Kapitel 17: Zigaretten

Am nächsten Morgen lasse ich das Frühstück ausfallen („Nein, Mary, ich habe wirklich keinen Hunger! Nein, ihr müsst auch nicht auf mich warten!") und gehe zu der nächsten Lehrperson, die ich sehe.

Es ist Mr Mors.
Er geht langsam die Treppenstufen hinauf und herunter, murmelt dabei leise unverständliche Worte vor sich hin und spielt mit seinem bunten Hut.

„Ah, die gruselige Genieve!", sagt er und breitet die Arme aus, als er mich entdeckt. „Was für ein Schmerz quält dich heute?"

„Die Menschheit.
Wissen sie, wo ich Mrs Nuage finden kann?"

Mr Mors nimmt seinen Hut ab und fährt nachdenklich über die Krempe: „Hm. Mrs Nuage ... wenn mich nicht alles täuscht, ist sie zu dieser Zeit immer draußen und versucht, ihren Schmerz mithilfe grauen Rauches zu vertuschen -"

„Dankeschön.", unterbreche ich ihn eilig.

„Keine Ursache! Möge dein weiteres Leben von Albträumen geplagt sein!"

Ich renne die Treppe herunter, pralle fast mit einer kleinen Gruppe Jungs zusammen und laufe dann nach draußen auf die Wiese.

Es ist leer hier.

Die Meisten frühstücken vermutlich, oder sitzen im Innenhof oder ihren Zimmern, um Hausaufgaben nachzuholen und sich mit ihren Freundinnen und Freunden über alles mögliche auszutauschen.

Das Gras ist nass, ein feiner Nebel hängt in der kühlen Luft.

Als ich weiter über das Gelände gehe, sehe ich, wie dunkler Rauch sich wirbelnd mit dem Nebel vermischt.

„Mrs Nuage.", sage ich laut und meine Tante zuckt erschrocken zusammen, drückt ihre Zigarette möglichst unauffällig aus: „Genieve!"

„Du rauchst.", stelle ich unnötigerweise fest.

Meine Tante atmet pfeifend aus, stößt den Rest Rauch, der noch in ihrem Mund war langsam in die Luft: „Möglicherweise."

„Also hast du dich dafür entschieden, dich selbst umzubringen."

Tante Aurelia sieht mich wütend an: „Du hast doch keine Ahnung, wie hart das Leben ist!"

„Nein.", gebe ich ehrlich zu. „Ich weiß nur, wie es ist, von der eigenen Familie an den Rand der Vergessenheit getrieben zu werden, und am Ende alles dafür zu tun, auch nur ansatzweise bemerkt zu werden."

„Nicht schön.", seufzt meine Tante und sieht die ausgedrückte Zigarette traurig an. „Gen, du hast früher gerne alles einigermaßen tödliche geklaut, erinnerst du dich?"

Früher?

„Ja.", antworte ich.

„Rattengift, kleine Messer ... einmal hast du sogar die Pistole aus dem Zimmer von Grandpa geklaut und dich fast erschossen."

„Fast.", betone ich.

Meine Tante lächelt grimmig: „Das haben wir gemeinsam, Kleine. Wir mögen beide das besonders gerne, was uns zerstören wird.
Außerdem: Habe ich jemals deine Angewohnheiten kritisiert?"

Ich antworte nicht.

„Siehst du?! Ich weiß, dass das hier ... ", - sie wedelt mit der Zigarette. Ein Stück Asche fällt dabei rauchend ins Gras. „ ... ich weiß, dass es nicht gut ist. Dass ich mir die Lunge zerstöre, und dass ich mich wie ein Lamm auf die Schlachtbank damit führe. Aber ich kann nicht aufhören.

Man nennt es „Sucht". Ich weiß, wie schlecht es ist ... aber ich weiß nicht, wieso ich aufhören sollte."

„Weil dich Leute brauchen."

„Ach ja?! 

Egal: Wieso bist du zu mir gekommen?"

Ich zwinge mich, den Gestank der Zigarette zu ignorieren: „Ich bin vorgestern fast gestorben.
Ich wurde mit einem Messer beworfen.
Es hat mich verfehlt.
Ich habe einen geheimen Flur, also, eigentlich eine gesamte geheime Welt hinter den Mauern von Tenarc gefunden und so ziemlich überall sind irgendwelche Leute mit Waffen.

Außerdem will ich wissen, ob meine Eltern wirklich denken, dass ich tot bin. Und wieso die Direktorin weiß, wer ich bin."

Meine Tante seufzt, als würde sie das Leid der gesamten Welt auf ihren Schultern tragen und zieht eine neue Packung Zigaretten aus ihrer Jackentasche: „Gen, das ist unwichtig -"

„Hör auf damit! Bitte."

