Prolog
Inverness, Schottland 2003
Es regnete in Strömen, als Shona mitten in der feuchtkalten Nacht mit ihrer kleinen Nichte Victoria aus dem Taxi stieg. Mit gehetzten Schritten betrat sie die Notfallambulanz des Raigmore Hospitals. Dabei zog sie das zitternde Mädchen hinter sich her, das Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten. Shonas Kleider waren durchnässt, ihre braunen, schulterlangen Haare klebten am Kopf. Sie schob eine Strähne hinter das Ohr, während sie zum Warteraum liefen. Als sie den breitschultrigen Mann entdeckt hatte, der ganz alleine auf einem der pastellfarbenen Plastikstühle saß, hastete sie zielstrebig auf ihn zu.
„Alistair, wo ist sie? Wo ist Isobel? Wie geht es ihr? Bitte, ich muss zu ihr ... ich muss sie sehen."
Ihre Stimme brach und sie unterdrückte ein Schluchzen. Erwartungsvoll blickte sie in die hellblauen Augen ihres Schwagers und suchte darin nach einem Zeichen. Alistair erhob sich schwerfällig, wodurch seine einschüchternde Größe sichtbar wurde. Die finstere Miene und sein kalter Blick verhießen nichts Gutes.
Er nickte ihr beiläufig zu. „Shona. Ich danke dir, dass du Victoria hergebracht hast. Von nun an brauche ich deine Hilfe nicht mehr."
Er streckte die Hand nach seiner Tochter aus, aber das Mädchen blieb wie angewurzelt hinter Shona stehen und blickte mit großen Augen zu den Erwachsenen hoch. Verwirrung sowie Angst zeigten sich in ihrem blassen Gesicht und den braunen Augen. Alistair ließ verärgert die Hand sinken und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf seine Schwägerin.
„Wie dem auch sei ... Ich werde mich nun alleine um alles kümmern. Wegen Isobel ... es tut mir leid. Aber die Ärzte ..."
Er atmete schwer und wischte mit unruhiger Hand über sein Gesicht, das eingefallen und älter aussah, als Shona es kannte.
„... Sie haben alles versucht ... doch sie konnten ihr nicht mehr helfen. Sie kamen zu spät."
Wie ein Blitz schoss diese Nachricht in Shonas Körper, und sie musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen, um auf den Beinen zu bleiben. Denn der Schmerz, der sie durchfuhr, war zu viel und so unbeschreiblich groß. Es wäre für Shona nicht schlimmer gewesen, wenn ihr in diesem Moment jemand ein Messer ins Herz gerammt und sie der Länge nach aufgeschlitzt hätte.
Wie konnte das passieren? Meine große Schwester soll tot sein? Isobel sollte jetzt blutverschmiert in einer kalten Truhe liegen, mit einem Zettel am großen Zeh und ihre Augen geschlossen, die sich nie wieder öffnen sollten? Isobel war doch alles, was Shona noch hatte. Sie war nicht nur das letzte Familienmitglied, das ihr nach dem Tod der Eltern geblieben war, sondern sie war ebenso ihre beste Freundin und Vertraute gewesen. Wie sollte sie nun alleine weitergehen auf dem Weg, den man ‚Leben' nennt?
Schock und Trauer erfassten sie mit einer unbeschreiblichen Wucht. Sie versuchte, sich zu fassen und stark zu sein, doch jede Kraft war ihr entschwunden. Mit hohler Stimme fragte sie weiter: „Was ... was ist passiert?"
„Ich weiß es noch nicht genau. Die Untersuchungen laufen noch. Aber es sieht nach Selbstverschulden aus. Es scheint, als wäre sie zu schnell in die Kurve gefahren und auf der nassen Fahrbahn ins Schleudern gekommen. Aber es soll schnell vorbei gewesen sein. Sie hat wahrscheinlich nicht einmal Schmerzen verspürt – also brauchst du dir deshalb keine Sorgen machen."
Shonas Miene wurde finster. Tiefe Furchen um Augen und Mund ließen sie mit einem Mal um Jahre älter wirken, und ihr Blick durchbohrte Alistair. Sie schob die Fassungslosigkeit über die erhaltene Nachricht für einen Moment beiseite, und Zorn kam zum Vorschein. Seine Worte hatten in ihr einen Hebel umgelegt. Wie konnte er so etwas nur sagen?
„Was fällt dir ein? Sie hat keine Schmerzen gehabt? Ich brauche mir keine Sorgen machen? ... Was ist los mit dir?"
Ihre Brust wurde eng, und sie musste tief durchatmen, um sich nicht mit Händen und Füßen auf ihn zu stürzen. Als er etwas erwidern wollte, riss sie einen Arm hoch, um ihn zu stoppen.
„Was ist mit dem Schmerz darüber, dass sie nie ihre kleine Tochter aufwachsen sehen wird? Was ist mit dem Schmerz, dass sie nie wieder Zeit mit mir und mit Freunden verbringen kann? ... Was ist ..."
Shona spürte, wie ihr schwindelig wurde. Sie versuchte einige Male, eine tiefe Bauchatmung durchzuführen, um sich zu beruhigen und nicht zu hyperventilieren. Eine Technik, die sie als Teenager nach dem Tod ihrer Eltern gelernt hatte und immer dann anwandte, wenn es zu viel für sie wurde. Dann hatte sie sich etwas gefasst und ihre Stimme klang wieder klarer.
„Ich glaube dir nicht! Ich kenne ... ich ... ich kannte meine Schwester! Sie ist nie zu schnell gefahren. Das kann nicht sein! Isobel kann nicht tot sein ..."
