Regen am Glas II

Der Club war gerappelt voll.


Das war keine Überraschung, da der heutige Eintrittspreis nur die Hälfte des normalen Preises betrug und die Ferien bald endeten. Es war, als wollte jeder noch einmal richtig feiern, bevor der Alltag wieder über sie hereinbrechen würde.


Der Club befand sich in einem alten Schwimmbad, das in den 90ern geschlossen worden war. Über die Jahre wurde es mehrfach umgebaut und erneuert, doch das Becken blieb erhalten. Jetzt war es mit einer großen, stabilen Glasplatte bedeckt, auf der Menschen tanzten. Darunter glitzerte das Wasser, beleuchtet von bunten Lichtern, die das Innere des Beckens in ein leuchtendes Neonpink und Lila tauchten. Die alten weißen Fliesen auf dem Boden des Beckens erinnerten an vergangene Zeiten, ein Überbleibsel der Vergangenheit in einem Raum, der sich in einen modernen Party-Hotspot verwandelt hatte.


Die Wände des Clubs waren größtenteils mit Spiegeln bedeckt, die die Bewegungen der tanzenden Gäste reflektierten. An der Decke funkelten Lichter und eine Discokugel, die das Licht in alle Richtungen warf, während sie sich langsam drehte.


Hier und da gab es Sitzecken mit Sofas und Sesseln, die aussahen, als wären sie aus einem alten amerikanischen Diner gerissen worden. Ihre knalligen Farben und das abgenutzte Leder verliehen dem Ort eine nostalgische Atmosphäre, eine merkwürdige Mischung aus Retro und Moderne. Über den Köpfen der Feiernden schwebten auf Stelzen und Schnüren Zirkusartisten. Sie waren bunt geschminkt und trugen knappe, funkelnde Outfits. Ihre Präsenz fügte sich auf seltsame Weise harmonisch in das Gesamtbild ein, als hätten sie immer schon hierher gehört.An der Bar waren die Barkeeper hektisch am Mixen von Getränken. Schon am Eingang war deutlich zu spüren, wie angespannt die Security war. Es waren einfach verdammt viele Menschen anwesend, was einerseits einen riesigen Umsatz bedeutete, andererseits aber auch totalen Stress.


Doch die meisten Leute hier waren in unserem Alter und wollten einfach nur loslassen. In stylischen Klamotten und mit bunten Getränken in den Händen hatten sie hier ihren Spaß und wollten vergessen, dass sie bald wieder nur noch Schule, Geld und ihre Zukunft im Kopf haben sollten.


Genauso wie wir.


Wir hatten uns von Onkel Augustus herfahren lassen, der uns auch gleich für den Rückweg Geld gegeben hatte. Das bedeutete, wir mussten uns keine Sorgen machen, jemanden im Haus zu wecken, um nach Hause zu kommen.


Wir Mädchen hatten uns schon am Nachmittag zusammengetan, um uns fertig zu machen. Selbst meine Nägel waren lackiert, was mein Vater dramatisch kommentiert hatte. Normalerweise blieb ich Schminke und Nagellack immer aus dem Weg, wenn es ging. Ich hatte nämlich das Talent, ständig in mein Gesicht zu fassen oder den noch feuchten Lack irgendwohin zu schmieren.


Doch meine Cousine Amalia und Noah kannten kein Erbarmen und hatten mich förmlich festgehalten, um mich zu schminken. Das Ergebnis war zwar schön und dezent, ließ mich aber dennoch ständig in den Spiegel schauen, weil ich Angst hatte, es zu verschmieren.Rae kam mit den Getränken zurück und verteilte sie. Für jeden gab es zwei Gläser Schnaps. Wir stießen an und kippten dann den Inhalt der Gläser hinunter. Das bekannte Brennen entstand in meinem Hals und wurde dann durch eine wollige Wärme im Magen ersetzt. Es musste Feigenschnaps sein.


Rae und Amalia liebten Feigenschnaps. Gleich darauf kippte ich das nächste Glas herunter. So verbrachten wir eine Weile damit, ein Getränk nach dem anderen zu trinken, bis mich Almania und Noah auf die volle Tanzfläche zogen. Meine nackten Oberschenkel lösten sich laut von dem türkisfarbenen Leder der Sitzbank. Schnell zog ich meine Jacke aus, um nicht zu schwitzen. Rae war damit beschäftigt, mit einem alten Klassenkameraden zu sprechen, was gut für uns war, da die Sitzecke besetzt blieb, während wir fort waren.


