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"Yoongi?" - besorgt, da sich der Jüngste seit einigen Minuten nicht bewegt hatte, fasste Hoseok ihm an die Schultern und drückte leicht zu, in der Hoffnung, ihn aus dem Zustand wieder zurückzuholen. - "Geht es dir gut? Willst du lieber wieder nach Hause?" - das Blatt mit dem Foto wurde ihm schon längst von Jungkook abgenommen und dennoch blickte der Kleinere wie hypnotisiert auf den Fleck, wo es eben noch gehalten wurde.
"Nein." - fast tonlos lehnte er die Frage ab, schüttelte dabei leicht den Kopf, um es sich selbst noch mal deutlich zu machen, dass er sich soeben dafür entschieden hatte, in der Schule zu bleiben.
"Bist du dir sicher? Ich gehe mit dir auch sofort nach Hause." - der Schwarzhaarige zerknüllte das Blatt in seiner Hand und richtete nun seine gesamte Aufmerksamkeit auf seinen festen Freund.
"Ja." - zitternd einatmend, nickte Yoongi. - "Wir können es nicht mehr ändern." - müde richtete er seinen Blick auf die beiden älteren, die ihn nur fassungslos ansahen und nicht den Anschein machten, noch etwas zu sagen. - "Wir sollten jetzt reingehen." - in Richtung des Eingangs deutend, lief er an seinen beiden Freunden vorbei zur Eingangstür. Die Glastür, die sich von alleine öffnete, zeigte auf einer Seite ein großes Spinnennetz, was sich einmal durch die Scheibe zog. Viele abertausende Splitter wurden irgendwie noch zusammengehalten und zeigten gerade mehr als deutlich, wie sich der Teenager fühlte.
Es stimmte, er wollte am liebsten nach Hause. Doch was würde es ändern?
Die Menschen werden morgen noch genauso reden wie heute und am Ende ist es doch eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis er wieder umziehen würde.
Er müsste erneut alles hinter sich lassen, Jungkook verlassen, obwohl es doch gerade erst begonnen hatte.
Schwer schluckend, da sich sein Hals merkwürdig trocken anfühlte, blieb er vor der geöffneten Tür stehen und wartete auf die anderen beiden, die kurz darauf auch neben ihm stehen blieben. Jungkook hatte dabei direkt die kleinere, vor Angst kalte und mit Schweiß überzogene Hand seines festen Freundes genommen und drückte diese leicht.
"Immerhin ist gerade Unterricht." - Hoseok, der noch immer nicht überzeugt war, dass Yoongi gleich in die Schule gehen würde, nahm die andere Hand des Jüngsten. Dass der Schwarzhaarige von der Aktion nicht gerade begeistert war, war offensichtlich und dennoch schwieg er einfach nur. Der Größere schluckte seine Eifersucht herunter und wartete geduldig, bis der Kleinere loslaufen würde.
Noch einmal all seinen Mut zusammennehmend machte der Blauhaarige den ersten Schritt, dabei löste er jedoch seine Hände aus denen seiner Freunde, die das überrascht hinnahmen. Yoongi fühlte sich einfach nur bedrängt und das nicht mal unbedingt von Jungkook oder Hoseok.
Es lag etwas in der Luft, was ihm ein Gewicht auf die Schultern legte und dass, obwohl gerade jeder im Unterricht saß. Es war niemand da, der Kommentare abgeben könnte oder ihn schief ansehen würde. Die Türen waren alle geschlossen und vom Foyer aus gab es keine Fenster zu irgendwelchen Klassenräumen. Trotzdem spürte er bei jedem Schritt einen Blick auf sich. Es war eine Person, die direkt hinter ihm lief, und er bildete sich schon ein, den Atmen von eben jener Person spüren zu können.
Doch war da niemand. Der Jüngste drehte sich immer wieder um, doch war niemand zu sehen. Das Schulgebäude wirkte wie leergefegt und die einzigen beiden, die neben ihm liefen, waren sein fester Freund und der Weißhaarige. Da war keine Person, die direkt hinter ihm lief und ekelhaft in seinen Nacken atmen könnte.
"Yoongi, ich meinte das ernst." - Jungkook, der besorgt auf den Kleineren blickte und sich dessen komisches Verhalten nicht erklären konnte, wollte erneut den Körperkontakt zu ihm suchen, doch wurde er abermals abgelehnt.
"Wenn ich jetzt nach Hause gehe." - der Jüngste war am Fuße der Treppe stehen geblieben und blickte fast schon verzweifelt in die Augen seiner beiden Freunde. - "Dann trau ich mich morgen auch nicht. Meine Eltern erfahren es und ich ziehe wieder um. Wollt ihr das?" - den Tränen nahe blinzelte er viel und hielt den Drang zurück, sich zu ducken. Neben der Person, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, spürte er immer mehr Blicke auf sich. Sie waren angeekelt. Andere lachten und zeigten mit dem Finger auf ihn. Ab und zu war er der Meinung, etwas im Augenwinkel zu sehen, dass auf ihn zuflog. Richtig identifizieren konnte er es nicht und es kam auch nie an.
