83. Old friends
Dieses Kapitel widme ich _Linea_ weil sie diese Idee aufgebracht hat (:
Ich hoffe, ich schaffe es, die Bilder, die ich im Kopf habe, in Worte zu fassen. Wenn nicht, vergebt mir (Spoiler: nö).
In diesem Kapitel haben wir ein Zitat aus Old Friends von Simon & Garfunkel statt einem Zitat aus einem der 1D Songs. Ist eine Ausnahme (:
Ihr könnt es euch während des Lesens gerne anmachen.
Old friends, old friends
Sat on their park bench like bookends
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Pov Louis
Nachts Seite an Seite mit meinem besten Freund durch die Stadt zu flanieren, in der sich unser gesamtes bisheriges und gemeinsames Leben abgespielt hatte, fühlte sich merkwürdig an.
Es schien, als würde die Zeit heute Nacht nicht ihrem gewöhnlichen Lauf folgen, als hätte sie etwas aus ihrem regelmäßigen Fluss gebracht, der sonst so kräftig war, dass er alles und jeden mitreißen konnte. Die Minuten schienen gar nicht enden zu wollen und die Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war mir noch nie so undeutlich vorgekommen, wie jetzt grade. Immer wieder flackerten Bilder von Harry und mir vor meinem inneren Auge auf, die Jahre zurück lagen.
Bei Nacht gefiel mir London noch etwas besser als am Tag.
Gut, in der Gegend, in der die anderen und ich unserer WG hatten, war es nachts auch noch relativ sicher und ruhig, da gab es hier ganz andere Ecken.
Aber Harry und ich hatten uns für eine Spaziergang direkt an der Themse entschieden, da Derek in direkter Nähe zum mitunter ganz schön schmutzigen Fluss, der die Stadt teilte, lebte. Seine Wohnung befand sich in Sichtweite der Tower Bridge, dem imposanten Wahrzeichen Londons, welches bei Nacht vor lauter Lichtern erstrahlte. Auch die übrigen Gebäude nahe des Stadtzentrums und in perfekter Lage an der Themse beleuchteten die Szenerie mit ihren warmen Lichtern, die Glasriesen am Fluss schienen keinen Schlaf zu finden. Die ganze Stadt pulsierte merklich, die Geräusche der Autos und nachtaktiven Londoner konnte ich ebenso klar vernehmen wie die Motorengeräusche der Schiffe, die die Themse in eine Verkehrsstraße verwandelten.
Trotzdem erfasste mich eine seltsame Ruhe, während Harry schweigend neben mir am Ufer entlang schlenderte. Der kalte Wind und der leichte Nieselregen, der uns dazu zwang, die Jacken enger um unsere Körper zu schlingen, machte uns beiden kaum etwas aus und die schwermütige Stimmung, die in der Wohnung auf unseren Schultern gelegen hatte, schien längst fort gewaschen zu sein.
Ich fragte mich, ob Harry die Entscheidung bereute, mit mir her gekommen zu sein. Immerhin hatte er Gäste daheim. Sicher würde er ein ordentlich schlechtes Gewissen haben. Ich schielte vorsichtig zu meinem besten Freund hinüber.
Trotz des spärlichen Licht der umliegenden Gebäude erkannte ich augenblicklich die Entspannung in seinen Gesichtszügen. Harry hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt, um mit Bewunderung in den Augen zum Tower of London am gegenüberliegenden Ufer der Themse zu starren, welcher wie die Tower Bridge als wuchtiges Merkmal Londons in den nächtlichen Himmel ragte. Unser langsames Schritttempo schien ihm glücklicherweise keiner allzu großen Schmerzen zu breiten. Der dunkelgrüne Schal, den Haz sich vorsorglich umgebunden hatte, flatterte wie seine Locken sanft im Wind und ich bemerkte seine entspannt herunter gesackten Schultern. Harry war froh, hier zu sein.
Ich wandte den Kopf ab und steckte meine inzwischen ziemlich eisigen Hände in meine Jackentaschen. Die Stille zwischen Haz und mir war angenehm und ich wollte diese ungern durch Worte brechen, aber ich verspürte trotzdem den Drang, mit ihm über alles zu sprechen.
Ich seufzte leise und senkte den Kopf.
