Alles
Seit vier Jahren hatte ich diesen Ort nicht mehr gesehen, meine letzte Reise dorthin hatte kein erfreuliches Ende gehabt. Der Bunker, so schien es, hat jedoch nie aufgehört, auf meine Rückkehr zu hoffen. Das Bett wartete noch immer darauf, gemacht zu werden. Die schwarze Substanz, die einst Kaffee gewesen war, wollte weggeschüttet, die Tasse ausgewaschen werden. Meine alte Geschichte, abgebrochen und an ganz anderer Stelle neu begonnen, rief nach mir und ich wollte ihr einen letzten Tribut zollen. Aber nicht sofort. Zunächst verlies ich diesen Ort, blieb in der Nähe, betrat andere Bunker. Hin und wieder weinte ich. Zu meiner Überraschung fand ich genug dann, als ich am wenigsten danach suchte oder es erwartete, einen alten Arbeitsrechner samt Arbeitsausweis. Bei meinem Nachbarn auf dem Esstisch. Unter seinem – oder ihrem – Bett fand ich eine Liste mit Passwörtern. Ich muss fünf Minuten vor dem Rechner gestanden und ihn angestarrt haben, bevor ich ihn in meinen Rucksack packte. Für eine halbe Ewigkeit lag ich mit dem Schuhen im Bett und las mir die Passwörter durch, als stünde dort mehr. Weil mein Nachbar die schönere Bettwäsche besaß und ausgewähltes Geschirr, packte ich auch das ein und brachte es hinüber zu meinem Bunker. Dort wechselte ich die Bettbezüge, stellte die neuen Taschen ins Regal und wusch die alten in einer Pfütze vor der Tür. Ich putzte den gesamten Bunker, der jetzt besser aussah, aber weniger persönlich, weniger ich und das war so gewollt. Ich war nicht mehr die, die diesen Bunker verlassen hatte, um ihren Termin bei der Kolonialverwaltung wahrzunehmen. Das hier sollte mein Abschied werden – ich würde die Tür schließen, meinen Rucksack schultern und nie wiederkommen ... und dann klopfte es auf einmal an der Tür. Es hatte etwas sehr Surreales. Bis mir wieder einfiel, dass es außer mir noch jemanden auf dem Planeten gab. Ich fragte ihn, wie er mich gefunden hatte. Warum er gekommen war. Er hätte nicht nach mir gesucht, meinte er, wäre nur meinen Spuren gefolgt und hätte geklopft. Schwachsinnig. Ob er sich entschuldigen wolle? Das sei nicht unser Stil. Ganz ehrlich, an der Stelle sind die Pferde mit mir durchgegangen.
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Ich habe ihm die Nase gebrochen. Hätte ihn vorher nach draußen schaffen sollen; seine Nase blutete den ganzen Flur voll. Wobei – ich war sowieso gerade dabei, diesen Ort für immer zu verlassen; ein Hauch Dramatik verlieh dieser Betonhöhle zumindest ein wenig Geschichte. Mendel ertrug es protestlos – es war keine Entschuldigung seinerseits an mich, ich glaubte aber, dass er verstanden hatte, warum er eine gebrochene Nase verdiente. Meiner Meinung nach hätte er noch ganz andere Sachen verdient, aber für den Moment schnappte ich mir einfach meinen Rucksack und schloss mich ihm wieder an.
