Kapitel 3: Country-Musik

Es dauert lange, bis meine Koffer verladen sind, denn Edgar ist scheinbar ein extremer Perfektionist und alle Gepäckstücke müssen deshalb unbedingt im richtigen Winkel zueinander liegen. Es würde mich wirklich nicht überraschen, wenn er anfangen würde auch noch mit einem Geodreieck nachzumessen.

Also gehe ich als Zeitvertreib ein letztes mal durch das Internatsgebäude.

In jedem vierten Zimmer ist irgendein Mädchen, einige von ihnen weinen, andere streichen über die Wände, als würden dort mehr Erinnerungen als in ihren Köpfen zu finden sein.

Es ist nicht so, dass ich nicht verstehen kann, wieso es möglich ist, diesen Ort zu vermissen.

Nur habe ich mich eben nie hier wohlgefühlt und ich habe es mehr als nur gehasst, dass alle immer von mir erwartet haben, mich anzupassen.
Korrigiere, sie erwarten es immer noch.
Gegenwart.

Und das ist ja auch verständlich, schließlich leben wir in einer Welt, die auf Anpassung beruht, aber während die anderen die NSG als einen Ort sahen, wo sie ihre besten Freundinnen trafen und die schönste Zeit ihres Lebens hatten, war sie für mich wie ein Gefängnis.

Das mag vielleicht übertrieben klingen, aber nur als Unterstützung meines logischen Vergleichs folgende Begründungen:

Ich kam (erstens) nicht freiwillig hierher, sondern wurde dazu gezwungen, weil ich etwas getan hatte, was meine Familie (zweitens) ... sagen wir, weil ich etwas getan hatte, was meine Familie nicht ganz so toll fand.

Eigentlich ist es noch nett von ihnen, dass sie mich nicht angezeigt haben, aber als sie diese Entscheidung trafen, haben sie eigentlich mehr an sich und ihren guten Familiennamen gedacht, als an mich.
Außerdem war ich zu jung um angezeigt zu werden, doch das ist ein anderes Thema.

Jedenfalls habe ich es jetzt endlich geschafft: Ich komme aus meinem Gefängnis heraus - und direkt in ein anderes wieder herein, aber ich bemühe mich, wenigstens für ein paar Minuten so optimistisch zu sein wie Evelyn Class. Es gelingt mir nur bedingt.

Edgar steht wie eine Statue neben dem Fahrersitz der Limousine, als ich wieder auf den Vorhof trete. Die Koffer sind anscheinend alle ordentlich verladen, denn der Kofferraum ist geschlossen.

Der Himmel ist heller geworden und die Wolken haben sich verzogen. Zumindest größenteils.

„Miss, ist alles in Ordnung?", fragt der Fahrer mich besorgt, als ich mich noch einmal umdrehe.

„Natürlich.", antworte ich. „Ich verlasse schließlich meine heißgeliebte Schule."

„Sie haben diesen Ort gehasst, nicht wahr?", meint Edgar und erinnert mich dabei stark an meine Großmutter. Dieser wissende Blick und die spöttisch heruntergezogenen Mundwinkel ...

„Meine Cousine Patricia hätte ihn geliebt. Also ja, ich mochte diese Schule nie besonders.", stimme ich ihm zu.

„Haben sie sich von allen verabschiedet?"

„Ich bin bereit für die Abfahrt.", sage ich und beantworte seine Frage damit nur indirekt.

Edgar nickt: „Gut. Dann steigen sie bitte ein."

Ich nicke ihm kurz zu und gehe dann um das schwarze Auto herum, sodass ich mich auf den Sitzplatz rechts hinten setzten kann.

Die Autotür lässt sich relativ einfach aufziehen, die getönte Fensterscheibe ist ein wenig eingestaubt.

„Nun dann!", ruft Edgar und reibt sich die Hände, als ich die Tür hinter mir zuziehe und den Sicherheitsgurt schließe.

„Die Fahrt wird ein paar Stunden dauern. Unterwegs müssen wir noch jemanden mitnehmen, ich hoffe, das ist kein zu großer Umstand für sie."

