Waffeln und Beeren

Die erste Woche auf der Insel verging wie im Flug, eine Mischung aus salziger Meeresluft, warmem Sand unter den Füßen und langen Gesprächen am Strand. Wir schwammen jeden Tag im türkisblauen Wasser, ließen uns von den Wellen tragen und kehrten dann erschöpft und zufrieden an den Strand zurück, wo wir uns stundenlang unterhielten. Die Sonne brannte unsere Haut dunkler, und mit der Hitze kam auch eine wohltuende Trägheit. Unsere Tage verliefen langsam, fast schläfrig, als hätten wir uns kollektiv dazu entschieden, dem hektischen Tempo der Welt da draußen zu entfliehen.


Zwei Tage nach unserem nächtlichen Treffen am Strand kehrte Kento, der Ehemann von Noahs Mutter, zurück. Plötzlich erstrahlten die Lichter im Haus nebenan wieder, doch Noah blieb weiterhin bei uns. Niemand stellte das in Frage; es war fast so, als hätte sie schon immer zu unserer Familie gehört. Kento, der uns immer wieder mit Kleinigkeiten wie Wassermelonen und Eis überraschte, schien diese Tatsache ebenfalls zu akzeptieren. Er schickte uns großzügige Portionen herüber, als wolle er uns stillschweigend für Noahs Abwesenheit entschädigen.


Amalia war schließlich in Raes Zimmer gezogen, da sie es nicht mehr ertrug, mit uns beiden in einem Bett zu schlafen. Laut ihr waren Noah und ich schreckliche Schläfer, ständig in Bewegung und dadurch eine unendliche Quelle von Schlaflosigkeit. Weder Noah noch ich bemerkten jemals etwas davon. Für uns war alles normal, doch für Amalia war es einfach zu viel.


Die Abende verbrachten wir meistens im Garten. Der Rasen fühlte sich unter unseren Füßen kühl an, und die Luft war erfüllt vom Zirpen der Grillen. Das kleine Feuer, das wir manchmal anzündeten, flackerte in der Dunkelheit und warf lange Schatten auf unsere Gesichter. Wir saßen in einem Kreis, erzählten Geschichten von früher, lachten viel, und manchmal wurden die Diskussionen hitzig. Oft fanden sich Rae und Boy auf der einen Seite, während wir anderen ihnen mit vereinten Kräften gegenüberstanden. Es war ein Spiel, ein Tanz der Worte und Ideen, und obwohl die Meinungen oft stark auseinandergingen, endete alles immer in einem Lachen. Es war eine ruhige, aber gleichzeitig intensive erste Woche gewesen, die uns näher zusammenbrachte und alte Bindungen erneuerte.


An einem Morgen, während die Sonne noch tief am Horizont hing und das Licht golden durch das Zimmer drang, erklärte mir Tante Florence, dass Rae und Amalia mit meinem Vater und Onkel Augustus zu Boys Eltern gefahren waren. Sie wollten uns nicht wecken, da es sowieso nicht genug Platz im Auto gab und sie dachten, dass wir die Zeit alleine genießen könnten.


Ratlos, was ich mit dieser unerwarteten freien Zeit anfangen sollte, ging ich duschen. Das kühle Wasser rann über meine Haut, während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Danach machte ich mich auf den Weg, um Noah zu wecken. Als ich in unser Zimmer zurückkam, sah ich, dass sie das gesamte Bett eingenommen hatte, ihre schlanken Beine ausgestreckt, die Arme über dem Kopf verschränkt. Sie wirkte so friedlich, und doch war da eine stille Unruhe in ihrem Schlaf.


Ich setzte mich leise auf die Bettkante und beugte mich vor. Mein nasses Haar tropfte auf ihr Gesicht, das sie im Schlaf verzog. Ich konnte mir ein leises Kichern nicht verkneifen und ließ mein Haar absichtlich hin und her schwingen, sodass kalte Tropfen auf ihre Haut fielen.


