Regen am Glas
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hörte ich das gleichmäßige Trommeln von Regentropfen auf dem Dach. Ein sanfter, beruhigender Klang, der die gesamte Insel in eine beruhigende Atmosphäre hüllte. Die schweren Vorhänge wehten leicht im Luftzug, den die offene Balkontür erzeugte, und ich konnte die Frische des Regens riechen, vermischt mit dem salzigen Duft des Meeres.
Tante Florence hatte, wie ich bemerkte, die Türen über Nacht offengelassen, nur den Fernseher ausgeschaltet und die Snacks weggeräumt. Das Wohnzimmer war still, bis auf das leise Schnarchen und das zufriedene Atmen meiner Freunde. Offensichtlich waren alle nach mir eingeschlafen, und niemand hatte sich darum gekümmert, uns vom Boden aufzuheben. Es war ein fast zu perfekter Abschluss des gestrigen Tages.
Ich fühlte ein leichtes Gewicht auf meinem Rücken, als ich meine Augen öffnete und versuchte, meine Umgebung zu erfassen. Es dauerte nur einen Moment, bis ich erkannte, dass ich auf Noahs Bauch geschlafen hatte. Sie wiederum hatte ihren Kopf auf den Schoß von Amalia gelegt, die wiederum an Rae angelehnt war. Ein chaotisches, aber irgendwie herzliches Durcheinander.
Behutsam schlich ich mich aus der Gruppe heraus, um die anderen nicht zu wecken. Außer einem leisen Murmeln und vereinzelten Seufzern rührte sich niemand. Die Ruhe in der alten Villa war beinahe greifbar, und als ich mich in die Küche begab, fand ich Tante Florence bereits am Herd, vertieft in ihre morgendliche Routine.
„Guten Morgen, Gracie," sagte sie mit einem warmen Lächeln, als sie mich bemerkte. Sie stellte ein Glas frisch gepressten Orangensaft vor mir ab, und ich nahm es dankbar entgegen. Mein Hals war trocken, die Nacht hatte ihren Tribut gefordert. Der Saft war kühl und erfrischend, der perfekte Start in den Tag.
„Hast du gut geschlafen?", fragte sie, während sie ein Ei gegen den Rand der Schüssel schlug und es in die heiße Pfanne gleiten ließ. Ein zischendes Geräusch erfüllte den Raum, und der Duft von bruzzelndem Ei füllte die Luft.
Ich nickte und reichte ihr das leere Glas zurück, das sie sofort wieder auffüllte. Es war typisch für sie, ihre Gäste bis ins kleinste Detail zu umsorgen, eine Eigenschaft, die sie wohl von ihrer früheren Ausbildung zur Köchin behalten hatte. Sie war nie wirklich in den Beruf eingestiegen, weil sie schwanger mit Rae geworden war, doch in dieser Küche konnte sie sich voll entfalten.
„Ihr habt gestern so friedlich ausgesehen, dass wir euch nicht wecken wollten," erklärte sie und lächelte dabei leicht verschmitzt. Es war ein liebevoller Ausdruck, der zu ihrem Wesen passte.
Ich nahm eine Weintraube aus einer Schale auf dem Tisch und biss hinein. Die Frucht explodierte förmlich in meinem Mund und erfüllte ihn mit süßer, saftiger Frische. Die Weintrauben aus Tante Florences Garten waren ohne Zweifel die besten, die ich je gegessen hatte, und das sage ich ohne Übertreibung.
„Es war kein Problem, auf dem Boden zu schlafen. Ich glaube, wir waren alle so müde, dass es uns nichts ausgemacht hat," erwiderte ich und ließ meinen Blick über den hell erleuchteten Raum schweifen.
Tante Florence war in der Zwischenzeit damit beschäftigt, das Ei in der Pfanne zu wenden, und fügte noch zwei weitere hinzu. „Hat sich das gestern mit Rae einigermaßen geklärt?", fragte sie schließlich, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken.
Ich wusste, dass diese Frage irgendwann kommen würde. Meine Tante war einfach zu neugierig, und ich war mir sicher, dass sie die gestrige Aktion als eine wohlüberlegte, wenn auch offensichtliche Strategie erkannte.
„Es geht," antwortete ich zögerlich. „Er hat sich entschuldigt und alles, aber so einfach ist das nicht."
Ein leises, verständnisvolles Geräusch kam von ihr, und sie warf mir einen flüchtigen Blick zu, während sie die Pfanne schwenkte. „Das war klar. Was er getan hat, war wirklich gemein. Um ehrlich zu sein, habe ich mich ein wenig dafür geschämt... schließlich ist er mein Sohn." Ihr Blick wurde kurz weich, als sie mir ein entschuldigendes Lächeln schenkte.
