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Mit vor Anstrengung klopfendem Herzen stand Jungkook seit einigen Minuten reglos vor dem recht großen Haus, wo sich laut dem letzten Snapchat-Standort Yoongi befinden sollte. Auch das Klingelschild sagte ihm, dass er sich zweifellos an der richtigen Adresse befand und dennoch klingelte er nicht. Das anfängliche Adrenalin und der Mut waren nun verflogen und die Silhouette, die man durch das milchige Glas der Eingangstür immer mal wieder sah, bereitete ihm fast schon Bauchschmerzen. Denn sobald er klingelte, würde er definitiv mit jemanden konfrontiert werden.
Entweder war es Yoongi höchstpersönlich und er würde ihn vor der Tür versauern lassen, wie Jungkook es zuvor selbst beim Blauhaarigen getan hatte, oder er müsste Herrn Min erklären, warum dieser ihn zu seinem Kind lassen sollte. Beides waren keine rosigen Aussichten, sodass sich das Blatt mit den Notizen und Ansätzen vom Vortag aufgrund der schwitzigen Hände bereits leicht zu wellen begann.
Immer wieder streckte er seinen Finger in Richtung des kleinen metallenen Klingelknopfes aus, zog ihn jedoch kurz bevor er ihn berührte, wieder zurück. Was sollte er sagen, wenn sich anschließend die Tür öffnete? Würde man ihm überhaupt zuhören?
Ihm drehte sich der Magen um und zum ersten Mal war er froh, morgens meist ohne etwas zu Essen aus dem Haus zu laufen. Zwar war seine Ernährung dadurch auch nicht unbedingt die, die ein Ernährungswissenschaftler sehen wollte, aber wer interessierte sich schon dafür.
So in seinen Gedanken gefangen, merkte er nicht, wie sich die Silhouette, die schon die ganze Zeit ab und zu zusehen war, in seine Richtung bewegte und kurz darauf die Tür aufriss.
Fast wäre der Mann im Anzug in den Schüler hineingerannt, doch konnte er sich noch rechtzeitig abbremsen.
"Nanu? Wer bist du denn? Musst du nicht in der Schule sein?" - der schwarzhaarige Mann richtete noch einmal kurz seine Krawatte, während er Jungkook beäugte.
"I-ich.." - räuspernd verbeugte sich der Jüngere aus Respekt und Anstand, was man normalerweise nicht bei ihm fand. Jedoch stand vor ihm sein vielleicht Schwiegervater und da wollte er es sich doch nicht verscherzen. - "Verzeihung. Ich bin Jeon Jeongguk und gehe in die Klasse von Yoongi. Ich wollte eigentlich zu ihm. Ist er da?" - sich unsicher über die trockenen Lippen leckend, stellte sich der Schwarzhaarige aufrecht hin. Man konnte ohne Zweifel sehen, dass der Mann vor dem Teenager Yoongis Vater war. Die Ähnlichkeit war deutlich zu sehen und dass, obwohl er den Jüngsten nur mit blauen Haaren kannte.
"Oh natürlich." - für einen Moment schien es jedoch so, als wenn der Ältere den Schüler nicht reinlassen wollte, was dafür sorgte, dass dieser es mit der Angst zutun bekam. Hatte Yoongi womöglich von ihm erzählt? Gar seinen Namen genannt? - "Ich würde ja gerne noch bleiben, aber die Arbeit ruft. Ich denke, etwas Gesellschaft tut ihr nicht schlecht. Sie ist oben, die Treppe rauf und dann in dem Zimmer mit der einzig geschlossenen Tür. Schuhe bitte ausziehen und wenn ihr Hunger habt, bedient euch. Ich bin später wieder zurück." - mit einem erschrockenen Blick auf seine Armbanduhr schob Jihun den Jungen ins Haus, wank ihm noch kurz, bevor er sich schnell zu seinem Auto aufmachte und nach einigen Minuten um die nächste Ecke in Richtung Busans Zentrum verschwand.