Der DJ, der auf einer höheren Fläche auflegte, begann gerade ein neues Lied. Es war irgendein harter Rap, der von der Menge begeistert bejubelt wurde. Auch Amalia kannte es anscheinend und begann sofort, im Takt zu tanzen und mitzusingen. Noah schaute mich nur fragend an, aber ich hatte es auch noch nie gehört.


Achselzuckend nahm sie meine Hand und zog mich tiefer in die Menge. Die Körperwärme der Leute schmiegte sich sofort um mich. Auch Noahs Wangen sahen leicht rot aus.Zusammen tanzten wir zum Beat. Anfangs war es ein bisschen schwierig, doch der Alkohol und die ganze Atmosphäre im Club ließen es immer einfacher werden. Irgendwann hatte ich vergessen, dass wir inmitten von anderen Leuten waren, und tanzte einfach. Es fühlte sich gut an, einfach loszulassen und zu vergessen. In letzter Zeit hatte ich zu oft nachgedacht, mir den Kopf zerbrochen und versucht zu verstehen.


Nun konnte ich einfach entspannen. Einfach nur mal sein.


Die Musik wechselte von Rap zu Techno, RnB und Pop. Sie war recht gut und perfekt zum Tanzen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir in der Menge waren, doch irgendwann signalisierte uns Amalia, dass sie etwas zu trinken holen würde. Wir zeigten ihr, dass wir verstanden hatten, und tanzten weiter.


Mittlerweile waren noch mehr Leute auf der Tanzfläche, sodass wir kaum noch Platz hatten, um Abstand zu den anderen zu halten. Doch das war nicht schlimm. Niemand achtete darauf.Das Lied, das gerade lief, ging zu Ende, und vereinzelte Töne waren zu hören. Noah riss in Erkenntnis die Augen auf und begann zu grinsen. Sofort sang sie laut mit.


Da sie recht nah bei mir war, konnte ich ihren Gesang deutlich hören. Ihre Stimme war hoch, aber angenehm. Doch sie gab sich keine Mühe, perfekt mitzusingen. Stattdessen legte sie einen Arm auf meine Schulter und schaute mir lachend ins Gesicht. Sie schien das Lied ziemlich zu mögen. Perfekt schwang sie ihre Hüfte im Takt. Ich tat es ihr gleich und lauschte.


„I should be patient, but can't hardly wait, something I wanted since the first day," sang sie und kam meinem Ohr dabei näher, bis ihr warmer Atem meine Haut streifte. Ich konnte schwören, ihre vollen Lippen zu spüren, wie sie mein Ohr kurz berührten. Noah tanzte einfach weiter und flüsterte mir dabei ins Ohr. Nun hatte ihre Stimme nichts mehr mit dem wahllosen Gesang von vorhin zu tun. Sie klang warm und brüchig, als wäre man durch die Sahara gelaufen, auf der Suche nach Wasser. So fühlte ich mich zumindest, als sie mir Wort für Wort in den Kopf einprägte. Mein Puls klopfte im Takt ihrer Stimme.


„I just wanna put my hands on you, I just wanna put my hands on you, on you, ooh when we're faded."


Ein Schauer durchfuhr mich. Gleichzeitig wurde mir warm und kalt. Als ich einen zaghaften Kuss an meinem Kinn spürte, zuckte ich zusammen. Noah murmelte weiterhin mit dem Lied mit. Mit geschlossenen Augen strich sie mit ihren dünnen Fingern an meiner Hüfte entlang. Ich hatte schon längst vergessen, wie man tanzte. Mein einziger Gedanke war, dass ich nicht aufhören durfte, weiterzuatmen.


Doch mein Körper fühlte sich schwerelos an. Als würde ich schweben. Ich wollte, dass Noah aufhörte, doch andererseits wollte ich in ihren Berührungen und zarten Küssen auf meinem Hals ertrinken.


Würde mir jemand erklären, dass dies die Realität wäre, würde ich ihn wahrscheinlich auslachen.


