Muschelernte

Ich hege einen gewissen Stolz auf diese Narbe. Die Schmerzen waren unvorstellbar – heute sind sie nur noch Erinnerungen. Das Ganze geschah im Frühling vor etwa drei Jahren während der Muschelernte und ich verdanke die Narbe den Schnappern und ihren dreimal verdammten Schnäbeln.

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Ja. Nein. Na ja, das Mundwerk dieser Tiere läuft vorne spitz zu und ist am Ende nach unten gekrümmt wie ein Haken. Sieht ein bisschen aus wie ein in die Länge gezogener Tukanschnabel. Damit schlitzen sie ihre Beute bei Verfolgungsjagden auf. Oder kratzen die Muscheln von der Felswand, an der sie hochspringen. Damit hat mir eines dieser Mistviecher den ganzen Rücken aufgerissen. An jenem Tag wollte ich die Muscheln an der Klippe ernten. Die ganz jungen Muscheln sind winzig; die größten, die ich je gesehen habe, waren handgroß. Unter Wasser wachsen sie leider nicht, sonst hätten wir sie züchten können, wie die Algen. Zu jener Zeit war ich im Klettern schon so geübt, dass ich leichtsinnig wurde und auf meine Sicherung verzichtete, wenn ich die Felswand hinabstieg. Ob mit oder ohne Sicherung, diese Ernten waren immer mit Risiko verbunden, weil wir nicht die einzigen waren, die sie haben wollten. Die Schnapper lieben die Muscheln. Ich besitze auch so einen Schnabel. Nirgendwo auf dem Planeten werden sie je ein feineres Werkzeug finden, um diese Delikatessen vom Felsen zu lösen. Die Schnapper kommen nur bei einer Springflut, weil nur dann das Wasser hoch genug für sie steht, um die Muscheln zu erreichen. Manchmal springen sie aber auch aus dem Wasser, um die Muscheln zu erreichen, dann kann man hören, wie ihre Schnäbel am Felsen entlangschaben. Oben am Klippenrand hatten wir eine Schussvorrichtung errichtet, um diese Tiere während ihrer Muschelernte zu jagen. Wie wir es geschafft haben, die zu konstruieren und zu bauen, ist auch sehr interessant, aber das kann ich Ihnen ein anderes Mal erklären. Ich bin also bei Ebbe die Felswand hinabgeklettert mit einer Tasche und dem Schnabel. Wie fast immer war der Himmel stark bewölkt und es nieselte leicht, weswegen wir unsere Sonnenuhr nicht benutzen konnten. Hätte ich die Zeit gekannt, wäre ich da nie runter gestiegen.