Er wusste, dass die Stimmen nur seiner Erinnerung entsprangen. Es standen schließlich keine Menschen um ihn herum, sobald er sich umsah. Die Stimmen waren die alter Klassenkameraden, Bekannte oder Fremde, die ihn runtermachten, als sein Geheimnis ans Licht kam. Yoongi war davon ausgegangen, dass er all das überwunden hatte. Schließlich hatte er sich so schon lange nicht mehr gefühlt. Und auch als seine Freunde von seinem Doppelleben erfuhren, fühlte er sich nicht so. Doch nun wusste es die ganze Schule, wenn nicht sogar die ganze Stadt. Wer konnte ihm schließlich garantieren, dass das Foto nicht schon in anderen Schulen hing, wenn nicht sogar im Internet die Runde machte.
"Nein. Das will ich nicht." - Jungkook, der sich nun endlich geschlagen gab, lief bereits die ersten Stufen nach oben, woraufhin der Jüngste und Hoseok ihm langsam folgten.
Sie hatten erneut ganz oben Unterricht und somit hatte jeder der Drei genug Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie es gleich werden würde.
Der Weißhaarige machte sich Sorgen um Yoongi, ebenso wie dessen fester Freund. Sie hatten Sorgen, doch wussten nicht wirklich wovor. Denn es würde wohl kaum jemand aufspringen und den Kleineren verprügeln. Aber manchmal reichten eben schon Blicke und Worte aus, um einen viel größeren Schaden anzurichten, als es eine einfache Prügelei getan hätte.
Der Blauhaarige hingegen war noch immer damit beschäftigt, ruhig zu Atmen und den Blicken und Stimmen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Denn wenn er auch nur einmal einbrechen würde, einmal daran glauben würde, dass da wirklich eine Person stehen würde und ihn angriff, würde er in den Halluzinationen seines Gehirns ertrinken. Sie würden real werden, bis er sogar die Berührungen spüren könnte. Er hatte in seinem Leben einmal eine solche Attacke. Seitdem hatte er sich geschworen, es nie mehr so weit kommen zu lassen und er hatte es bis jetzt recht gut geschafft.
Je mehr Stufen sie hinter sich legten, umso schwerer schlug ihm das Herz. Es fühlte sich an, als wenn es ab und zu einen Schlag aussetzte und ein leichtes Schwindelgefühl stieg in dem Teenager auf. Er hatte Angst, panische Angst und hoffte nun einfach nicht in der Klasse ohnmächtig zu werden, denn dann hätten sie einen weiteren Grund, sich die Mäuler über ihn zu zerreißen.
"Wer geht zuerst?"
Yoongi blickte erschrocken auf. Er hatte nicht mal bemerkt, dass sie bereits oben angekommen waren und vor der Tür standen. Er war stur den Schritten des Schwarzhaarigen gefolgt, hatte sich keine Gedanken darum gemacht, ob sie auf dem Weg zum richtigen Raum wären und wie lange es noch dauern würde.
"Ich mach das." - Jungkook schob den Weißhaarigen beiseite und riss, so wie er nun mal war, die Tür zum Klassenzimmer auf.
Herr Choi, der vor dem Tutorium stand und versuchte diesem etwas zu erklären, senkte die Hand mit dem Stift und blickte den 17 Jährigen missbilligend an.
"Herr Jeon, welche Entschuldigung haben sie diesmal?"
Der Schwarzhaarige verdeckte zu der Erleichterung des Jüngsten noch die Sicht auf ihn und Hoseok, sodass der Tutor nur davon ausging, dass sich der übliche Störenfried wieder eine Extrawurst erlaubte.
"Es gab einen modischen Notfall, wir mussten laufen und offensichtlich hat keiner die Kontrolle darüber, ob fremde Personen Sachen in der Schule verteilen." - kühl erwiderte er den Blick des Lehrers, dem offensichtlich nichts einfiel, was er erwidern könnte.
Die Ruhe, die daraufhin einkehrte, hielt nicht lange an, als der Teenager hinter sich griff, die Hand des Kleineren nahm und ihn mit in die Klasse zog, auf direktem Weg zu ihren Plätzen.
Sobald Yoongi die Klasse betreten hatte, ging das Getuschel los. Einige zischten so, als wenn sie flüsterten, doch war dies in einer Lautstärke, dass es jeder hören konnte. Ein Wort, das häufig viel war 'Transe' neben den weiteren abwertenden Kommentaren, die durch den Raum geschmissen wurden.