„Wen?", frage ich verwirrt. Seit wann ist meine Familie so freundlich und nimmt fremde Leute in ihren eigenen Autos mit?

„Das darf ich ihnen nicht sagen.", meint Edgar und startet den Motor.

„Wieso nicht? Ich werde es doch sowieso erfahren!"

„Die Person war der Meinung, dass ... dass sie die Nachricht besser verkraften würden, wenn sie eine Überraschung würde."

Das Auto rollt langsam los, wie immer überkommt mich sofort das leichte Gefühl von Übelkeit. Ich habe Autofahrten noch nie besonders gemocht.

„Das klingt doch etwas widersprüchlich, finden sie nicht? Wenn die Nachricht so überraschend ist, wäre es nicht besser, wenn ich sie sofort erfahren -"

„Die Person war der Meinung, dass ihre Angewohnheit, alle Dinge zu lange zu überdenken besser nicht sofort eingesetzt werden sollte.", unterbricht mich Edgar und lenkt den Wagen über den Kiesweg, unter der durchaus nicht unschönen Allee hindurch, auf die Landstraße.

„Ich überdenke Dinge nicht zu lange."

„Das ist ihre Meinung, Miss. Wäre es in Ordung, wenn wir das Radio anstellen?"

Ich seufze: „Meinetwegen."

Robert hat immer Stücke von Vivaldi gehört, bis meine Mutter meinte, er solle doch auf Mozart umsteigen.

Mir war Mozart zu fröhlich, Vivaldi hatte etwas ernsteres, etwas tieferes. Etwas, das einen zum nachdenken bringen konnte.

Aber meine Familie denkt nicht gerne über tiefere Dinge nach, schon gar nicht über negative Sachen:

„Klimawandel? Ja, das ist wohl furchtbar, aber – guck mal, ein neues Auto, ist das nicht wunderschön?! Wir müssen es haben!"
oder
„Zu viel Plastik im Meer? Das ist ja wirklich ein großes Problem – aber natürlich wollen wir Extratüten, die Leute sollen doch sehen, dass wir wieder Einkaufen waren!"

Ich lehne meine Stirn gegen die Fensterscheibe und schließe die Augen.

Manchmal frage ich mich, ob irgendjemand in meiner Familie mich vermisst.

Oder ob sie froh sind, mich vergessen zu können.

Denn bei den Detroyts musst du perfekt sein.
Perfekt im Dazugehören.

Du musst freiwillig Herzen in deine Hefte malen, du musst gerne kleine Muffins mit pinker Glasur backen, du musst am liebsten ganz viele Freundinnen haben, die du mit deinem Reichtum und deiner tollen Familie beeindrucken kannst.

Und du darfst niemanden umbringen.

Nun gut, die letzte Sache ist ja noch halbwegs verständlich.

Man könnte möglicherweise auf die Idee kommen, ich würde alle Menschen hassen, aber das tue ich nicht.
Ich hätte wirklich gerne Freunde.

Ich würde meine Schule gerne so sehr lieben, dass ich eine Spendenaktion erfinde um sie zu retten.

Ich -

Das Autoradio knackt, anscheinend hat Edgar es endlich geschafft, die eigentlich sehr einfache Bedienung zu verstehen.

„Ich hoffe, du magst Country-Musik.", ruft er nach hinten, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. Dann sieht er in den Rückspiegel und lacht laut auf. „Meine Güte, du kannst aber wirklich entsetzt gucken!"

Und hier kommen wir zu einer meiner größten Schwächen: Meine Reaktionen.

Es gibt Leute, die absolut emotionslos reagieren können.
Ein leichtes, unbeeindrucktes Lächeln, oder was weiß ich, ist alles, was man bei denen als emotionale Regung bekommt.

Tja, ich habe dummerweise diese eine Sekunde.
Diese eine Sekunde, in der meine Gesichtszüge entgleisen, in der die Gefühle in meinem Gesicht so gut ablesen zu sind wie die fett gedruckten Buchstaben in einem Buch für Erstklässler.

„Also kein Country.", kommt es von Edgar und obwohl ich sein Gesicht nicht sehe, weiß ich, dass er immer noch amüsiert grinst.

[-1103 Wörter-]

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