Sanft legte sie ihre Hand auf meine Wange und drückte ihre Stirn gegen meine. Ihre Augen waren noch immer geschlossen. Ich konnte nicht anders, als auf ihre Lippen zu starren, die mich an reife Aprikosen erinnerten. Ich wollte sie kosten, in sie hineinbeißen.


„And I don't even gotta think about it, I don't even gotta talk about it," hauchte sie gegen meine Lippen.


Ihre Augen öffneten sich und blickten direkt in meine. Ich hatte das Gefühl, in ihrem tiefen, dunklen Braun zu ertrinken. Ich konnte alles in ihnen sehen und doch wieder nichts. Doch eins war deutlich zu erkennen. Es stach hell hervor und ließ meine Haut kribbeln.


Langsam beugte sie sich zu mir und ließ die Distanz zwischen uns schrumpfen. Im Hintergrund sang die Stimme des Sängers weiter. Der Beat ließ den Boden vibrieren. Erwartungsvoll schloss ich meine Augen.


Hoffte einfach.


Und dann spürte ich ihre Lippen auf meinen.

Warm und weich.

Vorsichtig bewegte sie sie und drückte sich an mich. Wie selbstverständlich erwiderte ich die Bewegungen und legte meine Hand in ihren Nacken. Spielte wie nebenbei mit ihrem Haar. Mein Magen fühlte sich an wie bei einer Achterbahnfahrt, gerade wenn man in die Tiefe rast und sich alles leicht anfühlt. Mein ganzer Körper kribbelte. Ich fühlte mich unbesiegbar, weil ich nie gedacht hätte, dass so etwas passieren würde.


Dass sie meine Gefühle auf solch eine Art und Weise erwidern würde, hätte ich nie erwartet. Ich spürte, wie Noahs Hand sich in meinem Oberteil festhielt, als ob sie Halt suchte. Ich konnte es verstehen, denn meine eigenen Beine fühlten sich plötzlich wie Pudding an, unfähig, mich richtig zu tragen.

Plötzlich bemerkte ich, wie sich ihre Lippen zu einem Grinsen formten. Mein Herz wollte es erwidern, doch im nächsten Moment wurde ich brutal aus der Trance gerissen. Ein aggressiver Ruck zerrte mich von Noah weg, und ich stolperte schockiert nach hinten.

Verwirrung überkam mich, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Die Hand, die mich so gewaltsam von Noah getrennt hatte, verkrallte sich nun in mein Haar. Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Kopfhaut, und ich wimmerte leise, während ich versuchte, den eisernen Griff zu lösen. Ein flüchtiger Blick auf Noah zeigte mir, dass es ihr nicht besser erging. Sie war hart auf den Boden gestürzt, direkt gegen andere Leute, die jetzt nur noch starrten und nichts unternahmen. Das Ziehen an meinen Haaren wurde unerträglich.

„Na, wen haben wir denn da? Unsere zwei Lesben!", höhnte eine tiefe Stimme dicht an meinem Ohr.

Alles in mir zog sich zusammen, als ich die Stimme erkannte. Es war der Junge von damals, der uns nachgepfiffen hatte, bevor Noah ihn mit einem scharfen Wort abgewehrt hatte.

„Lass mich los, du Arsch!", rief Noah wütend, als sie von einem anderen Typen am Arm hochgezogen wurde. Der Kerl, der sie festhielt, grinste widerlich und entblößte dabei seine gelblichen Zähne.

„Also hast du dich über meinen Pfiff aufgeregt, weil du lieber ihre Fotze leckst, als mit Männern Spaß zu haben?", spottete er und rüttelte zur Verdeutlichung mit seiner Hand an ihrem Arm.

Der Schmerz in meiner Kopfhaut war kaum noch zu ertragen, doch ich biss die Zähne zusammen. Ich würde ihm nicht die Genugtuung geben, mich wimmern zu hören. Verzweifelt versuchte ich weiter, mich aus seinem Griff zu befreien, doch es schien ihm nicht einmal aufzufallen. Noah hingegen war erfolgreicher und schaffte es tatsächlich, sich mit einem kräftigen Stoß von dem Typen zu lösen.

„Lass sie los!", verlangte Noah , während sie entschlossen auf uns zuging. „Was stimmt nicht mit euch?"

