Saurer Smoothie

In den folgenden Tagen tat ich so, als wäre nie etwas zwischen mir und Rae geschehen. Trotz meiner Bemühungen, ihn diskret zu meiden, spielte Rae die Rolle des unbeteiligten Freundes perfekt. Ich spürte, wie er mich ab und zu kritisch musterte, ein Hinweis darauf, dass er wusste, dass seine Vermutung über unser Verhältnis zutraf. Dennoch hielt er sich zurück, und ich tat es ihm gleich. Es war mir unbegreiflich, dass er sich mit dieser Fassade begnügen konnte, besonders wenn man bedachte, dass Noah und ich uns seit jenem Tag jede Nacht Hand in Hand zusammenkauten. Vielleicht ahnte Rae, dass sein „Revier“ tatsächlich unter Gefahr stand, aber ich wollte mir keine Illusionen machen, wie weit seine Rücksichtnahme wirklich ging.

Am nächsten Morgen, beim Frühstück, schenkte mir mein Vater ein aufmunterndes Lächeln, das mehr bedeutete als tausend Worte. Es war ein leises Versprechen, dass er für mich da war, falls ich ihn brauchte. Es war klar, dass er meine emotionale Zerrüttung erkannte, doch wie er es immer tat, ließ er mir den Raum, den ich benötigte. Da meine Mutter noch nicht angerufen hatte, musste er sie wohl ebenfalls über die aktuelle Lage im Unklaren gelassen haben. Ihre tägliche Kommunikation war durch die schlechte Verbindung eingeschränkt, und ich wusste, dass er sie nicht belogen hatte. Mein Vater war ein wahrer Fels in der Brandung.

Der Rest der Familie nahm meine Abwesenheit an diesem Tag nicht weiter wahr, und so verlief der Alltag wie gewohnt. Amalia hatte in zwei Tagen Geburtstag, und wir wollten ihr ein besonderes Geschenk besorgen. Noah schlug vor, etwas im Kunstladen zu kaufen – eine Idee, die mir sofort gefiel. Rae, der zufällig unser Gespräch belauscht hatte, schien ebenfalls interessiert. Da es mir unangemessen erschien, Rae einfach auszuschließen, waren wir nun zu dritt unterwegs.

Im Kunstladen entdeckten Noah und ich eine elegante Ledermappe für Zeichnungen. Wir waren uns jedoch unschlüssig, ob sie in Hell- oder Dunkelbraun schöner war und ob wir Amalias Namen gravieren lassen sollten. Rae stand gelangweilt neben uns und spielte mit seinem Autoschlüssel, sichtlich genervt von unserer langen Entscheidungsfindung. Wiederholt hatte er angedeutet, dass wir uns beeilen sollten, doch wir ließen uns nicht beirren. Es ging schließlich um Amalias Geschenk, und wir wollten sicherstellen, dass es perfekt war.

„Ich finde, die dunkle Mappe ist praktischer, weil man den Schmutz nicht so schnell sieht“, sagte ich und deutete auf das dunkle Exemplar im Regal.

Noah nickte zustimmend und nahm die Mappe in die Hand. „Das wären dann mit der Gravur 90 Euro. Ist das in Ordnung?“

„Ja, das ist okay“, bestätigte ich mit einem Lächeln. Rae nickte, ohne weitere Kommentare.

Nachdem wir die Mappe zur Kasse gebracht und die Gravur veranlasst hatten, wurde das Geschenk sorgfältig in weißes Papier gewickelt und in einen Karton gepackt. Der ganze Vorgang hatte eine beruhigende Routine, die mich vorübergehend von meinen Sorgen ablenkte. Als wir den Laden verließen, war es bereits Mittag, und die Sonne strahlte warm auf uns herab. Ich ließ die heiße Luft über mein Gesicht streichen.

„Lust auf einen Smoothie?“, fragte Rae und deutete auf einen bunten Stand in der Nähe.

„Oh ja, gerne!“, stimmte Noah begeistert zu. Doch gerade als ich meine Antwort geben wollte, verspürte ich plötzlich den dringenden Wunsch, das WC aufzusuchen. Ich suchte umher und entdeckte ein Schild mit dem WC-Zeichen.