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Wenn wir zu lange gewartet hätten, wären Muscheln weg gewesen. Sie wachsen schnell und sind schnell gefressen. Die Schnapper haben ein sehr gutes Zeitgefühl; sie wissen, wann sich die Jagd lohnt. Zunächst lief alles sehr gut für mich; die Muschelernte viel sehr reich aus – wir hätten ein Festmahl gehabt. Plötzlich bemerkte ich, dass meine Schuhe und Waden durchnässt waren. Ich sah an mir hinunter ins Meer, wo die Wellen eine beunruhigende Höhe erreicht hatten. Ich drehte mich um und sah, dass ich in ernsten Schwierigkeiten steckte. Ahti besitzt fünf Monde, drei davon sind um ein Vielfaches größer als euer Mond. Wenn mehrere von ihnen – oder alle – in einer Linie mit der Sonne stehen, dann passiert das: Eine Flutwelle rollt auf die Inseln zu. Je weiter westlich die Insel liegt, desto heftiger wird sie getroffen. Leider befand sich vor E2116 keine weiter westlich gelegene Insel, die die Welle abgeschwächt hätte. Und mit der Welle kamen die Schnapper. Die Viecher nutzten sie wie ein Sprungbrett; sie springen aus der Welle oder schwimmen wie geisterhafte Gestalten in ihr. Ich schrie hinauf zu Mendel, damit er mir das Seil hinunterwirft. Kein Seil kam. Ich kletterte auf dem glitschigen Feld um mein Leben, während das Rauschen und Platschen hinter mir immer lauter wurde. Auf einmal befand ich mich wieder in jener Nacht im Shuttle, als das Wasser eindrang und die Todesschreie überdröhnte. Meine Hände begannen zu zittern und ich konnte nicht richtig atmen. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zu gehalten, um die Erinnerungen von damals draußen zu halten. Erneut schrie ich nach dem Seil so laut ich konnte. Ich war mir sicher, dass Mendel mich hören konnte. Er hat da oben gesessen und Fleisch gepökelt als ich nach unten bin und diese Arbeit dauert ewig. Von da aus sieht man die Welle schon von Weitem. Immer wieder glitt ich weg von der Klippe und zurück in jene Nacht, als die ersten Schnapper die Wand emporsprangen. Ich kreischte wie am Spieß, versuchte gleichzeitig zu klettern und meinen Körper vor ihren Schnäbeln zu schützen. Kaum ein Weg war noch frei, ringsherum kratzten Schnäbel und klatschten schwere Körper gegen Stein; es schnappte von allen Seiten. Ich rutschte ab und bekam zum Glück noch einen kurzen Felsvorsprung zu fassen. Erneut brüllte ich nach oben so laut ich konnte und hinter mit türmte sich die Welle auf. Da endlich sah ich von oben das Seil hinunterfallen. Kaum hatte ich es gepackt, erwischte mich einer der Schnapper und riss mir der Länge nach den Rücken auf. Vor Schmerz blieb mir der Schrei im Halse stecken. Ich kämpfte darum, meine Augen offen zu halten, nicht ohnmächtig zu werden, sondern mich mit aller Macht an das Seil zu klammern. Mendel rief mir irgendetwas hinab. Was das war, konnte ich nicht mehr hören, weil mich in dem Moment die Welle erfasste und heftig gegen die Felswand donnern ließ. Der Druck des Wassers presste mir die Luft aus der Lunge. Das salzige Wasser ließ meine Wunde pulsieren. Weiße Fischkörper streiften mich, während ich im Wasser schwebte wie eine Leiche. Das Seil schraffte sich und einen Moment später zog es mich langsam die Klippe hinauf. Ich rang nach Luft sobald ich konnte und kämpfte gegen die anschwellende Panik in mir; gleichzeitig rann mir das Blut die Schenkel hinab und tropfte in die Fluten. Mendel zog mich hinauf. Erst als ich oben angekommen war und in der aufgeweichten Erde lag, ließ ich Seil und Kontrolle los und schrie mir die Seele aus dem Leib. Meine Schmerzen waren so stark, dass mir beim Schreien die Mundwinkel beidseitig rissen und ich schließlich bewusstlos wurde. Unsere Muscheln waren auch verloren gegangen, der Schnapper hatte wohl auch den Riehm meiner Tasche durchschnitten. In den darauffolgenden Wochen war ich froh, wenn ich nicht mitbekam, was mit mir geschah. Mendel hatte mich in sein Bett gelegt und mir den Rest meiner Sachen ausgezogen – das, was davon noch übrig gewesen war außer ein paar Fetzen. Ich kam wieder zu mir, als er gerade dabei war, die Wunde zu reinigen. Die Hölle wäre ein angenehmerer Ort gewesen. Das Zusammennähen war noch schlimmer, trotz der Schmerzmittel, mit denen Mendel mich zudröhnte. Immerhin befand sich die Wunde am Rücken, sonst wäre ich bei dem Anblick wahrscheinlich um den Verstand gekommen – und ums Leben. Mendel selbst verlies ein paar Mal den Raum, um sich zu übergeben, weil die Wunde obendrein sehr übel roch. Er konnte meine Rippenknochen sehen und einen meiner Rückenwirbel. Zum Glück wurde nichts weiter beschädigt.

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Ich mache keine Witze, hören Sie auf zu lachen. Was, wenn ich zwarüberlebt hätte, aber meine Wirbelsäule, mein Rückenmark verletzt gewesen wäre?Wenn es meine Nieren erwischt hätte? Meine Lunge? Der Schnapper hatte mich nur gestreift, allein deswegen war ich überhaupt noch am Leben. Sie sollten mal sehen, was alles auf dem Wasser schwimmt, wenn die Schnapper ein Tier wirklich erwischen.

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