Ihre laute Stimme zog die Aufmerksamkeit der umstehenden Leute auf uns, und bald hatte sich ein Kreis aus Schaulustigen gebildet. Doch keiner machte den Anschein, einschreiten zu wollen. Es war, als wären wir Teil einer grausamen Vorführung, die sie nicht unterbrechen wollten.

„Was mit uns nicht stimmt? Ich hab dir gesagt, dass man sich immer ein zweites Mal im Leben sieht, und hier sind wir, um zu sehen, wie ihr beide euch mitten in der Öffentlichkeit an die Wäsche geht."

„Wir sind uns nicht an die Wäsche... Ahh!" Der Satz erstarb auf meinen Lippen, als der Kerl erneut an meinen Haaren zog. Der Schmerz war so intensiv, dass mir Tränen in die Augen schossen. Noah sah ihn mit unbändiger Wut an und wollte nach mir greifen, doch ihre Hand wurde von einem weiteren Typen gepackt und ruckartig zurückgezogen.

Noah , die bereits am Rande ihrer Geduld war, schlug zu. Ihr Schlag war hart und präzise, und der Typ stieß einen überraschten Laut aus, doch sein Griff lockerte sich nicht. Stattdessen zog er Noah noch fester an sich. Sie jedoch kämpfte unerbittlich weiter, und endlich schritt ein anderer Junge ein, der etwa in Raes Alter war.

„Hey, lass sie los", sagte er ruhig, doch seine Stimme war fest und bestimmt.

„Halt dich raus", kam nur als Antwort. Der Junge schaute verwirrt, doch ließ nicht locker. Als er versuchte, nach Noah zu greifen, wurde er provokant von einem anderen Freund der Angreifer weggeschubst.

Sofort hob der Junge abwehrend die Hände, und eine hitzige Diskussion entbrannte zwischen ihnen. Doch für uns brachte es wenig. Noah kämpfte noch immer darum, sich zu befreien, und mein Kopf pochte vor Schmerz, als ob er gleich explodieren würde. Die brennende Spannung in meiner Kopfhaut wurde immer unerträglicher, und in meiner Verzweiflung kratzte ich den Kerl unabsichtlich mit meinen Nägeln.

„Scheiße, Alter! Was soll das!", fauchte er und drückte mich gewaltsam nach unten. Meine Beine gaben nach, und ich fiel unsanft auf den Boden, konnte mich aber gerade noch mit den Händen abfangen.

„Mach das noch einmal, und ich schwöre, ich bringe dir Manieren bei", warnte er, während er meinen Kopf an den Haaren nach oben zog. Der Schmerz war so überwältigend, dass ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Eine einzelne Träne rollte über meine Wange, und ich konnte hören, wie die Menge um uns herum aufgeregt murmelte. Irgendjemand rief meinen Namen, und dann, endlich, löste sich die Hand schmerzhaft von meinen Haaren.

Es fühlte sich an, als ob mir jemand ein ganzes Büschel Haare ausgerissen hätte. Der Schmerz durchzuckte mich, als ich nach vorne kippte, doch zwei starke Arme halfen mir sofort auf. Leicht ängstlich schaute ich auf und erkannte Amalia. Sorge und Wut spiegelten sich in ihrem Gesicht wider.

„Bist du in Ordnung? Tut dir etwas weh?", fragte sie hektisch.

Ich schüttelte den Kopf, bereute es jedoch sofort, als der Schmerz erneut aufflammte. Mein Kopf schmerzte höllisch.

Amalia schaute mich nur kurz skeptisch an und half mir dann, mich vollständig aufzurichten. Ihre Arme lagen fest um mich, als ob sie mich beschützen wollte. Ich konnte Rae sehen, wie er den Kerl am Kragen packte und ihn anschrie. Sein Gesicht war hochrot, und die Adern an seinem Hals traten hervor. Er hob die Faust, bereit zuzuschlagen, als er ebenfalls von der Security weggezogen wurde.

Amalia stöhnte leise auf, als sie die Szene beobachtete. Ich sah mich um und bemerkte, dass mittlerweile etwa zehn Sicherheitsleute eingetroffen waren. Sie hatten auch die anderen Jungs fest im Griff, und einer musste sogar Noah festhalten, die wild um sich schlug.