Ich bemerkte, wie Harry den Blick zu mir wandte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen, dann spürte ich, wie der Lockenkopf mich sanft mit der Hand an stupste. Ich blinzelte fragend zu ihm herüber.
,,Ist dir kalt?", fragte er leise und ich schüttelte den Kopf, obwohl in der selben Sekunde ein Regentropfen seinen Weg in meinen Kragen fand und mir eiskalt den Rücken hinunter tropfte. Ich schauderte und vernahm Harrys leises Lachen. Mit flinken Fingern entknotete Haz seinen Schal, bevor er mich stoppte und mir den leicht kratzigen Stoff vorsichtig um den Hals schlang. Ich hielt die Luft an, als der Grünäugige mit konzentriertem Blick noch näher an mich herantrat, um den Knoten zu schließen. Harry zog die Nase kraus, während er sich alle Mühe gab, den Schal nicht zu fest zu ziehen - erwürgen wollte er mich wohl ungern.
Unbewusst biss ich mir auf die Unterlippe, seine plötzliche Nähe brachte mich deutlich mehr aus dem Konzept, als sie es sollte. Ich konnte nichts dagegen tun, Harrys Geruch von Vanille und Zimt nebelte mich förmlich ein und die Wärme, die von seinem Körper auf meinen übersprang, heizte mir wortwörtlich ordentlich ein.
,,Jetzt musst du nicht mehr frieren.", stellte der Lockenkopf nun zufrieden fest und riss mich aus meinen Träumereien, nur um sich wieder dem Fluss zuzuwenden, auf dessen Wasseroberfläche die Lichter der Stadt glitzerten.
Ich atmete tief ein und aus.
Einige Minuten verstrichen in Stille, während wir nebeneinander herliefen und die Atmosphäre der Nacht auf uns wirken ließen. Der Mond war zwischen den Regenwolken kaum auszumachen und ich legte abermals leise seufzend den Kopf in den Nacken. Vor uns erkannte ich im Dunkeln - naja, durch das Lichtermeer Londons im Halbdunkeln - die City Hall samt der winzigen Parkanlage, welche sich direkt daneben befand. Nur vereinzelt streckten kleine Bäumchen ihre kahlen Äste gen Himmel und ich bemerkte erleichtert, dass sich keine Menschenseele in der Nähe dieses Fleckchens Erde befand, auch wenn die Tower Bridge und einige kleine Pubs nur wenig weiter entfernt dank synthetischer Beleuchtung die Dunkelheit erhellten.
Ich blinzelte zu Haz hinüber und schenkte ihm einen fragenden Blick, den er mit einem Nicken quittierte. Worte brauchten wir nicht. Gemeinsam wandern wir uns vom Ufer ab und überquerten den Grasstreifen, um eine hölzerne Parkbank anzusteuern, die völlig vereinsamt unter einem der Bäumchen auf die Spaziergänger des nächsten Tages wartete. Oder auch auf uns.
Wir ließen uns auf dem über die Jahre ordentlich verwitterten Bänkchen nieder, wobei Haz einmal leise die Luft ausstieß. Ich fühlte mich schlecht dafür, dass er Schmerzen hatte, aber ich wusste, dass er das nicht zugeben würde, wenn ich ihn darauf anspräche. Vorsichtig ließ ich ihm etwas Platz, wir saßen nicht zu eng beieinander, aber auch nicht zu weit von einander entfernt. Es fühlte sich gut an.
Stille legte sich über die gesamte Szenerie. Ich lauschte dem stetigen Rauschen des Flusses, vernahm die Geräusche der Stadt wie bereits zuvor, nur wirkten sie dieses Mal deutlich beruhigender auf mich. Als seien die Motorengeräusche der Herzschlag Londons, der Stadt, die meine Heimat war.
Ich blinzelte und betrachtete staunend, wie eines der größeren Schiffe auf der Themse sich der Tower Bridge näherte, um sie zu passieren. Ich hatte den Vorgang, bei dem die wuchtige Klappbrücke ihre Klappen hochzog, um auch die Transportschiffe gewähren zu lassen, die sonst zu groß für sie gewesen wären, bereits etliche Male beobachten können. Speziell als Kinder hatten ich und die anderen nie genug davon bekommen können, die Schiffe auf der Themse zu begutachteten. Heute schenkte ich der Brücke allerdings kaum diese Aufmerksamkeit - sie war für mich schlichtweg nichts wahrlich Besonderes mehr. Jetzt grade aber, während ich neben Haz auf dieser kleinen Bank saß und die Lichter der Tower Bridge nur zum Staunen herausforderten, konnte ich den Blick kaum abwenden.