In diesem Moment hörte sie das erbärmliche Wimmern hinter sich, und entsetzt brach sie den Satz ab. Das arme Kind! Sie hätte es besser wissen müssen, sie war hier die Erwachsene und hätte nicht so unbedacht den Kopf verlieren dürfen. Mit einem verzweifelten Blick und schlechtem Gewissen drehte sie sich zu Victoria um, die sie in ihrem Zorn vergessen hatte. Sie hätte in der Gegenwart der Kleinen nicht so reden dürfen, da sie alles hatte mit anhören können. Victoria hätte es schonender erfahren müssen, sie war doch erst sieben Jahre alt. Und das hier würde sie ihr Leben lang nicht vergessen.
Dicke Tränen kullerten Victorias Wangen hinunter, die Haare waren etwas zerzaust und aus ihren blonden Zöpfen herausgerutscht. Ihr Kleidchen, nass vom Regen, hing schlapp an ihrem Körper herunter. Ein Anblick, der Shona innerlich fast zerriss.
Noch bevor sie reagieren konnte, trat Alistair vor, schob sich an Shona vorbei und hob Victoria hoch in seine Arme. Dabei würdigte er Shona keines Blickes, als er mit Victoria im Arm an ihr vorbeiging und seiner Tochter schlicht und ohne Schonung sagte: „Komm. Wir zwei sind von nun an alleine."
Sein Daumen wischte unter ihren Augen die Tränen fort.
„Und hör bitte auf zu weinen, Victoria. Das schaut nicht hübsch aus, Kleines."
***
Eine Woche später war der ganze Spuk wieder vorbei – so schnell und überraschend, wie er gekommen war. Die Gäste hatten nach und nach das Haus verlassen, und die traurigen Blicke wurden stetig weniger. Im Haus war es nun still geworden, bis auf die aufgebrachten Stimmen, die aus dem Arbeitszimmer zu hören waren. Victoria stand mit ihrer Lieblingspuppe allein in einer Ecke ihres Zimmers und starrte traurig zum Fenster hinaus. Sie zuckte zusammen, als sie Shonas Stimme hörte.
„Ich werde nicht zulassen, dass Vic bei dir bleibt! Ich werde sie zu mir holen!"
Ein lautes Auflachen von Alistair folgte, das wie eine Drohung wirkte. Danach wurde eine Tür zugeschlagen und von der Auseinandersetzung war nichts mehr zu verstehen. Dann wurde die Tür polternd aufgestoßen, Schritte klapperten über den Flur, und Alistair brüllte entschieden: „Das war alles, was ich dir noch zu sagen habe, Shona. Und jetzt verschwinde aus meinem Haus! Sonst hetze ich dir die Polizei auf den Hals!"
Victoria stand die ganze Zeit regungslos da, nahm aber den Streit und die Stimmen trotzdem kaum wahr, denn ihre Gedanken kreisten ganz woanders. Dicke Regentropfen rannen an der Fensterscheibe hinunter und spiegelten ihre Gefühle der letzten Tage wider, die dem Glasgower Wetter perfekt nachempfunden waren. Regen, genau wie ihre Tränen, die unablässig wie Wolkenbrüche herabflossen und eine dunkle Leere in ihrem Inneren hinterließen. So, wie das trostlose Wetter, das seit Tagen herrschte und die Stadt in deprimierenden Nebel und Trauer hüllte.
Die Beerdigung war überraschend schnell und ohne Tränen vorbeigegangen – nie hätte sie das gedacht. Dabei hatte sie am Morgen ihre Manteltaschen bis zum Rand hin mit Taschentüchern vollgestopft. Doch dann war ihr Vater gekommen, und alles hatte sich geändert. Er kniete sich vor sie, sah sie ernst an und erklärte ihr, sie müsse an diesem Tag ein großes Mädchen sein. Dazu bräuchte sie sich nur ein bisschen zusammenzureißen und zu versuchen, nicht wie ein Kleinkind zu weinen. Das wäre für ihn und besonders für ihre verstorbene Mutter sehr wichtig. Außerdem meinte er, dass ihre Mutter stolz auf sie wäre, wenn sie das schaffen würde, schließlich wäre ihre Mutter oben im Himmel und sähe von dort aus auf sie hinab.
Daher tat Victoria das, was jedes brave Kind getan hätte – auf ihre Eltern hören. Während der ganzen Zeremonie stand sie einfach nur vor dem Grab – wie eine steinerne Statue – und machte nicht die geringste Bewegung. Alles lief wie im Zeitraffer ab, ohne scharfe Bilder, Töne oder Farben. Das Einzige, was sie tun musste, war, sich die ganze Zeit starr auf einen Punkt konzentrieren und flach atmen; eigentlich lächerlich einfach. Victoria schottete sich ab, und durch die errichtete Mauer legte sie alles um sich herum hinter einen verschwommenen Vorhang, der ihr die Kraft gab, stark und gefasst zu bleiben. Genau so, wie es sich ihre Mutter und ihr Vater gewünscht hatten.
Am Ende des Tages hatte sie es geschafft, kein einziges Mal geweint zu haben, worauf sie richtig stolz war, wie auf eine gute Note. Victoria hatte auch nicht zu weinen angefangen, als sie in der Nacht alleine in ihrem großen Zimmer schlief – auch nicht an den darauffolgenden Tagen und Nächten. Seit jenem Tag hatte sie keine einzige Träne mehr vergossen.
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