Die Menge, die uns vorher umzingelt hatte, machte nun Platz, als die Sicherheitsleute uns alle aus dem Club führten. Hier und da war wütendes Gebrüll zu hören, doch im Vergleich zu dem vorherigen Chaos lief alles erstaunlich ruhig ab.

Wir wurden durch einen schmalen Gang geführt und schließlich in eine dunkle Gasse gebracht, wo bereits die Polizei wartete.

„Ach du Scheiße", flüsterte Amalia und fuhr sich durchs Haar. Mir verschlug es die Sprache.

Die Sicherheitsleute begrüßten die Polizisten und begannen, ihnen die ganze Angelegenheit zu erklären. Ich konnte etwas von „Massenschlägerei" und „leicht Verwundeten" heraushören. Ein schreckliches Gefühl überkam mich. Was hatte ich nicht mitbekommen, während ich von dem Typen festgehalten worden war?

Die Polizei zählte uns durch, insgesamt elf Personen. Es musste noch ein zusätzlicher Wagen gebracht werden.

„Noch ein Wagen?", fragte Rae, der etwas abseits gehalten wurde, während die anderen Typen bereits in den Polizeiwagen verfrachtet wurden.

„Ja. Wir wollen ja nicht, dass während der Fahrt zum Revier erneut eine Schlägerei ausbricht", erklärte uns ein Polizist trocken.

In diesem Moment dämmerte es uns allen, was das bedeuten würde.

Wir würden nicht nur zum Revier gebracht werden, sondern auch unsere Eltern würden verständigt werden müssen, um uns abzuholen. Es war keine Überraschung, dass wir alle leise anfingen zu fluchen.

„Können wir das nicht irgendwie anders klären?", mischte sich nun auch Noah ein. Sie rieb sich die Schulter, die bereits leicht rötlich aussah.

„Nein, das geht nicht. Wir müssen euch alle befragen, was passiert ist, und prüfen, wer verletzt ist. Falls jemand Anzeige erstatten möchte, muss das ebenfalls aufgenommen werden." Der Polizist zog einen Block hervor und kam auf uns zu. „Ich werde jetzt eure Ausweise brauchen."

Wortlos gaben wir ihm unsere Ausweise und beantworteten die dazu gestellten Fragen. Währenddessen fuhr der erste Polizeiwagen ab, und ein neuer kam an. Ohne eine andere Wahl zu haben, stiegen wir ein und ließen uns mitnehmen.

Im Revier angekommen, wurden wir in eine Zelle gebracht. Außer uns war nur noch der Junge dort, der sich eingemischt hatte. Seine Lippe war aufgeplatzt und geschwollen.

„Ist das von vorhin?", fragte Amalia bestürzt. Der Junge hob abwehrend die Hand und versuchte, ein Lächeln auf seine geschwollenen Lippen zu bringen.

„Der andere sieht schlimmer aus", sagte er mit einem schiefen Grinsen und zeigte über seine Schulter zur benachbarten Zelle. Anscheinend saßen die Jungs, die uns angegriffen hatten, dort. „Ich bin übrigens Nick", stellte er sich vor, wobei seine Stimme trotz allem eine gewisse Lockerheit bewahrte.

„Gracie", murmelte ich und versuchte, seine Freundlichkeit zu erwidern, aber es fiel mir schwer, den Knoten in meiner Brust zu lösen. Rae nickte ihm nur knapp zu, die Anspannung noch immer in seinen Schultern sichtbar. Noah, die genau gegenüber von mir saß, schien dagegen innerlich zu kochen. Ihre Augen waren auf den Boden gerichtet, aber ihre Faust war fest geballt. Ihre Schulter war mittlerweile tiefblau angelaufen, und ich konnte die Kratzer auf ihrem Gesicht sehen. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ich die Verletzungen betrachtete.

Nick bemerkte meinen Blick und versuchte, die düstere Stimmung zu lockern. „Du hast dich echt gut verteidigt", sagte er in Noahs Richtung, ein wenig Anerkennung in seiner Stimme. „Der Typ hatte wirklich keine Chance."