Diese Worte trafen mich tief. Zu wissen, dass sie sich verantwortlich fühlte, obwohl sie nichts dafür konnte, machte mir das Herz schwer. Ich war sicher, dass sie mittlerweile mehr über die Umstände wusste, die zu all dem geführt hatten. Tante Florence war eben neugierig und klug, Eigenschaften, die ihr niemand absprechen konnte.
Mit einem plötzlichen Impuls legte ich meine Arme um ihre Schultern und stützte meinen Kopf auf ihren. Sie war mittlerweile kleiner als ich, und der Gedanke brachte mich unwillkürlich zum Lächeln.
„Du weißt, dass ich dich lieb habe, oder?" Ich neckte sie sanft, indem ich ihr in die Wange pikste.
Sie lachte spöttisch, doch in ihren Augen lag Zuneigung. „Und du weißt, dass ich dich gleich umbringe, wenn du mich weiterhin daran erinnerst, wie groß du geworden bist." Ihre Worte sollten eine Warnung sein, aber der neckende Ton war unverkennbar.
Lachend drückte ich ihr einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich von ihr löste. „Ich gehe mal die anderen wecken," sagte ich, während ich mich aus der Küche zurückzog.
Selbst als ich den Flur entlangging, konnte ich Tante Florences humorvolles Schimpfen über meine Größe noch hören. Es brachte ein warmes Gefühl in meine Brust, ein Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit, das ich in diesen letzten Tagen auf der Insel besonders schätzte.
---
Die nächsten Tage vergingen im Rhythmus des Regens, der unaufhörlich auf die Insel niederging. Es war typisch für diese Jahreszeit, und wie jedes Jahr diente das Wetter als unmissverständlicher Hinweis darauf, dass meine Zeit hier bald zu Ende gehen würde. In weniger als einer Woche würde ich wieder im Flieger sitzen, zurück nach Hause. Doch wie jedes Jahr versuchte ich, diesen Gedanken zu verdrängen, als wäre er nicht real.
Wir verbrachten die meiste Zeit drinnen, entweder im gemütlichen Wohnzimmer von Tante Florence oder bei Noahs Familie, die immer noch ihren Pool im Keller hatte. Beim ersten Besuch war es ein wenig merkwürdig gewesen, aber mit der Zeit gewöhnten wir uns daran. Noahs Mutter und ihr neuer Ehemann, Kento, ließen uns weitgehend in Ruhe, brachten uns jedoch hin und wieder Essen und Trinken.
Noahs Mutter war immer noch so schön wie früher, doch ihre schlanke Gestalt und die blasse Haut verrieten, dass sie eine schwere Zeit durchgemacht hatte. Sie verbrachte viel Zeit mit Malen, eine Empfehlung ihres Therapeuten, wie Noah uns einmal erzählte. Es schien eine Art Flucht für sie zu sein, eine Möglichkeit, sich in neuen Ideen zu verlieren und etwas von ihrem Schmerz zu verarbeiten.
Kento unterstützte sie dabei nach Kräften. Es war fast schmerzhaft, die Hingabe zu beobachten, mit der er seine Frau verehrte. Seine Augen leuchteten jedes Mal, wenn er sie ansah, und es war offensichtlich, dass er alles tun würde, um sie glücklich zu machen. Es war nicht schwer zu verstehen, warum: Wenn Noahs Mutter lächelte, war es, als würde die Sonne erneut aufgehen, ein Anblick, der selbst den trübsten Tag erhellen konnte.
Einmal hatten wir bei ihnen im großen Esszimmer zu Abend gegessen. Kento hatte lustige Geschichten erzählt, während wir Essen vom Asiaten genossen. Seine tiefe Stimme war beruhigend, ein angenehmer Kontrast zu dem Regen, der stetig gegen die großen Fenster tropfte. Er hielt die ganze Zeit die Hand seiner Frau oder legte seinen Arm um ihre Schultern, als würde er sie nie wieder loslassen wollen.
Diese Momente bei Noah zu Hause hatten etwas Tröstliches, aber auch etwas Tragisches. Es war schwer, die unsichtbare Wunde zu ignorieren, die durch das Fehlen einer stabilen Familie entstanden war. Und die Möglichkeit, dass Noah irgendwann nach Kanada gehen müsste, um dort zu leben, schien wie ein dunkler Schatten über allem zu hängen. Der Gedanke, dass ihre Mutter erneut zusammenbrechen könnte, wenn sie auch noch Noah verlieren würde, ließ mir keine Ruhe.