„Ich gehe kurz aufs Klo. Treffen wir uns hier wieder?“, fragte ich.

Die beiden nickten mir zu und machten sich bereits auf den Weg zum Smoothie-Stand. Eilig folgte ich dem Wegweiser und war schnell am Ziel. Nachdem ich die Toilette aufgesucht hatte, kehrte ich zurück und suchte die Menge nach Noah und Rae ab. Doch sie waren verschwunden. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in mir breit, als ich mein Handy herausholte, um sie anzurufen. Keine Antwort. Auch beim Versuchen, Rae anzurufen, kam keine Verbindung zustande.

Verzweifelt durchstreifte ich die Mall und suchte nach den beiden. Die Menschenmenge schien mich zu erdrücken, und ich konnte kein vertrautes Gesicht entdecken. Als ich ein zweites Mal am Eingang der Mall stand und realisierte, dass ich sie nicht finden konnte, wuchs meine Besorgnis. Etwas stimmte nicht, und der Gedanke, dass Rae oder Noah in Schwierigkeiten sein könnten, ließ mich frösteln.

Gerade als ich meinen Vater anrufen wollte, erschien Noahs Nummer auf meinem Display. Schnell nahm ich den Anruf entgegen.

„Noah?“, fragte ich besorgt.

„Ja, wo bist du?“, fragte sie, und ich hörte eine unerwartete Schärfe in ihrer Stimme.

„Am Eingang. Wo bi-“

„Bleib dort. Ich bin gleich da“, unterbrach sie mich und legte auf.

Verwirrt starrte ich auf mein Handy. Warum nur Noah und nicht Rae? Und warum war Noah so verärgert? Ich kannte sie nicht in diesem Zustand.

Meine anfängliche Wut wurde von einer tiefen Sorge verdrängt. Ich blieb am Eingang stehen und beobachtete, wie Noah schließlich auftauchte. Ihre Haare waren unordentlich hochgebunden, und ihre Stirn war in tiefe Falten gelegt. Ihre Wut war förmlich greifbar.

„Wo seid ihr gewesen? Und warum ist Rae nicht bei dir?“, fragte ich sofort, als sie atemlos vor mir stand. Verzweifelt suchte ich die Umgebung nach Rae ab, aber er war nirgends zu sehen.

Noahs Gesicht verzog sich, und sie lachte spöttisch auf. „Rae ist ein verdammtes Arschloch. Er hat mir gesagt, dass wir uns am Auto treffen würden, weil er etwas mit mir besprechen wollte. Ich habe ihm geglaubt, weil ich mit der Bestellung der Smoothies beschäftigt war. Doch als ich ihm folgte, begann er, mir Komplimente zu machen, die immer unangenehmer wurden. Zuerst habe ich es als Scherz abgetan, aber als er nicht aufhörte und versuchte, meine Hand zu nehmen, wurde mir klar, worum es ihm ging.“ Sie atmete tief durch, ihre Wut noch immer spürbar.

Ihre Erzählung ließ mich erschauern. Rae hatte versucht, Noah zu manipulieren und sie dazu zu bringen, ihn zu küssen. Ihre Reaktion sei ein Lachen gewesen und Noahs Ablehnung hatte Rae offensichtlich nervös gemacht. Er habe Anstalt gemacht mit ihr einfach nach Hause zu fahren, um die Situation noch zu retten. Schließlich sei es nur ein Spaß gewesen. Als Noah ihm erklärte, dass wir noch auf mich warten mussten, wurde Rae wütend und beleidigte sie. Schließlich hatte er einfach das Auto genommen und war ohne uns weggefahren.

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich und sah Noah besorgt an.

Ratlos zuckte sie mit den Schultern. „Der letzte Bus ist vor einer Viertelstunde abgefahren, und Kento ist mit meiner Mutter im Krankenhaus. Sie können uns nicht abholen.“

Noah strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. „Okay, ich werde es bei uns zu Hause versuchen. Es könnte jedoch schwierig werden. Boy ist bei der Arbeit, und Dad ist mit Onkel Augustus beim Angeln.“

Ich griff zum Telefon, doch als der Anrufbeantworter ansprang, legte ich schnell auf. Als ich Amalias Handy wählte, ging ebenfalls niemand ans Telefon. Noah schlug frustriert gegen ihre Stirn.