Noah nickte nur stumm, ihre Augen glitzerten vor Zorn und Frustration. „Ich kenne mich mit Schlägereien aus", sagte sie schließlich, ihre Stimme war leise, aber es lag eine Härte darin, die mich erschaudern ließ. „In Japan gab es öfters mal welche. Sagen wir mal so, meine damaligen Freunde haben öfter mal welche ausgelöst."

Ihre Augen fanden meine, und ich fühlte die Tiefe ihrer Gefühle. Es war, als ob sie sich nicht nur für den Angriff rächen wollte, sondern für all die Ungerechtigkeit, die wir an diesem Abend erlitten hatten. Aber ich konnte den Blick nicht lange halten und schaute stattdessen auf meine Hände, die zitterten. Meine Kopfhaut brannte noch immer, und ich bemerkte, dass mir einige Nägel abgebrochen waren. Der Schmerz schien mich nun erst richtig zu erreichen, und ich biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien.

Plötzlich öffnete sich die Zellentür, und ein Polizist trat ein. „Noah Lewis und Gracie Thom?", fragte er, während er auf sein Klemmbrett schaute.

Sofort standen wir auf, unser Herzschlag beschleunigte sich. „Hier", sagten wir fast gleichzeitig, unsere Stimmen klangen unsicher in dem stillen Raum. Ohne ein weiteres Wort bedeutete der Polizist uns, ihm zu folgen.

Wir wurden durch mehrere Gänge geführt, vorbei an anderen Zellen und Büros, bis wir in einen kleinen, schlichten Raum kamen. Die Wände waren grau gestrichen, und in der Mitte des Raumes standen zwei Stühle vor einem Tisch. Der Polizist setzte sich und deutete mir an, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Noah wurde in einen anderen Raum gebracht, und ich fühlte mich plötzlich noch unsicherer, jetzt wo sie nicht mehr an meiner Seite war.

Der Polizist lächelte leicht, als er sprach: „Wir haben Ihren Vater benachrichtigt. Wenn wir hier fertig sind, können Sie mit ihm nach Hause gehen." Die Erwähnung meines Vaters brachte mir Erleichterung, aber auch eine tiefe Beklommenheit. Wie würde er reagieren? Würde er wütend sein, enttäuscht? Oder würde er mich einfach nur in den Arm nehmen, ohne ein Wort der Vorwürfe?

„Also... können Sie mir erklären, wie es zu dem Chaos in dem Club kommen konnte?", fragte der Polizist ruhig und überkreuzte die Arme, während er mich aufmerksam ansah.

Ich holte tief Luft, dann begann ich zu erzählen. Stück für Stück entwirrte ich die Ereignisse des Abends, angefangen bei dem Vorfall auf der Straße damals, der den Konflikt ausgelöst hatte. Als ich zu dem Kuss kam, der alles ins Rollen gebracht hatte, stotterte ich kurz. Doch der Polizist zeigte keine Reaktion, hörte mir einfach weiter geduldig zu. Es tat gut, alles von der Seele zu reden, auch wenn die Erinnerungen an den Schmerz und die Demütigung schwer wogen. Am Ende meiner Erzählung fühlte ich mich erschöpft, aber auch ein wenig erleichtert, als ob eine Last von meinen Schultern genommen worden war.

Der Polizist nickte nur, als ich fertig war, und machte sich einige Notizen. „Möchten Sie die Jungs anzeigen?", fragte er schließlich, seine Stimme war sanft und verständnisvoll. Es schien, als wolle er mir jede Möglichkeit offenlassen.

Ich zögerte. „Würde das was bringen?", fragte ich leise, die Worte fühlten sich schwer auf meiner Zunge an.

Er zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Sie würden bestraft werden, für ihr Verhalten... aber ich denke nicht, dass das ist, was Sie sich wünschen, oder?"

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es würde nichts ändern", murmelte ich. „Sie würden einfach nur noch mehr Hass empfinden."

Er nickte zustimmend. „Genau. Leider ist es oft so, dass Bestrafung nicht die Einstellung von Menschen ändert. Aber es könnte Ihnen zumindest das Gefühl geben, dass Gerechtigkeit geschieht. Was denken Sie?"

Ich spürte die Tränen in meinen Augen brennen. Ich wollte nicht, dass mein Leben von solchen Begegnungen bestimmt wurde, von Hass und Gewalt. „Nein", sagte ich schließlich. „Ich möchte keine Anzeige erstatten."

