Kapitel 2: Falsche Sommersprossen
Als ich mit meinem Rucksack und den zwei Koffern das Internatsgebäude verlasse, richten sich alle Blicke auf mich.
Oder zumindest ein sehr großer Teil.
Das hat mehrere Gründe und ich vermute, dass ich die meisten kenne.
Erstens, ich bin fast nie draußen. Nicht, weil ich die Welt dort draußen nicht mag. Es ist mir einfach zu ungeschützt.
Hinter jedem Baum kann ein Auftragsmörder lauern, oder noch schlimmer: Klassenkameradinnen.
Zweitens, alle sehen, dass ich direkt auf die schwarze Limousine zulaufe – das Auto, das so ziemlich alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Reichtum ist immer beeindruckend.
Einige finden es albern oder unnötig, andere sind neidisch - aber beeindruckend finden sie es alle.
Drittens, einige wollen garantiert wissen, von wem ich abgeholt werde.
Denn die meisten von ihnen denken ziemlich sicher, ich wäre ein Waisenkind.
Dass meine Familie es einfach nicht aushält, auch nur an mich zu denken, geschweige denn über mich zu reden oder mich zu sehen, das kommt ihnen vermutlich nicht einmal ansatzweise in den Sinn.
Denn schließlich haben sie alle ganz tolle Eltern und keine Sonnenschein-Familie, die um jeden Preis absolut glücklich erscheinen will.
Immer lächelnd, damit sie nicht nur dank ihres Geldes dermaßen strahlend erscheinen.
Tja, aber meine Familie werden sie trotzdem hier nicht sehen, egal wie gebannt sie mich beobachten. Es ist fast schon gruselig.
„Miss.", sagt der Mann in Roberts alter Uniform höflich und kommt ein paar Schritte auf mich zu.
„Wer sind sie?", frage ich ihn misstrauisch. Ich vertraue keinen fremden Leuten. Hinter jedem Gesicht steckt ein Serienkiller, einige haben ihn einfach nur besser unter Kontrolle.
Man weiß nie genau, wer sich schon verloren hat.
Außerdem, wie heißt es so treffend: Vorsicht ist immer besser als Nachsicht.
„Mein Name ist Edgar, Miss Genieve.", sagt er bemüht förmlich und weicht meinem Blick aus.
„Früher wurde ich Miss Detroyt genannt. Seit wann werde ich mit Vornamen angesprochen?", frage ich und schaffe es, dabei in gewisser Weise belustigt zu klingen.
Fast sofort bereue ich die Frage allerdings wieder.
Ich will die Antwort nicht wissen, weil ich sie mir denken kann.
Meine Familie will nicht mehr mit mir in Verbindung gebracht werden.
Nie wieder.
„Ihre Tante hielt es für sinnvoller.", sagt Edgar und starrt immer noch geradeaus ins Nichts.
„Aha.", mache ich. Wieso meine Tante?
Meine Tante hat sich nie um mich gekümmert, im Gegenteil, sie hat mich immer Gina genannt. Also, zumindest bis sie mich dann so tat, als könnte sie mich nicht sehen.
Dann war ich nur noch „Kind", oder „Du da" und das auch nur noch ganz selten.
Um ehrlich zu sein, war das gar nicht so schlimm, denn der Name Gina gefiel mir nie.
Und meine andere Tante, die immerhin meinen Namen kannte, ist tot.
Dank mir.
„Jenny!", ruft jemand, ich ignoriere die Stimme wie so viele Stimmen zuvor und reiche Edgar meine Koffer, der sie langsam und bemüht ordentlich in den Kofferraum einlädt.
„Ich glaube sie sind gemeint, Miss.", meint Edgar nach einigen Sekunden, als er bemerkt, dass ich nicht auf den Jenny-Ruf reagiere.
Wieso sollte ich auch? Ich habe hier keine Freundinnen, also will ich auch keine freundschaftlichen Spitznamen. Schon gar nicht wenn sie dermaßen schlecht sind.
„Jenny!", ruft wieder dieser Jemand und ich drehe mich seufzend um.
Das Mädchen, das auf mich zukommt ist sehr sehr dumm, sogar wenn man davon absieht, dass sie mich soeben „Jenny" genannt hat.