Nach fünf Tagen unaufhörlichen Regens klärte sich der Himmel endlich, aber die Zeit auf der Insel schmolz dahin. Ich hatte nur noch drei Tage, bevor ich zurückkehren musste, und der Gedanke daran erfüllte mich mit einer seltsamen Mischung aus Wehmut und Erleichterung. Die Dinge hatten sich beruhigt, ja, aber die Wunden waren noch frisch, und die Unsicherheit lag wie eine dünne Schicht Eis über den neu gefundenen Frieden.
In den letzten Tagen hatte ich bemerkt, dass Noah zunehmend die Nähe zu mir suchte. Es war subtil, fast unmerklich, doch ihre Berührungen wurden häufiger. Während der Regentage hatte sie oft meine Hand genommen oder mir geistesabwesend über den Oberschenkel gestrichen.
Diese Gesten schienen ihr nicht einmal bewusst zu sein, doch sie wirkten auf mich wie eine stumme Botschaft. Trotz der Verwirrung und Unsicherheiten, die uns umgaben, schien Noah eine Verbindung zu mir suchen zu wollen, die über die bloße Freundschaft hinausging. Dies hatte auch Amalia bemerkt, und sie sprach mich eines Tages darauf an, als wir von Tante Florence zum kleinen Kiosk geschickt worden waren, um Butter und Mehl zu besorgen.
„Gracie, bilde ich mir das nur ein, oder habt ihr euch in letzter Zeit ziemlich oft berührt?", fragte Amalia, während sie in der Einkaufstüte nach etwas suchte. Der Himmel war mittlerweile klar, und die Sonne strahlte in den Kiosk, wo wir uns inmitten der bunten Verpackungen und Regale befanden.
Ich nahm einen Lollipop aus der Tüte, dankte ihr und öffnete ihn. Der süße Kirschgeschmack war eine willkommene Abwechslung, doch die Frage, die Amalia mir stellte, ließ mich stocken.
„Ich bin mir nicht sicher", antwortete ich schließlich, während ich den Lolli betrachtete. Die Süße des Lutschers kontrastierte mit der Bitterkeit meiner Gedanken.
Amalia zog eine Augenbraue hoch und beobachtete mich mit einem durchdringenden Blick. „Glaubst du wirklich, ich sei blind? Mein Bruder war die letzten Wochen total beleidigt, Noah war schlecht auf ihn zu sprechen, und du hast sie angeschaut, als wäre sie eine Heilige. Es läuft doch etwas zwischen euch, oder?", sagte sie und hielt den Lolli wie ein Teleskop in meine Richtung.
Das Gespräch machte mich verlegen, und ich spürte, wie sich meine Gesichtskonturen erhellten. „Nun, ich mag sie schon, aber was genau das ist, weiß ich nicht", brachte ich schließlich hervor. Es war das erste Mal, dass ich diese Gedanken laut aussprach, und sie ließen mich nervös werden. Amalias reaktionäre Quietschgeräusche und ihre Begeisterung über das, was sie als „süß" bezeichnete, verstärkten nur meine Unsicherheit.
„Wusste ich es doch! Das ist so niedlich", sagte Amalia und zog mich in eine Umarmung. Ihre spontane Zuneigung überraschte mich, und ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. „Weißt du, das ist nicht einfach nur süß. Es ist real. Noah scheint dich wirklich zu mögen. Die Art, wie sie dich anschaut, wie sie dich berührt - das ist mehr als nur freundschaftlich."
„Aber was, wenn ich mich irre?", fragte ich unsicher. „Was, wenn das alles nur eine Phase ist oder sie sich später anders entscheidet?"
„Du machst dir zu viele Gedanken", entgegnete Amalia sanft. „Du musst dir klar werden, was du fühlst und was du willst. Noah scheint genauso verwirrt zu sein wie du, aber sie versucht, ihre Gefühle auszudrücken. Ihr habt eine besondere Verbindung, und das sollte man nicht einfach ignorieren."
„Das klingt alles so einfach, wenn man es von außen betrachtet", erwiderte ich. „Aber in meinem Kopf ist es ein einziges Durcheinander."
Amalia biss in ihren Lollipop und sah mich mit einem verständnisvollen Lächeln an. „Das ist es oft. Das Leben ist selten einfach, vor allem in Sachen Herzangelegenheiten. Aber du musst den Mut finden, deinen Gefühlen nachzugehen und herauszufinden, was du wirklich willst."
Das Gespräch machte mich nachdenklich. Amalias Worte hallten in mir nach, während wir den Kiosk verließen und den Weg zurück zu Tante Florence' Haus antraten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top