Der Polizist musterte mich eine Weile, dann nickte er langsam. „In Ordnung", sagte er sanft. „Es ist Ihre Entscheidung. Aber denken Sie daran, dass Sie immer das Recht haben, sich zu wehren, auf welche Weise auch immer das nötig ist." Sein Lächeln war aufrichtig, aber es konnte die Schwere in meinem Herzen nicht vertreiben.

Kurz darauf brachte man mich zurück in den Warteraum. Dort saß mein Vater zusammen mit Onkel Augustus und Kento. Als sie mich sahen, stand mein Vater sofort auf und kam auf mich zu. Ohne ein Wort zog er mich in eine enge Umarmung.

„Was machst du für Unsinn, mein Schatz?", fragte er leise, seine Stimme voller Sorge, während er mir einen Kuss auf das Haar gab. Sein vertrauter Duft und die Wärme seiner Umarmung ließen mich ein wenig von der Anspannung loslassen, die ich seit Stunden in mir trug.

„Es tut mir leid", flüsterte ich, obwohl ich nicht genau wusste, wofür ich mich entschuldigte – für den Kuss, für die Schlägerei, für alles.

„Shh, es ist in Ordnung", sagte er sanft und drückte mich fester an sich. „Es ist alles in Ordnung, Gracie."

Ich wusste, dass es das nicht wirklich war. Aber für den Moment, in seinen Armen, wollte ich einfach glauben, dass alles gut werden könnte.

Wir gingen gemeinsam zum Auto, Rae und Amalia mussten noch ihre Aussagen tätigen, als ein teurer, schwarzer Wagen vor dem Polizeirevier hielt. Ein Mann stieg aus – groß, mit perfekt sitzender Anzugjacke und zurückgegelten Haaren. Sein Gesicht war streng, seine Bewegungen präzise. Mein Vater blieb stehen und grüßte ihn höflich.

„Noahs Vater", sagte er leise zu mir, während er den Blick des Mannes erwiderte.

Der Mann nickte nur knapp und ließ seinen Blick kurz auf mir ruhen, bevor er sich abwandte und eilig ins Gebäude ging. Ich beobachtete ihn, spürte eine Mischung aus Respekt und Unbehagen in mir aufsteigen. Seid wann war er wieder auf der Insek? Hatte Noah jemals erwähnt, dass er vorbeikommen würde? Ich konnte mich nicht erinnern.


„Komm, wir gehen", sagte mein Vater und öffnete die Autotür für mich.


Die Fahrt nach Hause verlief in Schweigen. Die Straßen waren dunkel und menschenleer, der Lärm des Clubs und der Polizeiwache schien unendlich weit entfernt. Ich lehnte meinen Kopf gegen das Fenster und spürte, wie die Erschöpfung sich über mich legte. Der Schmerz in meinem Kopf pochte noch immer, aber es war, als würde mein Körper endlich nachgeben, sich der Müdigkeit hingeben.


Zuhause angekommen, führte mein Vater mich ins Haus. Tante Florence begrüßte uns, leise und besorgt. Sie sagten nichts, aber ihre Präsenz war tröstlich.

„Ich werde dir etwas zu trinken machen", sagte Tante Florence und verschwand in die Küche, während mein Vater mich ins Wohnzimmer brachte. Ich ließ mich auf die Couch sinken und schloss die Augen, spürte, wie sich die Welt um mich drehte.

„Gracie, möchtest du darüber reden?", fragte mein Vater schließlich, seine Stimme sanft, als er sich neben mich setzte. Ich öffnete die Augen und sah in sein Gesicht, das von Sorge und Erschöpfung gezeichnet war. 


„Es war einfach... alles zu viel", flüsterte ich. „Die Jungs... Noah... und dann die Polizei. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll."

Er legte seinen Arm um meine Schultern und zog mich zu sich. „Du musst das nicht alleine durchstehen, Gracie. Wir sind hier für dich. Wir werden das zusammen durchstehen."