Ihr Gesicht ist voller Fake-Sommersprossen aus der Sprühdose und ihre Wimpern stehen in einem unnatürlichen Winkel nach oben.
Ach, und ihr Name ist Mareille. Von ihren Freundinnen wird sie Reilla genannt, was meiner Meinung nach wie ein Synonym für Kotze klingt.
„Was ist?", frage ich sie und ärgere mich extrem darüber, dass ich zu ihr hochblicken muss. Sie ist circa sieben Zentimeter größer als ich.
Wachstum wird wirklich unfair verteilt.
„Willst du Drogen von mir?", frage ich sie. Sie lacht spöttisch: „Die Nummer zieht nicht! Ich weiß, dass das Zeug bloß Pfeffer ist."
„Pfeffer ist schwarz.", sage ich, fast schon fasziniert von ihrer Intelligenz. Wenn sie sich noch ein wenig anstrengt, erreicht ihr IQ vielleicht sogar knapp den eines Koalas.
„Ja, und?!", meint Mareille und sieht mich an, als wäre ich ein auf den Boden geschmissenes Stück Abfall.
„Egal. Was willst du?", frage ich.
„Ähm ... meine Eltern dort drüben wollten sich nur vielleicht kurz mit deinen unterhalten.", meint Mareilla und kratzt sich am Kopf, bevor sie möglichst lässig hinter sich zeigt.
„Meine Eltern sind nicht hier."
„Oh. Dann kannst du ihnen ja die Nummer von meinen Eltern geben. Sie würden sich garantiert gut verstehen.", schlägt sie vor und hält mir ein kleines Papierzettelchen mit einer ordentlich notierten Telefonnummer vor die Nase.
Es geht also um Geld.
Wie man vielleicht bemerken konnte, ist meine Familie nicht gerade arm. Ganz im Gegenteil.
Die Detroyts sind ein ziemlich großer Name und sie sind überall.
Wir ... nein, ich korrigiere mich, die Detroyts, von denen ich abstamme, haben eine Lippenstiftmarke, viele Aktien für irgendetwas, bei dem ich mir unsicher bin, wie legal es eigentlich ist, viele verschiedene Gebäude, anderen Kram und sehr viel geerbt.
Und doch schaffen sie es nicht, die Wände in ihrem Salon in den richtigen Farben zu streichen.
Aber immerhin haben wir überhaupt einen Salon.
„Natürlich.", lüge ich und nehme den Zettel von Mareilla entgegen. Sie muss ja nicht wissen, dass meine Eltern mich vor Jahren verstoßen haben.
Egal.
„Na dann.", sagt Mareilla so süßlich, dass ich ihr unglaublich gerne Salz in den Mund kippen würde.
Dann macht sie überraschenderweise einen Schritt auf mich zu und streckt die Arme aus, als wolle sie mich umarmen.
Ich unterdrücke ein Seufzen und drücke mich rechts von ihr vorbei, ohne sie auch nur im geringsten zu streifen.
Mareilla dreht sich mit einem empörten Aufkeuchen zu mir um: „Was -"
„Oh, tut mir leid. Wie unhöflich von mir. Ich hab komplett vergessen, mich zu verabschieden: Also, Tschüss.", sage ich und Mareilla klappt den aufgerissenen Mund wieder zu: „Kein Wunder, dass du keine Freunde hast!"
"Hast du denn Freunde? Echte, meine ich. Nicht die Art, die sich hinter deinem Rücken mit deinen Exfreunden triffst. Oh, warte: Das hast du deiner Freundin verheimlich!", entgegne ich.
Mareilla will darauf noch etwas erwidern, das zeigt sie deutlich an der Art, wie sie ihre Stirn in Falten legt.
"Ich unterhalte mich nicht mit Losern!", sagt sie dann schnippisch, dreht sich um und wirft ihr Haar über die linke Schulter.
"Und für dieses Comeback hast du so lange gebraucht?", rufe ich ihr amüsiert hinterher.
Mareilla dreht sich nicht mehr zu mir um, sondern streckt stattdessen ihren linken Mittelfinger in meine ungefähre Richtung.
Der Winkel ist absolut nicht korrekt, aber ich weise sie nicht mehr darauf hin.
[-1094 Wörter-]
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