Ich dachte an die Zeit, in der ich gemeinsam mit Zayn, Liam und Harry nachmittags Streifzüge durch London unternommen hatte. Wir waren so glücklich damit gewesen, einfach wir zu sein - wir hatten uns unabhängig, stark und frei gefühlt. Wie Kinder das nun mal taten. Ich grinste. Die ganze Stadt war unser Spielplatz gewesen, auch wenn wir allesamt ehr aus den ärmeren Teilen der Stadt stammten und nur zum Boote zählen zum Zentrum der Stadt gekommen waren.
Das Schiff ließ die Tower Bridge hinter sich und bedankte sich mit einem Glitzern seiner Lichter für die geglückte Durchfahrt.
Ich musste lächeln. Ich bemerkte, dass mein bester Freund das ebenfalls tat. Zwischen uns schienen die Erinnerungen an frühere Tage unausgesprochen in der Luft zu hängen, ebenso wie unsere tiefe Zuneigung, die dabei immer mitschwang. Unsere Geschichten verbanden uns. Ich wusste, wie viel Haz diese Freundschaft, diese Verbindung, die uns zusammenhielt, bedeutete. Er wusste, dass es mir nicht anders ging.
,,In ein paar Monaten beendest du die Schule."
Harrys Worte brachen sanft die Stille und brauchten einen Moment, um bei mir anzukommen. Ich lehnte mich ein Stück zurück und musterte den Fluss.
,,Ja."
,,Was hast du danach vor?"
Der Lockenkopf klang vorsichtig, als wüsste er nicht, ob ich mich mit der Zukunft auseinandersetzen wollte. Aber das hatte ich ja längst. Nur wusste das noch so gut wie keiner. Allein meine Schwester Lottie, die mich für meine Träume ausgelacht hatte, und natürlich meine Mom. Sie wollte mich in absolut allem unterstützen, wofür ich ihr unheimlich dankbar war. Durch Harry wusste ich schließlich, wie Familie auch sein konnte. Oder durch Franzi und Nils. Die wurden von ihren Eltern ins Ausland verbannt.
Früher hatte ich immer einen actionreichen Beruf haben wollen. Irgendwas spannendes mit Verfolgungsjagden und Kriminalität, so wie im Fernsehen. Aber in den letzten zwei Jahren waren meine Vorstellungen weit realistischer geworden.
,,Ich...ich will studieren."
Harry lächelte sanft.
,,Was denn, Lou?"
,,Ich...Medizin. Ich möchte gerne Arzt werden.", sagte ich leise und befürchtete, dass meine Stimme im Wind, dem leichten Nieselregen und den Geräuschen Londons untergehen würde, aber mein bester Freund hatte mich gehört. Sein Lächeln wurde breiter.
,,Ich bin stolz auf dich, Louis. Du wirst ein hervorragender Arzt werden, da bin ich sicher."
Wir schwiegen einen Moment. Ich wusste nicht, ob er wollte, dass ich meinen Wusch begründete oder dass ich ihm davon erzählte, was für Universitäten ich ins Auge gefasst hatte. Vielleicht wollte er auch wissen, was mit der WG geschehen würde und ob ich wusste, was die anderen vorhatten. Aber Haz blieb still, genauso wie ich. Sowas konnten wir wohl jederzeit besprechen.
Wieder überkam uns das Schweigen und ich schloss für eine Sekunde die Augen, um die friedliche Atmosphäre zu genießen. Sicher, über der ganzen Situation lastete Harrys Furcht wegen Derek und ja, auch zwischen uns beiden war nicht alles im Reinen, wir mussten darüber reden, wie es weitergehen würde, aber in diesem Moment verschwanden all dieser Druck und all diese Probleme unter dem wohligen Gefühl unserer Freundschaft. Die war nämlich stärker als alles, was sich ihr in den Weg warf. Und sie war mir wichtiger als alles andere, auch wichtiger als meine Liebe zu meinem besten Freund.
,,Danke, dass du da bist, Lou."
