Mondflüstern

Den Rest des Tages verbrachte ich in meinem Bett, abgeschottet von der Welt, in einer Blase aus Unsicherheit und Grübeleien. Irgendwann, überwältigt von meiner eigenen Erschöpfung, glitt ich in einen unruhigen Schlaf.

Mein Dad hatte mich beim Abendessen wohl entschuldigt und dafür gesorgt, dass die anderen mich in Ruhe ließen. Seine Fürsorglichkeit war stets eine beruhigende Konstante in meinem Leben. Er wusste immer, wann er mir Raum geben musste, ohne dass ich es ihm ausdrücklich sagen musste. Obwohl ich ihm nicht direkt erklärt hatte, was mit mir los war, spürte er, dass ich Zeit brauchte, um meine Gedanken zu ordnen. Meine Eltern waren fest davon überzeugt, mich niemals zu drängen, sondern mir die Zeit und den Raum zu geben, die ich brauchte, um selbst mit meinen Problemen klarzukommen. Das Wissen, dass sie immer für mich da waren, half mir enorm.

Es war bereits dunkel draußen, als ich aufwachte und merkte, dass ich nicht wieder einschlafen konnte. Die Dunkelheit in meinem Zimmer war tief und allumfassend, nur gelegentlich durch das schwache Licht des Mondes unterbrochen, das durch die Vorhänge drang. Plötzlich hörte ich, wie jemand leise die Tür öffnete und ins Zimmer trat. Da ich zur Wand lag, konnte ich nicht sehen, wer es war, doch die sanften, fast lautlosen Schritte verrieten mir, dass es jemand Weibliches war – die Männer in unserem Haus hatten einen schwereren Gang.

Ich hörte das leise Rascheln von Kleidung, das mir sofort verriet, wer es war. Noah. Ihr Duft, eine Mischung aus Meer und einem Hauch von Zitrus, legte sich über mich wie eine Decke, und mein Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen. Sie setzte sich auf die Bettkante, und die Matratze senkte sich leicht unter ihrem Gewicht. Ihre Körperwärme drang zu mir herüber, und ich versuchte krampfhaft, ruhig zu atmen, um den Anschein zu erwecken, dass ich schlief. Doch meine Gedanken rasten, ausgelöst durch das unerwartete Eindringen ihrer Nähe.

In diesem Moment verfluchte ich Rae und seine Andeutung am Strand. Warum hatte er das tun müssen? Jetzt war ich gefangen in einem Strudel aus Unsicherheit und aufkeimenden Gefühlen, die ich nicht verstand.

Noahs Haar kitzelte meinen Nacken, wo mein Zopf die Haut ungeschützt ließ. Ungewollt zuckte ich zusammen, und natürlich entging ihr das nicht.

„Also lebst du doch noch,“ kam es leise und amüsiert von ihr. Ihre Stimme, so vertraut und doch in diesem Moment so beunruhigend, brachte mich dazu, die Augen zu öffnen und mich ihr zuzuwenden. Sie hatte die Initiative ergriffen, indem sie mich sanft zu sich drehte, sodass ich ihr direkt in die Augen sehen musste.

Unsere Gesichter waren keine fünf Zentimeter voneinander entfernt, und unsere Nasen berührten sich fast. Ihr Atem strich warm über mein Gesicht und verursachte ein seltsames Kribbeln in mir. Es war eine vertraute Nähe, die jetzt, in diesem Moment, eine völlig neue Bedeutung bekam. Ich hoffte verzweifelt, dass sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie rot mein Gesicht geworden war.

„Was ist am Strand passiert, Gracie?“ fragte sie leise und begann, mit einem Finger sanft Kreise auf meinem Oberarm zu zeichnen. Diese kleine Bewegung, die sie so oft nebenbei machte, beruhigte mich normalerweise. Doch jetzt jagte sie mir Schauer über den Rücken, eine seltsame Mischung aus Unruhe und einem Gefühl, das ich nicht recht einordnen konnte.

Warum hatte ich nie zuvor so auf ihre Berührungen reagiert? Es war, als ob in mir etwas aufgebrochen war, etwas, das ich lange unter Verschluss gehalten hatte.

