Ohrfeigen

Als wir schließlich in die Lage kamen, loszulaufen, hatte Noah ihren gesamten Wortschatz von Frustration herausgeschrien und Rae mehrmals verflucht.

In einer anderen Situation hätte ich die Szene vielleicht amüsant gefunden, doch unter den gegebenen Umständen blieb mir nichts anderes übrig, als ihr schweigend zuzusehen. Die Realität unserer Lage hatte mich noch nicht ganz erreicht – es fühlte sich an wie eine Szene aus einem Film.

Noah schätzte, dass wir mindestens eine Stunde brauchen würden, wenn wir uns beeilten. Wahrscheinlich würde es länger dauern, wenn wir es langsam angehen ließen, und kürzer, wenn wir Glück hätten und ein Auto vorbeikäme. Doch nach diesem Tag schien uns das eher unwahrscheinlich, also machten wir uns mit schnellen Schritten auf den Weg.

Zunächst war mir die Stille zwischen uns recht angenehm, doch mit der Zeit wurde sie immer unangenehmer. Es wurde zunehmend dunkler, und Noah lief immer schneller. Ich konnte nicht Schritt halten und hatte mehrmals das Gefühl, zurückgelassen zu werden. Trotz meiner Bitten, langsamer zu gehen, hielt sie an ihrem Tempo fest. Nach einer halben Stunde konnte ich es nicht mehr ertragen.

Trotzig blieb ich stehen und verschränkte meine Arme. Noah bemerkte es erst ein paar Meter weiter, als meine Klagen aufgehört hatten. Sie drehte sich um und sah mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Ungeduld an. Ihr Gesicht war nur schwach im Licht der untergehenden Sonne zu erkennen.

„Gracie, was machst du?“, fragte sie, ihre Stimme drückte Besorgnis und Ungeduld aus.

„Ich komme einfach nicht mit“, antwortete ich, die Frustration in meiner Stimme nicht verbergend. „Du läufst viel zu schnell. Wenn wir das nicht ändern, werden wir bald noch weiter von der Stadt entfernt sein.“

Noah seufzte tief und schien den Ernst der Lage zu erkennen. „Okay, ich werde langsamer machen“, sagte sie schließlich. „Aber nur, wenn du ein bisschen zügiger mitkommst.“

Ich nickte erleichtert und lief wieder neben ihr her, als sie ihr Tempo etwas drosselte. Wir bewegten uns nun in einem gleichmäßigen Rhythmus, auch wenn das stetig zunehmende Dunkelheit die Umgebung unheimlich machte.

Als die Sonne vollständig untergegangen war und nur noch die letzten verblassenden Strahlen den Himmel erleuchteten, versuchten wir, mit den Handys Licht zu machen, nachdem alle Versuche, Empfang zu bekommen, gescheitert waren.

Wir waren nun schon über eine Stunde unterwegs, ohne ein Zeichen von Zivilisation oder Menschenseelen zu entdecken. Ich liebte diese Insel normalerweise, aber jetzt verfluchte ich sie aus tiefstem Herzen, besonders da unser Ziel anscheinend am abgelegensten Punkt lag.

Als schließlich das Licht meines Handys ausging und wir in völlige Dunkelheit getaucht wurden, wurde ich panisch. Der Akku war leer, und mein Handy, ein Relikt aus der Vergangenheit, bot keinerlei nützliche Funktionen wie eine Taschenlampe.

Wir standen im Dunkeln da, und Noah versuchte verzweifelt, das Handy wieder zum Laufen zu bringen, doch es blieb tot.

Gerade als ich vorschlagen wollte, in der Dunkelheit weiterzugehen, hörte ich plötzlich ein Schluchzen. Überrascht drehte ich mich zu Noah. Ihr Kopf hing herab, ihre lockeren Strähnen verdeckten ihr Gesicht. Doch die zitternden Schultern und die leisen Geräusche zeugten eindeutig von ihren Tränen.