Der Lehrer vorne sah den drei Schülern nur dabei zu, wie sie zu ihrem Platz liefen. Jungkook sah dabei wütend aus. Sein eben noch neutraler Blick war verschwunden und er erdolchte die Mitschüler lieber mit seinen Blicken.
Hoseok tat so ziemlich das Gleiche, wobei man bei ihm sagen musste, dass sein Gesichtsausdruck im Gegensatz zu dem des Schwarzhaarigen wohl eher süß aussah und dementsprechend nur wenig Wirkung erzielte.
Und Yoongi selbst blickte auf den Boden. Er traute sich nicht aufzusehen, nicht mal, als er an seinem Platzt saß und die teils gefährliche, teils beschützende Aura seines festen Freundes spüren konnte.
"Wollten sie uns nicht noch was beibringen?!" - Herrn Choi aus der Starre befreiend, verschaffte sich dieser mit etwas Mühe Gehör, sprach das eben ausgebrochene Chaos jedoch nicht an.
"Huh, so viel zu integrativ, sozial und kooperativ." - missbilligend schnalzend setzte sich der Schwarzhaarige lässig wie sonst auch auf den Stuhl, achtete jedoch darauf, dass er selbst noch gut aussah und beobachtete seinen festen Freund direkt vor ihm.
"Okay. Nun, da wir uns wieder alle beruhigt haben, richtet bitte den Blick an die Tafel. Das, was jetzt kommt, ist wichtig."
Fast das gesamte Tutorium richtete ihre Blicke nach vorne, abgesehen von dem Blauhaarigen und Jungkook, der ihn beobachtete.
Yoongis Blick war starr auf die Tischplatte vor sich gerichtet, die Stimme des Lehrers hatte er vor all dem Geschrei in seinem Kopf nicht wahrgenommen. Seine Hände, die er in die lockere Hose gekrallt hatte, zitterten und sein Herz schmerzte bei jedem Schlag.
Immer wieder hörte er das Gerede seiner Klassenkameraden. Immer wieder hörte er, was sie ihm gerade alles an den Kopf geschmissen hatten. Die Würggeräusche, die imitiert wurden, als er an ihnen vorbeilief.
Es wurde lauter und lauter. Die neuen Eindrücke, die auf ihn eingebrochen waren, sobald er durch die Tür gelaufen war, vermischten sich mit den unsichtbaren Stimmen in seinem Kopf. Es war nur noch ein Wirrwarr an Lauten. Er hatte Schwierigkeiten, wirklich etwas zu verstehen, und nur die Wörter, die am meisten von den Stimmen wiederholt wurden, drangen zu dem Teenager durch. Alles andere wurde verschluckt, endete in Genuschel und legte sich wie ein Nebel auf ihn drauf.
Der Druck in seinen Ohren nahm zu und ein Tinnitus folgte kurz darauf. Das Tippen an seinem Arm, was dazu diente, die Aufmerksamkeit von ihm zu erlangen, verwandelte sich in Nadelstiche und seine Luftröhre schnürte sich zu.
Ohne es wahrzunehmen sprang Yoongi fast schon vom Stuhl auf, hatte nun wieder die gesamte Aufmerksamkeit, als er aufsah. Seine halluzinierten Stimmen verteilten sich auf die Gesichter der umliegenden Menschen und erschafften den Eindruck, dass er wieder beleidigt wurde. Selbst Herr Choi hatte eine Stimme bekommen, schrie den Blauhaarigen an, was diesem den Rest gab.
Wie, als wenn er von etwas getroffen wurde, fasste er sich schmerzhaft an den Kopf und begann sich durch die Tische zu drängeln. Es fühlte sich an, als wenn die Schüler auf ihn zu gerannt kamen. Die Wörter verwandelten sich in Messer und gaben ihm das Gefühl, als wenn sie ihn gleich erstechen wollten.
"-NGI! WOHIN!" - die Stimme des Schwarzhaarigen drang zu ihm durch und das, obwohl er das Gefühl hatte, seine Ohren hätten die Eigenschaft verloren, andere Wörter als die Beleidigungen aufzunehmen.
"K-klo." - den Kopf schüttelnd, sich dabei panisch durch die Haare fahrend, da er der festen Überzeugung war, mit etwas begossen worden zu sein, lief er in Richtung Tür, riss diese auf und verschwand im menschenleeren Flur, der in seinen Augen von Menschen überfüllt war, die nur auf ihn warteten, um ihn zu erniedrigen.
In seinem Kopf spielte sich die Hölle ab und sein ganzer Körper war in Alarmbereitschaft. Alles in ihm war vom Adrenalin durchströmt und das Einzige, was er wollte, war weg. Weg von all dem. Für ihn war das, was nur in seinem Kopf vor sich ging, eine lebensbedrohliche Situation und es zählte gerade nur eins.
Überleben.
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