,,Danke, dass wir schon so lange Freunde sind und bleiben werden, Hazza."
Wir lächelten beide und ich strich mir durch die längst feuchten Harre, um meine Augen freizulegen. Der Wind riss an Harrys Locken und eine einsame, vergessene Zeitung, die sicher einem der Londoner gehörte, die heute am Ufer der Themse spazieren gewesen waren, tauchte in meinem Sichtfeld auf. Das weiße Papier flatterte mit den Böen durch das Gras der kleinen Wiese und ich vernahm das Knistern der einzelnen Seiten sogar über alle anderen Geräusche hinweg klar und deutlich. Mein Lächeln vertiefte sich. Wie passend.
,,Ich bin schrecklich naiv, oder, Lou?", brach Harry das Schweigen. Er sprach so leise, dass ich mich wirklich konzentrieren musste, um seine Worte überhaupt zu verstehen, während der Wind mir um die Ohren pfiff. Ich runzelte die Stirn.
,,Wie meinst du das?"
Harry seufzte leise und ich bekam langsam eine Ahnung davon, wohin sich unser Gespräch entwickelte. Ich biss mir unsicher auf die Unterlippe und wagte es nicht, mich anderweitig zu bewegen. Es schien, als bräuchte Harry Zeit, sich seine Worte zurecht zu legen, und die wollte ich ihm lassen. Auch wenn die Atmosphäre merklich düsterer wurde.
Minuten verstrichen, während ich dem Rauschen des Wassers lauschte und so geduldig wie nur möglich wartete. Mein bester Freund setzte mehrere Mal zum Sprechen an, brach aber immer wieder ab. Ich wollte ihn in den Arm nehmen. Aber hilfreich wäre das vermutlich nicht. Also wahrte ich unsere Distanz.
,,Ich meine...Naja, ich habe Derek gesagt, dass ich ihm vergebe. Im Krankenhaus, weißt du? Und er hat ja auch versprochen, so etwas nicht mehr passieren zu lassen. Aber Louis...das meint er nicht ernst, nicht wahr? Denn wenn er sich wirklich ändert könnte...wollte...dann hätte er das alles nicht Jahre lang durchgezogen, oder?", flüsterte Harry schließlich leise und wandte gleichzeitig sein Gesicht zu mir.
Ich blickte auf und erkannte die Verzweiflung in den grünen Augen des Lockenkopfes. Mein Herz klopfte wie verrückt.
Hm. Gut zu wissen, dass Haz sich unser Gespräch am Vorabend wirklich zu Herzen genommen hatte. Da hatte er noch gesagt, dass er nicht ohne Derek konnte und wollte und dass er sich nur verzweifelt an die Hoffnung klammern konnte, dass dieser sich bessern würde. Aber wie es aussah, wusste der rationale Teil von Harry doch längst, dass sich absolut nichts ändern würde, auch nicht durch dieses anscheinend gegebene Versprechen von Derek. Und das war schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn er jetzt noch verstand, dass dieser Fakt die Liebe in ihrer Beziehung betraf und dass er nicht abhängig von dem Schwarzäugigen war...
,,Es wird sich nichts ändern, weil er nicht sieht, dass er dafür etwas tun müsste. Derek sagt, alles was passiert, geschieht durch meine Entscheidungen.", fuhr Harry fort und strich sich eine der feuchten Locken aus den Augen, wobei er den Blick von mir abwendete. Ich wartete. Würde er noch etwas hinzufügen?
Nein, Haz schwieg, aber er schien auch keine Antwort zu erwarten. Das Schweigen lastete allerdings bereits nach wenigen Sekunden so schwer auf meinen Schultern, dass ich mich ein Stück aufrichtete und den Mund öffnete.
,,Was fühlst du, wenn du feststellst, dass sich nichts ändern wird?"
Harry blinzelte. Seine Augen wanderten über die Themse, die Lichter der gesamten Stadt glitzerten darin und bildeten einen Kontrast zu seinen im Dunklen undefinierbaren Gesichtszüge. Ich spürte die Bank zittern, als mein bester Freund kurz unruhig vor und zurück rutschte, bevor er leise zischend die Luft ausstieß und eine seiner Hände in die Seite stemmte. Unsicher blinzelte ich zu ihm herüber, aber in diesem Moment entspannte sich sein Körper abermals und der Lockenkopf vergrub die Hände in seiner Regenjacke. Seine Schmerzen wollte er wohl nicht thematisieren. Ich wollte ihm irgendwie helfen, stoppte mich aber, als er nachdenklich zu murmeln begann.