Noah weinte.

Ratlos sah ich sie an. Es fühlte sich unangemessen an, sie jetzt zu trösten, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Versuch, sie zu beruhigen, erwies sich als schwierig.

„Noah, was ist los? Warum weinst du?“, fragte ich vorsichtig.

Sanft strich ich über ihren Rücken, doch mein Versuch schien nur dazu zu führen, dass sie noch mehr weinte. In meiner Verwirrung zog ich sie reflexartig in eine Umarmung. Ihre Tränen weckten einen tiefen Beschützerinstinkt in mir, den ich vorher nicht gekannt hatte. Es tat weh, sie so zu sehen.

„Pschh...“, flüsterte ich, während ich sie sanft wiegte.

Mein Oberteil wurde langsam nass von ihren Tränen, und ihre Fingernägel hinterließen schmerzhafte Abdrücke auf meiner Haut, aber das spielte keine Rolle. Ich wollte sie nur halten und sie vor allem Bösen beschützen, obwohl ich selbst furchtbare Angst hatte.

„Es ist so unfair“, schluchzte sie schließlich.

Diese Worte schnitt mir ins Herz. Ja, es war wirklich unfair, was ihr widerfuhr.

„Was ist denn unfair?“ fragte ich leise, während ich sie immer noch in den Armen hielt.

„Das alles“, sagte sie, und die Tränen kamen wieder. Es wurde klar, dass es nicht nur um die aktuelle Situation oder Rae ging. Vielmehr schien es, als ob all die aufgestauten Emotionen jetzt mit aller Kraft herausbrachen. Das Handy war vermutlich nur der letzte Tropfen.

„Meine Mutter ist eine lebende Leiche, und wir können nur zusehen, wie sie sich immer weiter verschlechtert. Rae ist ein Idiot, der denkt, er könnte jemandem gehören. Und ich fühle mich einfach nur schrecklich, ohne genau zu wissen, warum!“

Meine Umarmung wurde fester, und wir fanden uns auf dem Boden wieder. Wie wir dorthin gekommen waren, wusste ich nicht, aber wir saßen nun in der warmen Erde, die noch vom Tag gespeichert war.

Immer wieder strich ich über ihren Rücken und flüsterte beruhigende Worte. Das tat meine Mutter immer, wenn ich traurig war – nach dem Tod meines Großvaters und dem Streit mit Phillip. Es half, den Schmerz etwas besser ertragen zu können.

„Es ist in Ordnung, sich manchmal schrecklich zu fühlen. Niemand kann von dir verlangen, immer glücklich zu sein. Das wäre ungesund. Es ist in Ordnung, Noah“, flüsterte ich ihr sanft ins Ohr.

Sie nickte nur.

Wir blieben still sitzen und hielten uns fest. Der Gedanke an nach Hause war vorübergehend vergessen. Der Moment zählte, jeder auf seine Weise.

Nach einer Weile löste sich Noah von mir. Verheult wischte sie sich das Gesicht mit ihrem Oberteil ab. Ihre Augen waren rot, und ihre Nase war geschwollen.

Ich beobachtete sie einfach. Was hätte ich auch sagen sollen?

„Mein Vater hat mich angerufen“, sagte sie schließlich.

Verwirrt zog ich meine Augenbrauen zusammen. Was hatte ihr Vater mit unserer Situation zu tun?

„Wieso?“, fragte ich.

Noah lachte kurz auf und zuckte mit den Schultern. Ihr Blick war noch immer auf die Straße gerichtet.

„Er hat erfahren, wie es meiner Mutter geht. Er ist darüber nicht erfreut und glaubt, dass Kento nicht in der Lage ist, sich um mich zu kümmern. Er will mich nach Kanada holen, nachdem er mich bis September in Ruhe gelassen hat.“

„Aber dein Vater wohnt doch gar nicht mehr auf der Insel“, sagte ich leicht aufmunternd.

