Denise und die Sache mit der Wahrheit

[Anmerkung: Ich habe nur einen kleinen Satz im Nachhinein eingefügt, den ich zuvor vergessen hatte ;)]

Denise saß auf ihrem Stuhl und wartete darauf, dass etwas passierte. Sie dachte an nichts, rührte keinen Finger. Sie ging davon aus, dass sich irgendwo im Raum eine Kamera befand, auch wenn sie sie nicht saß und mit Sicherheit danach suchen würde. Jede ihrer Bewegungen würden aufgenommen und analysiert und Sicherheit gegen sie benutzt werden, daher war es das Beste, sich nicht zu bewegen. Die Schultern nicht zu straffen, seitlich auf den Boden zu schauen, die Hände im Schoß zu lassen, dabei beide Füße auf dem Boden, eng beieinander. Und ins Nichts starren. Zuvor hatte sie ein wenig geschlafen, hier auf ihrem unbequemen Stuhl in dem beleuchteten Raum mit den eindeutigen, rostroten, getrockneten Spritzern an der Wand. Sie wusste nicht, wie viel Zeit seit ihrem Gespräch vergangen war, aber ein paar Stunden würden es wohl gewesen sein. Heimlich wartete sie darauf, dass die Tür aufging, nur um heftig zusammenzuzucken, als ein Mann in Uniform nach einiger Zeit in den Raum platzte. Er war groß und breitschultrig, aber schlank und sein Haar war blond und kurzgeschoren. Seine Augen erinnerten Denise an viele Männer aus ihrer Vergangenheit. Er ließ sich auf den gleichen Stuhl fallen, auf dem zuvor Leena gesessen hatte und ließ sein Bein wippen.

„Guten Tag, General Harrelson ", sagte Denise. Obwohl er sie schon zuvor kurz gesehen hatte, fiel es ihm schwer, wie anzusehen. Denise war sehr mager, ihre mausbraunen Haare zwar nach wie vor ein wenig über Kinnlänge, aber grässlich wie Unkraut und schmutzig. Wahrscheinlich hatte sie sich hin und wieder mit einer alten Küchenschere verschnitten. Ihre dunklen Augen waren umrahmt von dunklen Schatten und von ihrem Mundwinkel an abwärts zog sich eine äußerst hässliche Narbe, die ein unheilvolles Lila angenommen hatte. Die Narbe verschwand unter ihrem Shirt, das grau war und aus Baumwolle. Man hatte es ihr gegeben, denn ihre eigenen Klamotten waren ausgeleiert und schmuddelig gewesen, teilweise stark zerrissen. Nicht wenige hatten sich gefragt, warum ihre Klamotten so zerfleddert aussahen.

„Hast du mich erwartet, Denise?"

Sie nickte leicht, ein süffisantes Lächeln auf den rauen Lippen.

„Hab mir schon gedacht, dass Sie sich bei mir blicken lassen."

„Ich hab meinen Leuten gesagt, dass sie unser kleines Gespräch später herausschneiden."

Es gab also eine Kamera.

„Wird das nicht auffallen?", fragte Denise ruhig.

„Sei versichert, dass wir einige sehr fähige Köpfe in unseren Reihen haben, die sich gerne etwas dazuverdienen. Wo wir gerade davon sprechen – sie meinte vorhin zu mir, dass du vorhast dich kaufen zu lassen."

Sie zielte selbstverständlich auf Leena ab.

„Als hätte ich eine ersthafte Wahl, die nicht auf mein sofortiges Ableben hinausliefe. Oder auf Psychiatrie", sagte Denise. „Mal ganz abgesehen davon kann Thomas Ahap mich genau genommen nicht kaufen, weil sie meine Identität bereits besitzen. Glaubt sie mir also?"

Der General zuckte die Schultern. „Sie hält dich für das Opfer. Ob sie dir glaubt, weiß ich nicht, aber es war so rührend", sagte er und griff sich ans Herz, „wie solidarisch sie sich gezeigt hat."

„Solidarisch?" Das klang beinahe zu gut um wahr zu sein.

„So von Frau zu Frau."

„Sie kleiner Bastard", raunte Denise zufrieden. „Waren Sie unfreundlich zu ihr?"

„Das, denke ich, ist das falsche Wort", sagt General Harrelson.

„Dann vielleicht – herablassend", schlug Denise vor. Ihre Hand schob sich langsam über den Tisch, bis sich ihre Fingerspitzen berührten.

„Schon möglich", sagte er auf ihre Finger blickend. „Leena meinte, du hättest Angst vor mir. Dass ich vorhätte, herzukommen um dir etwas anzutun."

„Und hier sind Sie."

„Hast du Angst?"

Darüber dachte sie kurz nach. „Nein", antwortete sie. „Nicht mehr. Und nicht vor Ihnen." Er würde nicht das tun, was Leena später denken würde. Aber er würde es so aussehen lassen müssen. Denise hoffte, dass es der letzte Preis sein würde, den sie bezahlen müsste, um von hier wegzukommen. 

„Gut. Immerhin habe ich dich gerettet. Sei dankbar."

„Ich spare mir die Dankbarkeit für später. Bis jetzt", schnarrte sie, „haben Sie noch gar nichts. Sie und ich haben Leena in die richtige Richtung gelenkt, aber noch sitze ich auf dieser Insel."

„Sie wird dich nicht zurücklassen", versicherte er ihr.

„Bliebe aber noch das Risiko, dass sie mich wegsperren – oder beseitigen." Bei dem letzten Wort hob sie gekonnt eine Augenbraue.

„Hast du einen Plan?"

Sie nickte nachdenklich. „In gewisser Weise. Es lief nicht alles so, wie ich es gern gehabt hätte, aber ich denke, ich komme damit durch. Bleiben Sie einfach bei der Rolle des verbiesterten Macho, der mich und Leena auf keinen Fall gewinnen lassen will."

„Sag mir, was du vor hast."

„Folgendes: So, wie Leena es gerade versteht, bin ich eine Mörderin. Sie weiß über mich Bescheid, ich habe ihr meine Sicht auf meine Vergangenheit geschildert. Die bedauernswerte, elende Geschichte eines kleinen Mädchens, die von der Gesellschaft und Politik als Dämon hingestellt worden ist, das keine Rechte hat, keine Stimme. Armes, kleines Ding. Ich habe alles so gelegt, dass es für Leena Sinn ergibt, weshalb ich am Ende gemordet habe."

„Und?"

„Ich will nicht als Mörderin dastehen. Unter Psychologische Betreuung werde ich ohnehin wieder gestellt, an den Gesetzen kann ich nichts ändern, aber mit Mord als Anklage wird das Ganze für mich schon kniffliger."

Harrelson dachte einen Moment lang nach. „Hast du-"

„Für einen Mord braucht man Beweise, soweit ich weiß", fuhr Denise fort. Sie wandte den Blick nicht ein einziges Mal ab von General Harrelson, was ihr die angsteinflößende Erscheinung eines Raubvogels verlieh. „Allen voran eine Leiche." 

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