Ich wollte ihm glauben, wollte mich in der Sicherheit seiner Worte verlieren. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass die Welt außerhalb dieser Mauern nicht so einfach war. Es gab Menschen wie die Jungs im Club, Menschen, die mich für das, was ich war, hassten. Und ich wusste nicht, ob ich stark genug war, diesen Hass immer wieder zu ertragen.

Abgesehen davon wusste ich bis dato nicht einmal, dass ich Gefühle für Frauen entwickeln konnte. Natürlich fand ich es immer seltsam, dass mich die Jungs nie wirklich interessiert hatten oder nie dieselben Reaktionen in mir ausgelöst hatten wie bei den anderen Mädchen. Aber ich habe es nie ernst genommen, habe es einfach weggeschoben, als wäre es nicht von Bedeutung. Stattdessen habe ich mich auf andere Dinge in meinem Leben fokussiert – Schule, Freunde, meine Familie. Dinge, die sicher und greifbar waren.

Doch nun, mit Noah, war alles anders. Sie war nicht nur eine Freundin, sie war der erste Mensch, bei dem ich mich wirklich lebendig gefühlt hatte. Bei dem mein Herz schneller schlug, meine Gedanken wirbelten, meine Welt sich plötzlich schärfer und intensiver anfühlte. Wie sollte ich mich jetzt damit auseinandersetzen, wenn beim ersten Mal, als ich solche Gefühle empfand, jemand dazwischen ging und uns bewusst Schmerz zufügte?

Dieser Schmerz war nicht nur körperlich – es war, als hätte man mein Innerstes zerbrochen, gerade als ich es wagte, es zu öffnen. Wie sollte ich jemals wieder den Mut aufbringen, meine Gefühle zu zeigen, wenn die Welt so schnell dabei war, sie zu zerstören?

Die Fragen schwirrten durch meinen Kopf, ließen mich nicht los, selbst als mein Vater mich beruhigend in den Arm nahm und mir versicherte, dass alles gut werden würde. Aber in meinem Herzen wusste ich, dass nichts mehr so sein würde wie vorher.

„Es wird besser werden", flüsterte er und küsste meine Stirn, als ob er meine Gedanken lesen könnte. „Wir werden einen Weg finden."


Tante Florence kam zurück und reichte mir eine Tasse heißen Tee. Ich nahm sie dankbar an, der warme Dampf stieg mir in die Nase und beruhigte meine Nerven ein wenig.


„Du solltest versuchen, ein bisschen zu schlafen", sagte sie sanft. „Es war ein langer Tag."Ich nickte und nahm einen Schluck von dem Tee. Die Wärme breitete sich in meinem Körper aus und ließ die Anspannung ein wenig nach. „Danke", flüsterte ich und versuchte, ein Lächeln zu zeigen, auch wenn es sich schwach anfühlte.


„Wir sind hier für dich, Gracie", sagte Tante Florence leise, die sich auf den Sessel gegenüber gesetzt hatte. „Du bist nicht allein."


Mit diesen Worten ging ich schließlich die Treppe hinauf in mein Zimmer, das plötzlich viel zu groß und viel zu leer wirkte. Ich zog mich mechanisch um, meine Gedanken kreisten um das, was passiert war, um Noah und ihre Wut, um die Worte des Polizisten und den flüchtigen Blick ihres Vaters.


Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich wirklich allein. Die Realität dessen, was heute passiert war, ließ mich nicht los. Es war mehr als nur ein Streit gewesen. Es war ein direkter Angriff auf das, was ich war, auf das, was Noah und ich fühlten.


Ich kroch unter die Decke, zog sie fest um mich und schloss die Augen, obwohl der Schlaf nicht kommen wollte. Mein Kopf schmerzte immer noch, und in meinem Herzen war eine Leere, die durch nichts gefüllt werden konnte. Die Erinnerung an Noahs verletztes Gesicht, die kalte Härte der Jungs und der hilflose Blick meines Vaters nagten an mir.


Das leise Ticken der Uhr in meinem Zimmer war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Und in dieser Stille wurde mir klar, dass dies nicht das Ende war. Es war nur der Anfang eines Weges, der schwierig und steinig sein würde. 
Mit diesem Gedanken und der Dunkelheit, die mich umgab, schlief ich schließlich ein, das Geräusch des leisen Regens, der gegen das Fenster prasselte, war das Letzte, was ich hörte.

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