„Amalia ist doch mit Tante Florence beim Studentenwohnheim, wegen ihrem Zimmer!“, rief sie aufgebracht.

Ich stöhnte verzweifelt auf. Es schien, als ob heute nichts nach Plan laufen wollte. Wenn ich Rae in die Finger bekam, würde es ernsthafte Konsequenzen geben, und Noah schien dasselbe zu denken.

„Wir können nicht laufen, es ist zu warm und der Weg zu weit. Also Taxi?“, schlug ich vor.

Da ihr nichts Besseres einfiel und wir nicht ewig hier stehen bleiben wollten, nickte Noah zustimmend. Gemeinsam liefen wir zur Straße, um ein Taxi zu finden.

Der Fahrer stand an seiner Motorhaube und telefonierte aufgeregt. Als er uns sah, legte er schnell auf und kam zu uns.

„Haben Sie Zeit?“, fragte Noah höflich.

Der Mann grinste uns freundlich an. Trotz der Hitze trug er eine Mütze, und sein grauer Ziegenbart verlieh ihm ein freundliches Aussehen.

„Klar, steigt ein. Ich bringe euch zu eurem Ziel“, sagte er.

Wir stiegen ins Taxi, zwischen uns die Tüte mit dem Geschenk, und nannten ihm die Adresse meiner Tante. Der Fahrer schlängelte sich gekonnt durch den Verkehr. Die kalte Luft der Klimaanlage war eine willkommene Erfrischung, und ich lehnte mich entspannt gegen den Sitz.

Noah tat es mir gleich und wir beide genossen die kühle Luft der Klimaanlage. Es war bereits fünf Uhr nachmittags, und der Verkehr hatte sich zu einem zähflüssigen Strom von Autos entwickelt. Die Zeit schien sich zu dehnen, und nach einer gefühlten Ewigkeit begann die Umgebung, sich allmählich zu verändern. Die Gebäude wurden weniger dicht, und die Stadt hinterließ Platz für Palmen und Büsche. Wir waren auf dem Weg in ein ruhigeres, eher ländliches Gebiet.

„Glaubst du, Rae ist schon zu Hause?“, fragte ich, während ich meinen Blick durch das Fenster schweifen ließ.

Noah zuckte mit den Schultern und sah mich an. „Ehrlich gesagt, ist mir das ziemlich egal. Ich hoffe nur, er versteckt sich gut, sonst wird er es bereuen.“

Ein unbeholfenes Kichern kam über meine Lippen. Die Vorstellung, wie Noah Rae zur Rechenschaft ziehen würde, war beinahe komisch. Im Vergleich zu Rae wirkte Noah wie ein kleiner Wirbelwind, und ich stellte mir vor, wie sie ihn durch die Luft schleuderte. Noahs Drohung war jedoch ernst, und ich konnte die Entschlossenheit in ihren Augen sehen.

„Was?“, fragte sie mit einem schelmischen Lächeln, als sie meine Reaktion bemerkte.

„Es wäre wirklich ziemlich lustig, wenn du ihn ordentlich durch den Wind bringen würdest“, erwiderte ich. Noah schloss sich meinem Lachen an und meinte mit einem Augenzwinkern: „Ja, das wäre es. Aber glaub mir, ich kann ziemlich gut zuschlagen. Du weißt schon, Gang und so.“

Ich schob ihre Fäuste spielerisch beiseite und ließ mich von ihrem fröhlichen Lachen mitreißen. Es war erfrischend, inmitten all der Sorgen einen Moment der Leichtigkeit zu erleben. Doch als ich einen Blick auf die Taxanzeige warf, verflog mein Lachen schnell.

„Wir sind schon bei zwanzig Euro!“, stieß ich entsetzt aus.

Noah blickte auf die Anzeige und ihre Augen weiteten sich vor Schock. „Ich habe mehr als genug Geld dabei“, begann sie, als sie nach ihrer Tasche griff. Doch dann fiel uns beide auf, was ich bereits vermutet hatte: Noah hatte ihre Tasche vorhin nicht mitgenommen. Die Tasche, die unser Geld enthielt, war bei Rae geblieben.