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Ich bin nicht geflohen. Ich bin einfach nur gegangen. Ihnen sollte eigentlich längst klar sein, dass Mendel und meine Beziehung zueinander nicht gesund war. Wir waren kranke Menschen, Leena – krank im Kopf. Leben Sie mal vier Jahre inmitten eines vergifteten Umfeldes, voll von Hass, voll von Unwissenheit. Nie wissen Sie, was als Nächstes kommt – müssen sie ihren letzten Gefährten im Schlaf die Kehle aufschlitzen oder lassen Sie ihn leben, weil Sie ohne ihn nicht viel länger zu leben hätten? Würde er vielleicht anders entscheiden? Werden Sie Essen finden? Werden Sie hier alt werden, Sie und Ihre Hoffnung, weil letztlich alles für umsonst war – weil Sie auf jemanden gewartet haben, der nie im Begriff war, zu kommen? Wollen Sie überhaupt noch gerettet werden? Was, wenn Ihre Rettung nicht das ist, wofür Sie sie hielten? Wenn Sie alles nur schlimmer macht. Weil Sie jetzt unter Verdacht stehen, inspiziert werden, befragt und bedroht werden und misshandelt. Sie wissen es nicht. Sie wissen am Ende gar nichts mehr und drehen durch. Solange Mendel bei mir war, war ich in Gefahr. Gleichzeitig hatte ich aber auch ein Alibi für meine Geschichte. An manchen Tagen fühlen Sie sich besser, wenn Sie wissen, dass neben Ihnen noch ein zweites Herz schlägt. Diese Welt geht hart mit jedem ins Gericht, der sich auf ihm bewegt – auch mit mir, die die guten Seiten dieses Ortes erkannt hat. Nur ... Sehen Sie mich jetzt an. Hier bin ich, allein, und erzähle Ihnen alles. Nichts und niemand kann bestätigen, was ich Ihnen sage. Alle Umstände sprechen gegen mich. Alle meine neuen Hoffnungen liegen jetzt bei Ihnen und Ihrer verfluchten Firma und ich versichere Ihnen – das ist ein richtiges Scheißgefühl. Stellen Sie sich vor, Sie hätten mich und Mendel zu jedem Zeitpunkt gefunden. Zu Fuß im Wald, Seite an Seite. Und dann stellen Sie sich vor, sie hätten nur Mendel gefunden, mit einer gebrochenen, blutigen Nase und einem vernarbten Körper, der Ihnen erzählt, dass irgendwo in den Wäldern der Kolonie eine verwilderte Selenerin ihr Unwesen treibt, die sich von Wurzeln ernährt die ehemaligen Wohnstätten toter Menschen plündert. Hallo? Ihre Truppe wäre über die Inseln geflogen, hätte mich mit der Wärmebildkamera aufgespürt und erlegt.
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Was soll das denn jetzt wieder für eine Frage sein? Ja, selbstverständlich! Nach unserem letzten Stand fehlte nicht mehr viel und wir hätten uns auf orgiastische Weise gegenseitig zerfleischt. Die kleine Auszeit voneinander hatte allerdings ihr Gutes getan – sozusagen unsere Aggressionen gemildert. Natürlich nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder aufeinander losgegangen wären, aber, Leena, aber: Mir ging es nur um mein Überleben. Mendel stellte eine Bedrohung dar, ja, aber mit ihm würde ich schon fertig werden. Gegen die geballte Macht der Vorurteile und Maschinengewehre außerhalb dieses Gebäudes hätte ich dagegen wenig ausrichten können. Das Dasein des einsamen Steppenwolfes, der entgegen aller Konventionen lebt und von allen anderen in Ruhe gelassen wird, kommt für mich nicht infrage und ich kann es mir nicht leisten, solchen Träumen in der Hoffnung auf Erfüllung hinterherzurennen. Ich werde für immer auf der Abschussliste stehen, bis ich sterbe – oder umgebracht werde. Um mein Überleben zu sichern, muss ich regelmäßig Preise bezahlen, die Ihnen nie in den Sinn kommen würden, weil Sie Ihnen so zuwider wären, weil Sie damit so tief im Dreck versänken, dass Sie glauben würden, an Ihren eigenen Entscheidungen ersticken zu müssen ... Sehen Sie mich an. SEHEN SIE MICH AN, LEENA! Ich habe keine Würde mehr. Alles, was ich besitze, ist mein Leben und ich würde alles tun, alles ertragen und jedem die Hand reichen, um es zu retten. Verstehen Sie das? ... Verwerflich? Ja, auf jeden Fall. Aber hier sitze ich und die Welt redet schlecht von mir, ganz egal, was ich treibe ... Einen kleinen Spaß habe ich mir allerdings erlaubt, aber ich hole ein wenig aus, um es zu erzählen, also passen Sie auf: Wir waren eine Weile gelaufen, immer mit einer Hand am Messer und nachdem ich einen Moment lang nicht aufgepasst hatte, war Mendel plötzlich verschwunden.
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Einfach weg. Farne raschelten im Wind, ich zog mein Messer und duckte mich, denn ich dachte, ich säße in der Falle.
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