,,Ehrlich gesagt ziemlich hoffnungslos.", gestand er und dieses Mal sog ich scharf die Luft ein.
,,Wie meinst du das?", wiederholte ich mich.
,,Ich liebe den guten Derek. Den, der mich im Arm hält, wenn ich Angst vor einem gruseligen Film habe, den, der mir süße Gute-Nacht-Nachrichten sendet und mir den ganzen Tag lang sagt, wie schön er mich findet. Den, der es nicht ausstehen kann, an einem Sonntag vor zehn Uhr das Bett zu verlassen und den, der nicht mal ein einfaches Shirt so zusammenlegen kann, dass es danach nicht nochmal gebügelt werden muss. Er ist mein Freund, er...beschützt mich, verstehst du?", erzählte Harry immer noch ziemlich verhalten und ich rückte unbewusst ein Stück nähe zu ihm, um seine Worte zu verstehen.
Sie taten weh, aber sie entsprachen Harrys Gefühlen. Ich wusste es zu schätzen, dass er so ehrlich war.
,,Aber das ist nicht der ganze Derek, da ist auch seine andere Seite. Der Derek, der mich am liebsten mit absolut niemandem teilen würde, der, der mich besitzen und so formen will, dass ich seiner Vorstellung entspreche. Der Derek, der mich mit Geschenken überschüttet, um mir das Gefühl zu geben, ihm etwas schuldig zu sein, der, der mich für seine egoistischen Wünsche nutzt. Alles muss sich um ihn drehen. Er gibt mir das Gefühl, für alles verantwortlich zu sein, er erdrückt mich manchmal und wenn ich nicht tue, was seinen Vorstellungen entspricht, dann...dann verletzt er mich."
Ich blieb stumm. Harry war noch nicht fertig und so ganz verarbeiten konnte ich die Bandbreite dieser Informationen auch nicht. Was in dieser Beziehung bisher alles schon passiert war, beschränkte sich aber offensichtlich nicht auf die häusliche Gewalt, das war mir klar. Und das grub sich tief in mein Herz. Ich schluckte.
,,Derek sieht nicht, dass da etwas falsch läuft, denke ich. Er schiebt die Ausbrüche auf seine Aggressionen, die ich ja auslöse. Aber...ich kann vielleicht nicht an allem schuld sein, oder? Vielleicht weiß ich nicht, wie ich richtig mit ihm umgehen muss, ja, aber er müsste doch merken, dass er sich nicht richtig verhält. Aber so, wie es aussieht, wird sich wirklich nichts ändern. Und ich habe Angst, dass ich wählen muss. Um dem lieben Derek nah zu bleiben, muss ich den Rest wohl akzeptieren. Aber..."
Harry brach ab. Wieder erfüllte unser Schweigen die Nacht. Ich musste das alles erstmal sacken lassen und Haz schien seine Gedanken ebenfalls ordnen zu müssen. Ich krallte meine Hände ebenfalls in meine Jackentaschen und zog die Schultern hoch, um mich gegen den Wind zu wappnen, der alles um uns herum mit sich zu reißen drohte.
Harry wusste also, dass der Fehler nicht in seiner Hand lag, oder zumindest nicht ausschließlich. Und er wusste, dass er eine Entscheidung treffen musste und vermutlich war ihm auch bewusst, dass nur eine einzige die logisch richtige wäre. Ich wusste, dass das einen riesigen Konflikt zwischen seinem Herzen und seinem Kopf verursachen musste.
Wie konnte ich ihm nun also helfen, das zu tun, was er später nicht bereuen würde und was dafür sorgen würde, dass er endlich in Sicherheit wäre? Denn ganz bestimmt würde Haz nicht auf Dauer mit einem so gewalttätigen Menschen wie Derek leben können, ohne wirklich ernste gesundheitliche Schäden davon zu tragen. Und das würde ich nicht zulassen.
,,Ich muss wählen, oder?"
Wählen war vermutlich das falsche Wort. Da gab es eigentlich nichts zu wählen.