"Gracie...", murrte sie und versuchte, ihr Gesicht mit einer Hand zu bedecken, während sie sich wegdrehte. Aber ich war hartnäckig. Mit einem schnellen, spielerischen Ruck ließ ich mich auf ihren Bauch fallen. Ein leises Stöhnen entwich ihren Lippen, und ich spürte die Wärme ihrer nackten Haut unter mir. Mein Herz schlug schneller, als ich es erwartet hatte, ein seltsames, prickelndes Gefühl, das mir die Kehle zuschnürte. Ich verstand es nicht ganz – oder vielleicht wollte ich es nicht verstehen.


"Die anderen sind bei Boys Eltern, und Tante Florence wird nachher auch weg sein. Was machen wir?" fragte ich und stieß mit einem Finger spielerisch in ihre weiche Wange. Ihre Sommersprossen waren unter der Bräune kaum noch zu erkennen, aber ich stellte mir vor, wie Oma sie jetzt "Kind der Sonne" genannt hätte. Oma war nicht mehr da, und dieser Gedanke hinterließ einen leichten Stich in meinem Herzen, aber Noah, die neben mir lag, lenkte mich ab.


Noah grinste schlaftrunken, hielt aber die Augen geschlossen. Ihre Haare waren wild zerzaust, und ihr Tanktop war so weit nach oben gerutscht, dass ich die Linie ihres Bikinis sehen konnte. Ein Schauer lief über meinen Rücken, und ich wusste nicht, ob es die Kälte des Wassers oder etwas anderes war. Unsicher darüber, wie ich mich dabei fühlte, versuchte ich das Kribbeln in meinem Magen zu ignorieren.


"Noah!", jammerte ich und piekste weiter in ihre Seite, um sie endgültig wach zu bekommen. Schließlich gab sie nach, seufzte tief und schob mich von sich runter. Ich landete lachend auf dem Boden und blickte zu ihr hoch, während sie sich verschlafen aufrichtete.


"Hast du schon gefrühstückt?" fragte sie, rieb sich die Augen und gähnte ausgiebig. Ich schüttelte schnell den Kopf, immer noch leicht verlegen über meine Reaktion auf ihre Nähe."Gut. Dann machen wir uns jetzt fertig und fahren in die Stadt. Es gibt da dieses Café mit den besten Waffeln, die du dir vorstellen kannst." Ihre Stimme war jetzt wacher, und sie lächelte mich an, während sie sich dehnte, ihr Oberteil dabei noch weiter hochrutschend. Ich stand eilig auf, den Blick abwendend, und nickte bloß. Während Noah duschte, zog ich mir etwas an: ein lockeres, weißes Sommerkleid, das leicht in der Brise wehte, und dazu meine Lieblingssandalen. Meine Haare ließ ich einfach trocknen, wusste ich doch, dass die Sonne sie schnell  trocknen würde, sobald wir draußen waren.


Als Noah fertig war, trug sie einen einfachen, grauen Tanktop und Shorts, ihre Haut glänzte noch von der Feuchtigkeit des Duschens. Ihre Haare hatte sie locker zusammengebunden, ein paar widerspenstige Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Wir nahmen den Jeep von Rae – mit Florences Erlaubnis natürlich – und fuhren los. Die Straßen waren staubig und von der Sonne erhitzt, aber das störte uns nicht. Ich hatte meine Sandalen ausgezogen und die Füße auf das Armaturenbrett gelegt, das Radio spielte alte Elvis-Songs, und die Fenster waren wie immer ganz heruntergelassen. Die warme Luft wirbelte durch den Wagen, während Noah leise mitsummte, zuerst noch in tiefer Stimme, wie um Elvis nachzuahmen, fühlte ich eine innere Ruhe in mir. 


Nach einer halben Stunde erreichten wir das Stadtzentrum und parkten in einem Parkhaus. Gemeinsam schlenderten wir durch die kleinen, verwinkelten Gassen, die wie ein Labyrinth aus Kopfsteinpflaster und weiß getünchten Häusern wirkten. Überall blühten Bougainvilleen in leuchtenden Farben, und die Fensterläden waren bunt bemalt. Wir hielten immer wieder an, um uns die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen – kleine, handgemachte Schmuckstücke, bunte Sommerkleider und Souvenirs, die nach Sonne und Meer rochen.


