, in denen er sich für meine kläglichen Versuche der Krankenpflege und des Beistandes bedankt hat. Stattdessen – so Mendel – soll ich darauf gelauert haben, dass er endlich abkratzt, damit ich aus ihm eine Suppe machen kann. Ich gebe zu, bei dem Letzten musste ich selbst fast lachen, als er es mir an den Kopf warf. Kannibalistische Träume hin oder her, aber zwischen Traum und realer Absicht ziehe selbst ich eine dicke Linie. Die Tragik hinter seinen Ansichten war leider ziemlich schonungslos – und stellte mich einmal mehr vor meine Tatsachen. Wir haben schlimme Zeiten durchlebt und hatten beide ordentlich was auf dem Kerbholz – aber er war hier das Opfer. Ganz allein, verlassen von Gott und der Welt und dazu gezwungen, mit einer meuchlerischen, verlogenen Verrückten zu kooperieren. Ich weine gleich. Der arme Mendel. Dieser arme, verlorene, undankbare, heuchlerische Kotzbrocken. Er hat mich verraten und er hatte eine mörderische Angst vor mir. Mörderisch im wahrsten Sinne des Wortes. Nachdem er es herausgefunden hatte und sein Vortrag über meine Vergehen beendet war, lief er um mich herum wie ein hungriger Köter und drohte mir. Er sagte: ‚Vielleicht sollte ich dich gleich hier und jetzt töten, bevor du es tust.'
_
Nichts. Ich hatte gelernt, nicht auf die Drohungen verängstigter Menschen einzugehen. Aber alles in mir schrie vor Grauen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top