Das nächste Seufzen: „Okay. Aber wenn du mich unterbrichst, lässt du mich in Ruhe rauchen. Es ist hart, euch kleine Monster zu unterrichten!"

Ich nicke stumm und meine Tante zieht einen Mundwinkel hoch: „Okay. Das hier ist die ... Wahrheit.

Deine Eltern haben nie erfahren, dass deine Schule geschlossen hat. Sie denken, du sitzt gerade sicher in der NSG.
Die Mail, die verschickt wurde, haben ich und meine ... Freunde abgefangen.

Ich beschloss, dass es besser wäre, wenn du deine verdammten Rabeneltern endlich hinter dir lässt. Ich wollte, dass ihr alle miteinander brecht, verstehst du?

Genieve, ich hab doch gesehen, wie das bei uns lief. Deine Eltern waren glücklich, wenn du in der Ecke saßst. Am besten warst du gar nicht erst im Raum!

Glaubst du, es war einfach für mich, dich da sitzen zu sehen?! Weinend in der Küche, vor dem dunklen Backofen, weil deine Eltern wieder Besuch hatten?!

Nein.

Ich wollte, dass du abschließt! Dass deine Eltern, die dich jetzt auf einmal einspannen wollen, weil sie plötzlich dein Talent für gewisse Dinge bemerkt haben, dich nicht wieder in ihre unglaublich falschen, dreckigen Hände kriegen!

Die Tenarc Academy ... es gibt so vieles, was du nicht weißt."

„Dann erklär es mir."

„Ich kann es dir nicht erklären!"

„Versuch es wenigstens!"

„Es gibt einen Bund.
Einen Bund, der diese Schule kontrolliert.

Und dann gibt es noch eine Organisation, die versucht, den Bund aufzuhalten, bevor er mit den dreckigen Geschäften -"

„Mrs Nuage."

Meine Tante und ich fahren beide erschrocken herum.
Vor uns steht die Direktorin, die Hände sorgsam vor dem Bauch gefaltet, die Augenbrauen zusammengezogenen: „Auf dem Schulgebäude wird nicht geraucht. Wie oft muss ich ihnen das noch sagen?! Sie geben ein sehr schlechtes Vorbild ab!"

Ich habe das Gefühl, dass meine Tante ihr am liebsten die noch nicht angezündete Zigarette in die Augen stopfen würde, aber sie kann sich wohl gerade noch beherrschen: „Entschuldigung, Miss Moray. Es wird nicht wieder vorkommen."

Keine von uns glaubt ihr den Satz auch nur ansatzweise.

Mit einer Sucht schließt man nicht sofort nur durch Worte anderer ab, egal, wie eindringlich die Worte gesprochen wurden.

„Genieve Lysander! Was treiben sie hier draußen? Wollen sie nicht frühstücken?", fragt die Direktorin mich streng.

„Ich hatte keinen Hunger.", lüge ich, während mein Magen demonstrativ laut knurrt, was in dem Moment nicht besonders hilfreich ist. „Außerdem wollte ich nicht schon wieder Spinat essen."

Meine Tante hustet.

„Geh bitte wieder herein. Ich glaube, es zieht ein Gewitter auf, und ich will nicht, dass du unter einen Blitz gerätst.", sagt die Direktorin mit strengem Unterton.

Ich nicke und sehe kurz zu meiner Tante. Ich bin kurz davor, mich zu verabschieden, aber sie deutet kurz ein Kopfschütteln an, also halte ich den Mund, und gehe wieder zurück ins Schulgebäude.

Ich habe Informationen bekommen. 

Anscheinend kann man viel besser mit meiner Tante reden, wenn sie gerade raucht. Sie ist dann deutlich entspannter – aber leider auch deutlich offener, was nicht besonders angenehm ist.

Trotzdem: Jetzt weiß ich immerhin etwas.

Meine Eltern wissen vermutlich immer noch nicht, dass ich hier bin, und es gibt einen Bund und eine Organisation, die sich nicht besonders gerne mögen.

Wenn ich es außerdem richtig verstanden habe, und man es einfach ausdrücken will, könnte man sagen: Der Bund: Böse.

Die Organisation: Gut.

Und wenn ich die Dinge richtig verknüpfe, dann ist der Treffpunkt der einen im Keller und der der anderen in dem Flur, bei dem man erst fast bis aufs Dach steigen muss.

Die Sache ist nur die: Wenn beide Gruppen bereit dazu sind, Leute zu töten, kann man dann wirklich von gut und böse sprechen?

[-1197 Wörter-]

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