Weil du den Gedanken, dass du sie mögen könntest, immer tief in die Ecke deines Bewusstseins gedrängt hattest, du Dummkopf.

„Gracie, nicht nachdenken, sprechen,“ neckte sie mich, ihre Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. Ihr spielerisches Lächeln verstärkte das Kribbeln in meinem Bauch nur noch. Ich wollte mich dem entziehen, aber gleichzeitig war ich fasziniert von dem neuen, unerwarteten Gefühl, das ihre Nähe in mir auslöste.

Für einen Moment überlegte ich, zu lügen. Einfach zu behaupten, ich sei krank gewesen oder nur müde. Doch das wäre zu einfach gewesen, und ich wusste, dass einfache Lösungen selten die richtigen waren. Also holte ich tief Luft und entschied mich für die Wahrheit, auch wenn sie mich verletzlich machte.

„Kennst du das Gefühl, wenn du eine Erkenntnis hast, die dich als Person völlig verändert? Und das innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde? Du kannst nichts dagegen tun, weil du es insgeheim immer gewusst hast. Es war schon immer ein Teil von dir, den du einfach verdrängt hast. Und dann, wenn du es endlich realisierst, bricht alles irgendwie zusammen, weil das, was du für wahr gehalten hast, nicht echt war, und die eigentliche Wahrheit plötzlich durchbrechen möchte. Kennst du das?“ Meine letzte Frage war fast ein Flehen, als würde ich sie verzweifelt darum bitten, dass sie genau dasselbe erlebt hatte.

Ich fühlte mich erbärmlich und unlogisch, doch ich konnte nicht anders. Es war, als ob all die Jahre der Verdrängung in diesem einen Moment zu Staub zerfielen.

Noah sah mir in die Augen. In der Dunkelheit der Nacht schienen ihre Pupillen fast unsichtbar, als wäre sie ein Rätsel, das ich niemals ganz lösen könnte.

„Ja, ich kenne das,“ flüsterte sie schließlich, während sie mir ein schiefes Lächeln schenkte. „Als meine Mum ihren Zusammenbruch hatte, ging es mir genauso. Sie war immer diese starke Frau für mich, und darauf hatte ich gebaut. Doch plötzlich war ich allein und musste lernen, wie ich ohne sie zurechtkomme. Meine Mum musste sich selbst wieder aufbauen, und ich musste das auch akzeptieren. Obwohl ich es immer gewusst hatte, musste ich es realisieren.“

Ihre Worte waren ehrlich, und ihre Finger strichen weiter sanft über meinen Arm, bis sie schließlich meine Hand fanden und sich mit meinen Fingern verflochten. Mein Herz raste, und ich kämpfte verzweifelt dagegen an, ihm zu sagen, dass das nichts zu bedeuten hatte. Zumindest nicht für Noah. Aber was, wenn sie mehr bedeuteten? Was, wenn all diese Gefühle, die jetzt an die Oberfläche drängten, tatsächlich echt waren?

„Ich verstehe dich,“ sagte sie schließlich und drückte meine Hand. Das Kribbeln in meinem Bauch verwandelte sich in ein tosendes Wirbeln von Schmetterlingen, das meine realistischen Gedanken jedoch sofort zu ersticken versuchten.

„Danke,“ flüsterte ich schließlich, obwohl in mir alles schrie, dass sie nicht verstand, was mich wirklich in diese Lage gebracht hatte. Tief in mir wünschte ich mir, mich an sie zu schmiegen und ihrem Herzschlag zu lauschen, bis ich einschlief. Doch das klang so dumm, so naiv.

Wie konnte ich solche Gefühle für sie haben, wo wir uns doch erst vor zwei Wochen nach all den Jahren wieder gesehen hatten?

Das leise Schnarchen neben mir riss mich aus meinen Gedanken. Noah hatte ihre Augen geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, und leise kam ein Schnarchen aus ihnen heraus. Unsere Hände waren immer noch ineinander verflochten.

Mit einem anschwellenden Herzen beobachtete ich sie beim Schlafen und fand es bewundernswert, wie schnell sie eingeschlafen war. Gott, sie war so schön. Ihr Anblick füllte mein Herz mit einer Wärme, die sowohl beruhigend als auch beängstigend war. Denn was bedeutete das für mich, für uns?

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