1. Erster Blick

„Liebe auf den ersten Blick

ist ungefähr so zuverlässig wie

Diagnose auf den ersten Händedrück."

(George Bernard Shaw)


Glasgow, 11 Jahre später


Mit einem Knall, der durch das ganze Haus hallte, schlug ich die Schlafzimmertür hinter mir zu und schloss sie mit einer geübten Handbewegung ab.

„Victoria! Mach sofort die Tür auf! Diese Diskussion ist noch nicht beendet", brüllte mein Vater, während er mit der Faust so hart gegen die Tür hämmerte, dass das Holz ächzte. Ich zuckte zurück und war froh, dass die Tür zwischen uns war, jetzt, wo er seiner Wut freien Lauf ließ. So schnell, wie das ungute Gefühl kurz in meiner Brust aufflammte, so rasch verschwand es auch wieder. Müdigkeit erfasste mich, und ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, ließ den Kopf zurückfallen und schloss die Augen. Kopfschmerzen kündigten sich an. Heftige, stechende Kopfschmerzen hinter dem rechten Auge – wahrscheinlich verursacht durch unseren Streit, den wir seit einigen Minuten, die mir aber wie Stunden vorkamen, führten.

Angefangen hatte alles mit der letzten Party, auf der ich seiner Meinung nach zu lange geblieben war. Mein alter Herr hatte ein riesiges Affentheater veranstaltet und wie am Spieß gebrüllt, weil ich nicht zur vereinbarten Zeit zu Hause gewesen war. Ich hätte um ein Uhr zurück sein sollen, aber ich hatte gewusst, dass es knapp werden würde. Was ich ihm – zu meiner Verteidigung – auch bereits im Voraus angekündigt hatte.

Cailean und ich hatten vor einigen Tagen unseren achtzehnten Geburtstag in der Villa seiner Eltern, den Murdochs, nachgefeiert. Unser beider Geburtstag lag aber genau in den Sommerferien, am 31. August. An sich ein tolles Datum für Poolpartys, aber auch schlecht, da sich zu der Zeit meist alle Freunde in anderen Ländern oder gar anderen Kontinenten befanden.

Nicht nur das Datum meiner Geburt, sondern auch der genaue Zeitpunkt war speziell, was ich schon immer interessant fand. Einerseits, da ich um Punkt Mitternacht zur Welt gekommen war, und andererseits, weil ich während eines ‚Blutmondes' geboren wurde. Den Begriff benutzten Fachleute für eine seltene Mondfinsternis, in der der Himmelskörper als kupferrote, mystische Scheibe am Firmament steht. Als ich mich zu dem Thema im Internet schlaumachte, stieß ich dabei auf bizarre Artikel über Sekten, Hexenkreise oder andere Fanatiker. Mich brachte dieser Aberglaube schon immer zum Schmunzeln und zum Kopfschütteln.

Unsere Party hatte – wie erwartet – lange gedauert, war mit hämmernder Musik laut und vor allem auch besonders feuchtfröhlich gewesen. Trotzdem rechnete ich nicht damit, dass es bereits halb sechs am Morgen sein würde, als mich Cailean in ein Taxi steckte, das mich nach Hause fuhr. Um diese Zeit war mein Vater bereits für die Arbeit fertig und schlüpfte gerade in seinen Mantel. Dass ich grün und blass im Gesicht war, verbesserte die Situation nicht besonders, oder dass ich dümmlich wie ein Huhn gackerte und kicherte, bis sich schlussendlich mein Innerstes nach außen kehrte. Ausgerechnet auf seinen maßgeschneiderten Anzug, die Schuhe und die Aktentasche, die hinter ihm stand.

Was ich für eine Millisekunde ganz lustig fand, verlor aber seinen Witz, nachdem ich in sein hochrotes, wütendes Gesicht blickte. Bevor er zu schreien begonnen hatte, pochte die Ader an seinem Hals, und seine Hand hatte gezuckt, als würde ein Faden in ihm reißen und er nach mir schlagen wollen. Aber er hatte es nicht getan – er tat es nie. Zu meinem Glück hatte er sich damit begnügt, lauthals zu schimpfen und mich böse anzufunkeln. Wie so oft, auch wenn ich einmal nicht die missratene Tochter war, die nie an seine hohen Vorstellungen herankam.

Damit konnte ich leben, und ich war es gewöhnt – besonders seit dem Tod meiner Mutter. Doch ich nahm es ihm nie krumm, etwas zu streng zu sein, immerhin musste er sich genauso alleine und verletzt fühlen wie ich. Nicht, dass wir darüber sprachen – so innig war unsere Beziehung nicht. Aber es war nicht nur meine Mutter gestorben, sondern auch seine Frau, die nichts und niemand ersetzen konnte. Weder Geld noch Freunde und noch nicht einmal seine kleine Tochter – oder nun schon eher seine fast erwachsene Tochter.