Etwas verdattert stand Jungkook allein in der großen Eingangshalle. Der Mann hatte ihn einfach so ins Haus gelassen, ohne dass er ihn wirklich kannte. Nicht mal Yoongi hatte bestätigt, ihn zu kennen. Seine Gedanken an die ganzen Truecrime Storys abschüttelnd, zog er wie verlangt seine Schuhe aus, stellte sie ordentlich hin und faltete noch einmal sein welliges Notizblatt auf. Doch alles, was er jetzt darauf sah, machte ihn nur noch nervöser. Es war fast so wie ein Vortrag, nur dass Jungkook normalerweise keine Angst davor hatte. Doch diesmal ging es um alles oder nichts und nicht nur um eine billige Note.
Noch einmal tief durchatmend lief er langsam die Treppe nach oben in den zweiten Stock. Seine Beine und Knie fühlten sich dabei wie Wackelpudding an und irgendwie wünschte er sich gerade einen Rollator her, der ihm dabei helfen würde, nicht jede Sekunde zusammenzuklappen. Sich mit einer Hand am Treppengeländer festklammernd, zog er sich fast schon nach oben. Der ganze Weg war mit einer Bergwanderung gleich zu setzten, nur dass die Luft nicht kühl und erfrischend war. Es gab auch keine supertolle Aussicht. Seine Aussicht war eine verschlossene Zimmertür, an die er wohl oder übel anklopfen müsste und dann würde sich alles entscheiden.
Oben an der letzten Stufe angekommen, klammerte sich der Schwarzhaarige an das Geländer. Er war dafür nicht bereit, ganz und gar nicht. Er würde viel lieber gerade wieder im Matheunterricht sitzen und dem Lehrer zuhören, als sich dem Gespräch zu stellen.
Er erkannte sich fast nicht wieder. Seit wann machte er solch ein Theater um eine einzige Person? Seit wann beeinflusste ihn die Entscheidung von jemand anderen so sehr? Es waren Gefühle und so schön das Gefühl, dieses Kribbeln und die Wärme auch waren, so beängstigend war der Effekt.
Sich einmal Mut zusprechend, stieß er sich ab und lief zur verschlossenen Tür. Seine Hände kribbelten fast schon schmerzhaft, als er die Hand hob und dreimal laut und deutlich anklopfte.
"Hast du was vergessen?" - die Stimme des Jüngsten erklang dahinter, doch kam kein herein. Somit blieb Jungkook nichts anderes übrig, als zu warten.
"Dad?" - Schritte waren zu hören, die sich unverkennbar der verschlossenen Tür näherten, die die beiden Teenager noch vor dem Aufeinandertreffen schützte. - "Hast du was vergessen? Ich dachte, du müsstest lo..-" - die Tür öffnend, da sich der Kleinere wunderte, warum sein Vater nicht ins Zimmer kam, stockte er mitten drin. Aus nur noch leicht geröteten Augen mit dunklen Ringen, darunter sehr blasser Haut und fettigen Haaren, starrte der Blauhaarige leicht nach oben, in die Augen des Schwarzhaarigen.
Minuten der Stille kehrten ein, in denen sie nichts anderes taten, als ihren gegenüber zu mustern und der Ältere kam nicht darum herum, sich schuldig zu fühlen. Schuldig, dass Yoongi so gelitten hatte. Schuldig, dass er nicht schon vorher vorbeigekommen war. Schuldig, dass er feige weggerannt war und ihn sich selbst überlassen hatte. Dabei sollte er es doch sein, dem es schlecht gehen sollte. Schließlich wurde er angelogen.
"K-koo..." - es war nicht mehr als ein Hauchen und Jungkook hatte Schwierigkeiten, es überhaupt zu verstehen.
"Hey.." - zaghaft hob dieser als Antwort die Hand, doch keiner bewegte sich.
"W-was machst du hi-ier?" - schwer schluckend umklammerte der Jüngste stärker den Türgriff, um irgendwo Halt zu finden.
"Ich will mich entschuldigen, reden, erklären und meinen Fehler wieder rückgängig machen." - seine Hand um das Papier verfestigend, sodass es zerknitterte, sah er schon fast flehend zu dem Blauhaarigen. - "Lässt du mich rein?"
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