Noah schüttelte den Kopf, und einige Strähnen lösten sich aus ihrem Zopf. „Er lebt seit Jahren nicht mehr hier. Vor einigen Jahren hat er neu geheiratet und ist zu seiner Frau nach Kanada gezogen. Dort arbeitet er nun. Er möchte, dass ich zu ihm nach Kanada komme, um dort zu studieren.“

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Noah würde möglicherweise nächstes Jahr nicht mehr hier sein. Die Vorstellung, sie könnte für immer weggehen, ließ mir das Herz schwer werden. Mein Hals wurde trocken, und ich fühlte den Drang zu weinen.

„Hast du deswegen geweint?“, fragte ich leise.

„Ja, das ist ein Teil davon. Aber es ist nicht nur das. Es war einfach zu viel auf einmal.“ Noah lächelte schief, doch ihre Augen blieben ernst.

Es wurde mir klar, wie viele Lasten sie bereits alleine getragen hatte. Wie oft musste sie solche Zusammenbrüche schon alleine bewältigen?

„Geht es dir wenigstens etwas besser?“ Die Frage kam mir spontan über die Lippen.

Zu meiner Überraschung nickte Noah. „Ja, es geht mir schon viel besser. Schließlich bist du hier bei mir, und ich bin nicht ganz alleine. Danke.“

Ihr Dank ließ ein Gefühl der Freude in mir aufsteigen. Es war, als ob ihr Schmerz auch ein Stück von meinem eigenen abgenommen hätte.

„Na los! Genug geweint! Wir müssen weiter“, sagte Noah entschlossen und stand auf. Sie hielt weiterhin meine Hand, und ich ließ sie nicht los.

Also zog sie mich auf die Beine. Ich klopfte den Dreck von meiner Kleidung und wollte schon mit ihr loslaufen, als plötzlich zwei runde Lichter in der Ferne auftauchten. Sprachlos beobachteten wir, wie sie sich näherten, bis der Motor deutlich zu hören war. Wir fingen an, zu rufen und zu winken. Der Wagen hielt neben uns an, und mein Vater stieg aus, besorgt uns anblickend.

„Da seid ihr also! Wir haben euch überall gesucht!“, rief er, sein Gesicht von Sorge geprägt.

Er umarmte mich fest, und ich spürte, wie er mir liebevoll über das Haar strich.
Natürlich, hier ist der Abschluss des Kapitels:

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Er umarmte mich fest, und ich spürte, wie er mir liebevoll über das Haar strich. Erleichtert schmiegte ich mich an ihn.

Noah stand währenddessen neben uns, und zu meiner Überraschung nahm mein Vater auch sie in den Arm. „Es tut mir leid, dass ihr so lange warten musstet“, sagte er und klopfte ihr sanft auf den Rücken.

„Boy sucht die andere Straße ab“, erklärte er weiter, als er uns ins Auto half. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Erst als Rae uns endlich erzählt hat, was los war, haben wir uns auf den Weg gemacht. Es war schon ziemlich dunkel, als wir uns auf die Suche gemacht haben.“

Als wir in den Wagen stiegen, fuhren wir in Richtung des Hauses meiner Tante. Während der Fahrt erzählten Noah und ich aufgeregt, was passiert war und wie wir uns verirrt hatten. Mein Vater hörte aufmerksam zu, schüttelte gelegentlich den Kopf und schaute uns durch den Rückspiegel an. In der Dunkelheit konnte ich nur ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen erkennen, aber es war ein beruhigendes Zeichen.

Der Wagen rollte langsam über die unebene Einfahrt des Hauses meiner Tante Florence. Die warme, orangefarbenen Lichter erhellten die Umgebung und warfen lange Schatten auf den Boden. Als wir schließlich hielten, öffnete mein Vater die Tür und half uns aus dem Auto. Das schwere Gefühl der Erleichterung, das mich durchströmte, war fast körperlich spürbar.