Deshalb tobte mein Vater erneut und war nicht begeistert über die anstehende Feier am heutigen Abend. Unsere Debatte, ob ich auf die Sommerschlussfeier unserer Schule gehen durfte, dauerte bereits länger, als von mir geplant. Das Fest war seit Jahren Tradition auf der „Highschool of Glasgow". Es war keine gewöhnliche Party, sondern ein Event, bevor die Schule wieder anfing und der Alltagstrott einen einholte. Außerdem musste man einfach anwesend sein, ob man wirklich wollte oder nicht. Alles andere kam einem sozialen Selbstmord gleich, und den wollte ich in meinem letzten Highschool Jahr nicht begehen.

Wenn ich aber ehrlich zu mir war, wollte ich den Abend lieber zu Hause verbringen, mit einem spannenden Film und einer Schüssel Popcorn im Schoß oder mit einem guten Buch, anstatt mich wieder unnötig zu betrinken. Sicher könnte ich den Abend auch ohne Alkohol verbringen, aber dann würde er weniger Spaß machen, und die Nacht würde nur zur Qual werden – außerdem erwartete man es sowieso von mir. Jeder hatte seine Rolle vorzuführen, und ich spielte meine mit Bravour. Das Netz aus Oberflächlichkeiten gab mir auf bizarre Art Sicherheit und Schutz, da ich mich auf dem Terrain auskannte, das man auch Highschool nannte. Zusätzlich verbarg es meine Gefühle und Gedanken vor den ganzen Ratten und falschen Biestern an der Schule. Was will man mehr?

Um also mein Leben in der Schule wie gewohnt weiterführen zu können, sollte ich mich auf der verdammten Party blicken lassen. Koste es, was es wolle. Und, um das zu erreichen, musste ich wohl oder übel meine Nummer „das arme Kind" abziehen. Deshalb motzte ich auch nicht „Nenn mich bitte nicht mehr Victoria" zurück, sondern schluckte die Worte wie zähflüssigen Brei hinunter.

Mein Name hatte mir noch nie gefallen, und alle anderen nannten mich seit Jahren schlicht und einfach Vic. Nur mein Vater weigerte sich und nannte mich beharrlich Victoria. Er selbst hatte diesen Namen ausgesucht, da er eine Vorliebe für diese – seit Ewigkeiten – verstorbene Königin hatte. Andere Männer schwärmten von heißen Schauspielerinnen oder Sängerinnen, mein Dad ausgerechnet für tote Adelige.

Ich schob meinen Unmut beiseite, blies mir eine Strähne aus den Augen und zauberte ein strahlendes, hoffentlich gewinnendes Lächeln auf mein Gesicht, das auch Michelangelo nicht besser hätte malen können. Als ich die Tür öffnete, blickte ich in das vor Ärger gerötete Gesicht meines Vaters, den bekannten und reichen Alistair McKanzie.

Obwohl er schon fünfundfünfzig Jahre zählte, sah er für sein Alter noch ansehnlich und kräftig aus. Wie er da mit breiten Schultern vor mir stand, spürte ich wie immer sein unerschütterliches Selbstvertrauen, das man wohl nur durch ungewöhnlichen Erfolg oder ein großes Vermögen bekommen konnte. Seine blonden, kurzen Haare waren penibel nach hinten gekämmt, mit einer dezenten Andeutung eines Seitenscheitels. Fragend musterten mich seine zusammengekniffenen Augen. Doch er blieb stumm und wartete ab, wie mein nächster Schachzug wohl aussehen würde.

Reumütig und mit taktisch eingesetztem Augenaufschlag brabbelte ich meine Phrase herunter, in der Hoffnung, den Sieg im Streit davonzutragen.

„Dad, es tut mir leid! Ich hätte dich nicht anschreien dürfen. Manchmal bin ich zu aufbrausend und verbeiße mich. Aber das alles ist ... auch für mich nicht so einfach. Es ist das letzte Schuljahr und ... und sie fehlt mir."

Meine Stimme brach. Ich schluckte überrascht den Kloß hinunter, der sich bilden wollte, und, wäre es nur eine Show gewesen, hätten mich meine schauspielerischen Fähigkeiten begeistert. Dem war aber nicht so, und deshalb versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. Ganz sicher würde ich nach all den Jahren nicht jetzt zu heulen anfangen, schon gar nicht vor meinem Dad.

Als ich die Worte jedoch ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, wie ehrlich sie gemeint waren. Das war mein letztes Schuljahr, in dem mir meine Mutter hätte beiseitestehen sollen. Genauso, wie bei so vielen anderen Dingen auch, die ich aber alleine herausfinden musste: Wie bekomme ich Kaugummi aus den Haaren, wie putze ich meine Zahnspange richtig, wie tröste ich mich nach dem Tod von Bambis Mutter, oder wie finde ich den passenden BH. Ich hatte so viele Fragen als Kind, als Teenager oder auch jetzt und hätte meine Mum gebraucht – oder einen verständnisvolleren Dad. Aber alle Krisen hatte ich alleine überstanden, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern, davon musste ich überzeugt bleiben.

