Geschichte

Das war an einem sehr windigen Tag im Herbst. Wir hätten Besseres zu tun gehabt, als uns gegeneinander aufzuhetzen. Jeden Herbst mussten wir sehen, dass wir genügend Vorräte angehäuft hatten. Das hatte im Vordergrund zu stehen; ich habe versucht, ihm das zu sagen. ‚Fass mich nicht an!', hat er mich angeschrien. ‚Geh weg und komm nie wieder in meine Nähe.' Leicht gesagt auf einen Planeten, auf dem die einzige Landmasse dreiunddreißig winzige Inseln sind, von denen die größte einen Durchmesser von sechzehn Kilometern hat. Was soll's, er meinte das wohl eher symbolisch. In diesem Jahr erlebten wir einen sehr ... frostigen Winter, wenn Sie verstehen. Keine Schneeballschlachten mehr. Unsere Gesichter waren schon morgens wie erstarrt, wenn wir einander sahen. Wenn ich ihm eine Frage stellte, bekam ich keine Antwort. Mendel sprach mich überhaupt gar nicht mehr an. Stattdessen kamen Sätze wie ‚Jemand sollte Eis schmelzen, ich habe gestern unser letztes Wasser getrunken' oder ‚Ich gehe jetzt da und dorthin, jemand sollte den Bunker auf Schäden untersuchen.' Manchmal habe ich mich einfach stur auf die Couch gesetzt und darauf gewartet, dass jemand das Eis schmilzt und den Bunker untersucht – meine ganz eigene und auch einzige Form von Protest. Diese ganze Situation erinnerte mich so sehr an mein Leben auf der Station. Schon seit vielen Jahren habe ich immer die gleiche Art Albtraum, in dem ich einfach nicht vorwärtskomme. Jeder Teil von mir treibt mich weiter, aber ich komme nicht weg von dem Punkt, an dem ich mich befinde. Nur um das klarzustellen – ich bin keine von diesen Leuten mit ihren Traumtagebüchern und Räucherstäbchen und wundersamen Halbedelsteinen, die mir bei Partnerwahl und Verstopfung gleichermaßen helfen. Ich muss mich nicht mit Patschuli-Tonka Räucherduft zudröhnen, um zu erkennen, in welcher Weise mein Unterbewusstsein meine Lage verarbeitete. Fakt ist, dass ich mich in genau dem Leben wiederfand, aus dem ich mich zu befreien versucht hatte. Vergebens ... Glauben Sie an Schicksal, Leena?

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Nein, ich denke nicht.

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Eigentlich schon. Komisch, wie alles gekommen ist. Trotzdem glaube ich nicht, dass das irgendwas mit Schicksal zu tun hat. An dem Tag, an dem ich meinen dreckigen Humor ablege und mich der Gefangenschaft vollkommen hingebe, an dem Tag werde ich an Schicksal glauben. Noch stehe ich und ich sitze hier vor Ihnen, Leena, noch habe ich nicht aufgegeben.

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Klar. Mit dem Schicksal ist es ein bisschen wie mit dem Teufel, selbes Prinzip. Beispiel gefällig? Nehmen wir die Kirchen in der Vergangenheit. Jede Generation hatte damals ihren ganz eigenen Kirchenskandal, bis die Kirchen daran zerfallen sind, erinnern Sie sich?

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Das waren die Geschichtsmodule, die ich lernen durfte und ich fand sie faszinierend, deswegen erkläre ich es Ihnen ganz kurz. Während jedes Skandales sind nach und nach Opfer oder Insider an die Öffentlichkeit gegangen mit ihren Geschichten, bei denen sich einem die Zehennägel krümmten. Jeder wusste davon, oder zumindest hat es niemanden überrascht – trotzdem waren die Aufschreie plötzlich in der Öffentlichkeit riesig. Was also hatte die Kirche selbst dazu zu sagen? Dass es der Teufel war. Da wären Sie im Leben nicht darauf gekommen, was? Dann kamen neue Skandale, neue Empörung, aber die Ausrede blieb die gleiche. Eine ziemlich einfache Methode, gegen Missstände verschiedenster Art vorzugehen, wenn ich jede Schuld auf die gleiche höhere Macht schiebe, die ich angeblich nicht beeinflussen kann. Der Teufel zeige sich eben in vielen Facetten. Unsinn! Man kann gegen jedes hausgemachte Übel etwas bewirken, wenn man nur will. Deswegen glaube ich nicht an Schicksal. Wenn ich nie einen Finger gekrümmt habe im Leben und dann hart auf dem Boden der Tatsachen aufschlage, dann habe ich mir das selbst zuzuschreiben. Wenn meine Geschichte von Anfang an irgendwo geschrieben stünde, warum stehe ich dann jeden Morgen auf? Warum bleibe ich nicht einfach liegen, das wäre viel einfacher und mein Schicksal würde mich so oder so ereilen – per Definition. Ich wälze aber nicht alles auf irgendein dämliches Schicksal ab. Ja, ich hatte einen schweren Start ins Leben, aber deswegen muss ich nicht wie eine Heulsuse auf dem Boden liegenbleiben und darüber trauern, wie furchtbar mein Leben ist. Aufstehen, weitergehen, kämpfen – statt aufzugeben. Meine Eltern schrieben ihre Geschichte und die kam ihnen teuer zu stehen. Ich schreibe meine eigene Geschichte. Wo wäre ich jetzt, wenn ich damals einfach aufgegeben hätte? So viel dazu. Oder wollen Sie dazu noch etwas sagen?

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Alles klar. Ich überspringe jetzt mal den folgenden Winter, bei dem wirvorhin waren, das würde Sie nur langweilen. Spulen wir – ich sage mal – einhalbes Jahr vor. Vielleicht waren es auch nur fünf Monate, aber das ist imGrunde unwichtig. Ich schulde Ihnen noch die Geschichte zu meiner Rückennarbe.

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