,,Harry, hör zu. Ich weiß, dass du ihn liebst. Das alles muss furchtbar schmerzhaft für dich sein. Aber es gibt nur eine richtige Entscheidung, die du treffen musst. Du hast lange genug gezögert und ihm weitere Chancen gelassen. Es gibt nichts mehr, was du noch tun könntest, Sun.", würgte ich letztendlich hervor und zog die Schultern so hoch wie nur möglich.
Harry schwieg. Ich schwieg. Die Luft wirkte so schwer wie das Gewicht der Welt und wir beiden wussten nicht, was zu tun war, um die Situation zu retten. Ich hatte Harry grade gesagt, dass er endlich Schluss machen sollte. Jetzt lag es an ihm. Und wahrscheinlich war das grade falsch von mir gewesen und ich hatte ihn ungewollt unter Druck gesetzt, aber ich musste ihn endlich in Sicherheit wissen können.
Die Minuten verstrichen, ohne, dass etwas zwischen uns geschah. Wir lauschten den fallenden Regentropfen, die immer mehr wurden, zählten unbewusst die Sekunden und stießen den ein oder anderen tiefen Seufzer aus, bevor mein bester Freund schließlich den Mund öffnete.
,,Ich hab Angst vor der Zukunft, Louis."
Ich gab mir einen Ruck und wühlte meine linke Hand aus den Tiefen meiner Jacke hervor, um blind nach Harry zu tasten. Er zerrte seine Hand ebenfalls aus der Tasche und schweigend verschränkten wir unsere Finger, die Augen auf das Panorama aus Licht und Schatten gerichtet. Regentropfen liefen über mein Gesicht, als ich Harrys noch warme Hand drückte.
,,Ich auch, Harry. Aber ich weiß, dass wir Freunde bleiben werden, egal, was passiert.", antwortete ich schließlich leise. Ob Haz nun die Zukunft ohne seine Beziehung fürchtete, den Abschluss, sein weiteres Leben oder sonst etwas, ich wusste, dass ich für meinen Teil immer an seiner Seite sein würde. Und von nun an weniger egoistisch handeln würde. Denn ich hatte schreckliche Angst davor, ihn eines Tages zu verlieren.
Ich wollte nicht wie Derek sein. Ich wollte Harry nicht nur auf diese Art und Weise lieben. Ich war in erster Linie sein bester Freund. Und das wollte ich bleiben und dafür würde ich tun, was ein bester Freund in dieser Situation tun würde.
,,Ich bin jetzt erwachsen, hm? Komisch irgendwie. Ich fühle mich nicht anders als mit siebzehn.", murmelte der Lockenkopf und ich hörte ihn förmlich grinsen. Ich drückte nochmal seine Hand.
,,Du bist ja auch nur vor dem Gesetz über Nacht volljährig geworden. Ich glaube, man muss sich nicht so nach der Zahl richten, die einen definieren soll. Du bist einfach du, auch mit achtzehn. Und trotzdem...überleg mal, was du jetzt alles darfst!", antwortete ich leise und hörte Haz leise seufzen.
,,Ich hab dich lieb, Lou. Danke für alles.", flüsterte Harry und rückte das letzte Stück zu mir herüber, um sich an mich zu drücken. Ich lächelte leicht und lehnte meinen Kopf an seinen. Die nassen Locken meines ältesten Freundes klebten jetzt auf meiner Haut, aber das störte mich nun wirklich nicht. Ich war schließlich selbst triefend nass.
,,Nichts zu danken. Ich bin für dich da, weil ich dich mag, Sun."
Eine dieses Mal abschließende und endgültige Stille breitete sich um uns herum aus, als ich Harrys nun ganz schön kühle Hand drückte und meinen nassen, kalten Körper an seinen kuschelte, um den Moment zu genießen. Unsere Freundschaft schien heute Nacht nur gewachsen zu sein und ich wusste, dass sie mir wichtiger als alles andere war. Alles, was uns verband, war stärker als alles, was uns zu trennen versuchte. Und ich würde dafür sorgen, dass Haz wusste, dass er sich auf mich verlassen konnte.
Ich seufzte leise und atmete tief ein und aus. Wir würden das alles schon schaffen. Zusammen.
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Sagen wir es so, mit der Szenerie bin ich zufrieden, mit den Gesprächen nicht zu 100%.
Aber ich bin gespannt, was ihr denkt?
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