Ich atmete ruhig durch, sperrte unerwünschte, schwache Gefühle tief in mir ein und redete rasch weiter.

„Außerdem weißt du, dass alle von der Schule dort sein werden und ich ebenfalls dabei sein muss. Nach Mums Tod bin ich schon einmal das Gesprächsthema Nummer eins gewesen, und ich habe keine Lust, das zu wiederholen. Cailean wird auch dort sein. Du magst ihn doch. Also darf ich bitte, bitte auf die Feier gehen?"

Noch bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste ich, dass ich ihn in der Tasche hatte. Seine Augen wurden weicher, wie auch sein brummiger Tonfall, der an einen alten Bären erinnerte.

„Victoria, es kann sein, dass ich manchmal zu streng bin und es wirkt, als wolle ich dich einsperren. Aber du machst es mir nicht immer leicht."

Damit hat er gar nicht so unrecht. Doch diesen Gedanken behielt ich lieber für mich, um ihn nicht zu ermutigen, meine Fehler aufzulisten.

Mit einem strengen Blick fügte er hinzu: „Falls du dich benehmen kannst, darfst du gehen. Sag Cailean, er soll seinen Vater grüßen, ihn an unser Treffen kommende Woche erinnern und ein Auge auf dich haben. Ich will nicht, dass wieder geschwatzt wird."

Erfreut schaute ich zu ihm hoch.

„Natürlich, danke! Ich werde mich ganz sicher gut benehmen. Pfadfinderehrenwort."

Er blickte mich einen Moment mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck an, und ich wusste, auch er war sich darüber im Klaren, dass ich nicht ganz so anständig sein würde. Danach drehte er sich um und verschwand in Richtung seines Arbeitszimmers.

Die Freude über den Sieg währte nicht lange, denn gleich darauf stieg Bitterkeit in mir auf, wie Galle, die alles verätzte. Ich wünschte mir, er würde sich wirklich Sorgen um mich machen. Aber ich wusste, dass er sich mehr um das Gerede und die Meinung seiner reichen Freunde sorgte.

***

Um von dem trübseligen Gedanken loszukommen, stürzte ich mich in eine andere Welt, in ein fantastisches Reich voll Träume, Liebe und Hoffnung – in mein Lesezimmer.

Die Tür zu dem kleinen Raum befand sich zwischen meinem rosa-weißen Himmelbett und dem weißen Schminktisch und gab den Weg in meinen „Träumereibereich" frei. Hier erlaubte ich mir, mich fallen zu lassen und in die faszinierende Welt unzähliger Geschichten zu versinken. An Träume und Hoffnungen zu glauben, die ich mir im normalen Leben verbot. Lebte bei unzähligen Figuren und ihren Kämpfen mit, fieberte mit den verschiedensten Liebespaaren oder lachte mit den Narren – alle Figuren und alle Bücher gaben mir Hoffnung auf mehr Sinn im Leben, Zuversicht und Trost in bitteren Stunden. Hier war ich offen und frei – und hier durfte auch sonst niemand hinein.

An zwei Seiten meines kleinen Reiches befanden sich hohe Bücherregale, die bereits zu drei Viertel gefüllt waren. Ich strich mit den Fingerspitzen über den Rücken lieb gewordener Bücher und kuschelte mich dann auf die Couch direkt vor das Fenster, das durch blaue und violette Vorhänge verdunkelt wurde. Ich begann, in einem Buch zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Daher stand ich auf und nahm die losen Zettel mit Ideen und Geschichten in die Hand, die über den ganzen Tisch neben der Couch verstreut lagen. Ich war so unruhig, mein Bauch verkrampfte sich, und meine Haare fielen mir ständig ins Gesicht. Das ging so lange, bis ich sie genervt schnappte und zu einem Pferdeschwanz band.

Die Party lag mir schwer im Magen, doch mir blieb nichts anderes übrig, als hinzugehen. Denn ich konnte mich noch zu gut daran erinnern, wie es war, in der Schule eine Außenseiterin zu sein. Besonders schlimm war die Zeit gewesen, nachdem ich mit zehn Jahren an meine jetzige Schule wechselte und nach einem halben Jahr alle vom tragischen Tod meiner Mutter erfuhren. Vorher war ich „normal" und eine unter vielen gewesen, ohne aufzufallen, was mir ganz recht war. Aber danach wurde ich schief angesehen und gemieden, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte. Auch von Mädchen wie Cecilia oder Bethany, die vorher meine Freundinnen gewesen waren. Oder zumindest hatte ich das gedacht. Dabei waren die Blicke nicht das Schlimmste gewesen, sondern das gemeine Getuschel – als wäre ich taub und hätte es nicht hören können. Es war eine bittere Zeit ohne Freunde gewesen, aber das Gute daran war, dass ich aus ihr gelernt hatte und nun wusste, wie man sich auf sich selbst verließ.

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