Panisch starrten wir uns an, das Gewicht der Situation wurde uns jetzt erst bewusst. Die Vorstellung, dass Rae unser Geld mitgenommen hatte, verstärkte unsere Wut nur noch mehr.

„Wo ist sie?“, fragte ich, während Noah sich zunehmend aufgeregt aufrichtete.

„Ich kann es nicht fassen“, knurrte Noah, „Rae wollte die Tasche tragen, weil sie so schwer aussah, und ich habe sie im ganzen Chaos einfach vergessen. Er hat unser Geld.“

„Also haben wir kein Geld?“ Die Frage war kaum mehr als ein Flüstern, während wir beide den Blick auf den Taxifahrer richteten, der mittlerweile deutlich ungeduldig wurde.

Der Fahrer, der unsere Panik bemerkt hatte, hielt abrupt an. Wir wurden unsanft gegen die Sitze gedrückt, als der Wagen zum Stillstand kam. Der Taxifahrer starrte uns wütend an. „Hab ich das gerade richtig gehört? Ihr habt kein Geld, um mich zu bezahlen?“

Noah richtete sich auf und hob ihre Hände in einer beschwichtigenden Geste. „Doch, wir haben das Geld, nur nicht hier. Sobald wir zu Hause sind, geben wir Ihnen das Geld. Versprochen.“

Doch der Fahrer schien unnachgiebig. Er stieg aus und öffnete die Tür, um uns hinauszulassen. „Raus“, befahl er schroff.

Wir waren fassungslos. Wir befanden uns mitten im Nirgendwo, und der Gedanke, hier zurückgelassen zu werden, war erschreckend. Es war weit bis zu unserem Zuhause, und ein Fußweg wäre unmöglich gewesen.

„Seid ihr taub? Raus!“, wiederholte er und packte Noah am Arm. Noah schnallte sich schnell ab und stieg aus, während ich ihm die ganze Zeit über mit entsetztem Blick zusah.

Bevor der Fahrer auch mich herauszerren konnte, nahm ich die Tüte und schlüpfte ebenfalls aus dem Auto. Noah versuchte, den Fahrer weiterhin zu beschwichtigen. „Es fängt schon zu dämmern an, und wer weiß, wo das nächste Haus ist.“

Doch ihre Worte stießen auf taube Ohren. Der Fahrer setzte sich wieder in den Wagen und begann, sich umzudrehen. Noah rannte in die Straßenmitte und hob ihren Mittelfinger, während der Taxifahrer davonbrauste und nur eine trockene Staubwolke hinterließ.

„Arschloch!“, schrie Noah ihm nach. Ihre Stimme hallte durch die leere Landschaft, als der Wagen immer kleiner wurde.

Wir standen da, mitten im Nichts, der Himmel begann sich bereits rosa und orange zu färben und kündigte die baldige Dunkelheit an. Mein Handy zeigte keinen Empfang, und Noahs frustriertes Stöhnen bestätigte, dass es bei ihr nicht anders war.

Wir waren tatsächlich gestrandet, ohne dass jemand Bescheid wusste. Es war, als ob der Tag sich gegen uns verschworen hätte.

„Was machen wir jetzt?“, fragte ich, als wir uns in der eintretenden Dämmerung umsahen.

Noah schüttelte den Kopf, ihre Frustration war kaum zu übersehen. „Wir müssen einen Weg finden, nach Hause zu kommen. Vielleicht gibt es hier irgendwo ein Haus oder ein Gebäude, in dem wir Hilfe bekommen können.“

Wir machten uns auf den Weg, um nach einem möglichen Ort zu suchen, der uns Schutz bieten könnte oder zumindest Hilfe. Der Tag, der so gut begonnen hatte, endete nun in einer desolaten Situation, und wir mussten uns zusammenreißen, um einen Ausweg zu finden. Unser gemeinsames Ziel war klar: Wir mussten Rae und die unangenehme Situation, in die er uns gebracht hatte, irgendwie hinter uns lassen und nach Hause kommen.

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