Tante Florence und Amalia standen bereits auf der Veranda, ihre Gesichter erleuchtet von einer Mischung aus Erleichterung und Besorgnis. Tante Florence, die normalerweise immer so gelassen wirkte, war heute von einer aufrichtigen Sorge gezeichnet. Sie stürzte auf uns zu, ihre Arme weit ausgebreitet.

„Wo wart ihr nur so lange?“, rief sie, als sie mich fest in ihre Arme schloss. „Wir haben uns so große Sorgen gemacht!“

Amalia, die neben ihr stand, hatte Tränen in den Augen, als sie uns ansah. „Wir haben uns wirklich große Sorgen gemacht“, sagte sie und zog Noah ebenfalls in eine Umarmung. „Rae hat uns allen ganz schön Angst gemacht.“

Noah war immer noch sichtlich erschöpft und verunsichert, doch sie versuchte, ein kleines Lächeln zu zeigen. Die Umarmungen von Tante Florence und Amalia gaben ihr offenbar etwas Trost. „Es tut mir leid“, murmelte sie. „Es war einfach alles ein bisschen viel.“

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Tante Florence, als sie sich von mir löste und Noah eine sanfte Hand auf die Schulter legte. „Ihr seid schließlich sicher zurück.“

„Rae ist wirklich aufgebracht“, erzählte sie, während wir uns von der Veranda in den Flur begaben. „Er hat eine Ohrfeige von Amalia bekommen, und Boy ist richtig wütend auf ihn. Er hat Rae verboten, das Auto weiter zu benutzen und den Hof zu verlassen.“

Tante Florence seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, Rae hat daraus gelernt“, sagte sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Besorgnis. „Ich werde mit ihm sprechen müssen.“

Im Flur war es warm und gemütlich, und der Duft von frisch gebackenem Brot und Kräutern lag in der Luft. Der Stress des Tages schien ein wenig zu verblassen, als wir uns in das vertraute, behagliche Zuhause zurückzogen.

„Kommt erstmal rein“, sagte Tante Florence.

Sie führte uns in das Wohnzimmer, wo das Kaminfeuer noch leicht knisterte und den Raum in ein sanftes Licht tauchte. „Setzt euch. Ich werde euch etwas zu essen vorbereiten. Ihr müsst sicher hungrig sein.“

Während Tante Florence in die Küche ging, setzten Noah und ich uns auf das Sofa, das bereits mit warmen Decken und Kissen ausgestattet war. Amalia setzte sich neben uns und nahm meine Hand.

„Wie geht es dir?“ fragte sie leise, als sie Noah ansah. Noah nickte, die Erschöpfung und Erleichterung in ihren Augen deutlich sichtbar. „Es wird schon“, sagte sie schwach, „danke, dass du bei mir warst.“

„Wir sind jetzt hier“, antwortete ich und drückte ihre Hand. „Das ist alles, was zählt.“

Tante Florence kam zurück mit zwei Schüsseln heißem Eintopf und warmem Brot. Wir aßen schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Die Erlebnisse des Tages hatten ihre Spuren hinterlassen, aber die Wärme des Hauses und die liebevolle Fürsorge von Tante Florence und Amalia halfen uns, ein Stück weit wieder zur Ruhe zu kommen.

Als wir schließlich fertig waren, machten wir uns auf den Weg nach oben in unsere Zimmer. Die Müdigkeit überwältigte uns, und der Wunsch nach Schlaf wurde immer stärker. Noah und ich tauschten noch einige beruhigende Worte aus, bevor wir uns unter die Decken kuschelten.

„Danke, dass du mich durch diesen Tag begleitet hast“, sagte Noah, als wir uns in die Kissen senkten. „Es hat mir wirklich geholfen.“

„Wir stehen das zusammen durch“, antwortete ich und nahm ihre Hand. „Wir werden uns gegenseitig unterstützen, egal was kommt.“

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