"Wir können nachher in die Läden gehen, wenn du möchtest," schlug Noah vor, als wir vor einem kleinen Antiquitätengeschäft standen, und ich stimmte zu. Ihre Hand berührte kurz meinen Arm, und obwohl es eine flüchtige Geste war, hinterließ sie eine Gänsehaut auf meiner Haut.


Schließlich erreichten wir das Café, ein kleines, gemütliches Lokal mit Holztischen und Stühlen, die mit bunten Kissen bedeckt waren. Die Wände waren mit Treibholz und alten Fotografien dekoriert, die den Charme des Ortes ausmachten. Eine leichte Meeresbrise wehte durch die offenen Fenster, und es war angenehm kühl im Inneren. Wir setzten uns an einen Tisch in der Ecke, und ich sah mich um, während Noah die Speisekarte studierte.


"Die Waffeln sind wirklich unglaublich, aber auch die Sandwiches sind richtig gut," meinte sie, als die Bedienung kam. Wir bestellten beide Waffeln mit frischen Beeren und dazu fruchtige Smoothies. Während wir warteten, begann Noah zu erzählen.


„Weißt du, ich hab echt darüber nachgedacht, wie es wäre, hier zu studieren. Aber ich müsste das letzte Schuljahr wiederholen. Der japanische Abschluss wird hier nicht anerkannt, also bleibt mir keine andere Wahl. Aber ich glaube, es könnte eine gute Chance sein, noch einmal neu anzufangen."


Ihre Stimme war nachdenklich, aber auch entschlossen. „Ich möchte Kinderärztin werden. Kinder sind einfach so... ehrlich, weißt du? Sie sagen, was sie denken, und das mag ich. Sie haben keine Vorurteile, keine Mauern, die sie hochziehen. In Japan war es manchmal schwierig, Anschluss zu finden. Die Kultur ist so anders, und ich hatte oft das Gefühl, dass ich nicht wirklich dazugehörte."


Ich lehnte mich zurück und lauschte ihrer Stimme, die mir jetzt vertrauter war als jeder andere Klang. Sie erzählte weiter von ihrer Zeit in Japan, wie sie sich anfangs so verloren gefühlt hatte. „Es war hart, besonders am Anfang. Ich wollte dazugehören, also habe ich mich an die falschen Leute gehängt. Ich war sogar eine Zeit lang in einer Gang, wenn du das glauben kannst! Aber Kento hat mich da rausgeholt, bevor es schlimmer wurde. Ich bin ihm so dankbar. Ich habe echt keine Ahnung, wie ich da reingeraten bin."


Ihre Augen leuchteten, als sie sprach, und obwohl die Geschichten, die sie erzählte, nicht immer fröhlich waren, war da eine Lebendigkeit in ihr, die mich in ihren Bann zog. Ihre Worte flossen wie ein Fluss, und ich konnte mich einfach nicht satt hören. Sie redete weiter, bis unsere Waffeln kamen – goldbraun und duftend, mit einer Schicht aus saftigen Beeren und einer Kugel Vanilleeis.


Ich nahm einen Bissen, und der süße Geschmack explodierte auf meiner Zunge. „Du hattest recht, die sind wirklich unglaublich", murmelte ich, und sie lächelte zufrieden. Noah schob sich eine Gabel voll Waffeln in den Mund und sprach mit vollem Mund weiter. „Siehst du, ich hab's doch gesagt! Hier kriegt man die besten Waffeln der Stadt."


Wir aßen langsam, genossen jeden Bissen und jedes Wort, das wir wechselten. Es war, als ob die Zeit stehen geblieben wäre, nur für uns zwei. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen, die Art, wie sie sprach, wie sie lachte. Es war neu für mich, dieses Gefühl, das sich in meiner Brust ausbreitete, aber es war nicht unangenehm. Es war warm, beruhigend und doch aufregend zugleich.


Als wir das Café verließen, hatte Noah, ohne dass ich es bemerkt hatte, die Rechnung bezahlt. Sie grinste nur frech, als ich sie darauf ansprach, und zuckte mit den Schultern. „Das nächste Mal bist du dran", sagte sie mit einem Zwinkern. Wir lachten, und ich spürte, wie die Sonne uns von oben herab anstrahlte, als wir zurück auf die Straße traten.

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