Kirschen im Sand

Rae sprach mich am Strand an.

Die Sonne hing schon tief am Himmel, färbte den Strand in ein goldenes Licht, und das Meer glitzerte, als ob es mit Diamanten übersät wäre. Amalia und Noah waren gerade im Wasser, ihre fröhlichen Schreie und das Platschen des Wassers erfüllten die Luft. Sie jagten einander, tauchten unter, spritzten sich mit den Wellen, und ihr Lachen hallte bis zu uns herüber. Es war einer dieser perfekten Sommertage, an denen alles leicht und unbeschwert schien.

Rae kam auf mich zu, seine Schritte im Sand kaum hörbar. Ich saß gerade auf meinem Handtuch, die Beine ausgestreckt, und beobachtete die beiden im Wasser. „Lust auf ein Eis?“ fragte er, während er sich zu mir hinunterbeugte und eine Hand ausstreckte, um mir hochzuhelfen. Seine Stimme klang tief und ruhig, aber da war etwas in seinem Ton, das meine Aufmerksamkeit fesselte.

„Klar,“ antwortete ich sofort, froh über die Gelegenheit, mit ihm ein paar Minuten allein zu verbringen. Rae war in letzter Zeit so anders geworden – ruhiger, nachdenklicher. Er war gewachsen, und seine Schultern waren breiter geworden. Sein ganzer Körper hatte sich verändert, als wäre er über Nacht aus dem Jungen, den ich kannte, in jemanden verwandelt worden, den ich noch entdecken musste. Vermutlich hatte Onkel Augustus angefangen, mit ihm zu trainieren. Er war immer so ehrgeizig gewesen, was Raes Zukunft betraf.

Ich rief Amalia und Noah zu, dass wir kurz zum Kiosk gehen würden. Noah drehte sich um, winkte mir zu, dann lachte sie wieder auf, als Amalia sie von hinten anspritzte. Es sah aus, als hätte sie die Zeit ihres Lebens.

Ich klopfte mir den Sand von den Beinen und folgte Rae. Die Sonne brannte auf meine Haut, und ich konnte spüren, wie sich der heiße Sand unter meinen Füßen festsetzte, aber ich war zu sehr in Gedanken versunken, um darauf zu achten. Der Weg zum Kiosk war nicht weit, doch es fühlte sich an, als würde die Zeit langsamer vergehen. Wir liefen nebeneinander her, und die Stille zwischen uns war fast greifbar. Ich fragte mich, worüber er wohl nachdachte. Vielleicht war er einfach nur müde von all dem Training, oder vielleicht gab es etwas, das ihn belastete.

Als wir den Kiosk erreichten, sah ich, dass sich bereits eine kleine Schlange gebildet hatte. Der Duft von frisch gebackenen Waffeln und süßem Sirup lag in der Luft, vermischt mit dem salzigen Geruch des Meeres. Kinder mit sandverschmierten Gesichtern drängelten sich in der Schlange, ihre Eltern bemüht, sie im Zaum zu halten. Ein kleines Mädchen vor uns hielt die Hand ihrer Mutter und schaute sehnsüchtig auf die Eissorten.

Rae stand neben mir und spielte mit den Münzen in seiner Hand, das leise Klirren schien seine Nervosität zu verraten. Ich versuchte, die Eiskarte zu lesen, die über dem Fenster hing, und spürte seinen Blick auf mir ruhen.

„Welches Eis möchtest du?“ fragte er schließlich, seine Stimme war ruhig, aber ich hörte eine gewisse Anspannung heraus.

„Das Kirscheis,“ sagte ich, nachdem ich die Karte studiert hatte. Ich deutete auf die Sorte und sah, wie er kurz nickte, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Etwas an seinem Verhalten war anders, und ich spürte ein leises Unbehagen in mir aufsteigen. Warum war er so schweigsam? Normalerweise hätte er einen Witz gemacht oder versucht, mich aufzumuntern. Aber jetzt war er still, in sich gekehrt, als würde er etwas mit sich selbst ausmachen.

In der Schlange vor uns begann ein kleines Kind zu weinen. Es wollte offensichtlich etwas, das ihm verweigert wurde, und die Mutter versuchte vergeblich, es zu beruhigen. Die Sonne brannte auf meinen Nacken, und ich spürte, wie meine Haut spannte. Es wurde Zeit, dass wir uns wieder eincremten, bevor wir am Abend wie gekochte Krebse aussahen. Neben uns summten Bienen um den überfüllten Mülleimer herum, und ich hielt mich unwillkürlich etwas abseits, in der Hoffnung, dass sie mich nicht belästigen würden.

„Noah scheint dich ziemlich gern zu haben,“ sagte Rae plötzlich, sein Blick nach vorn gerichtet, wo die Kassiererin gerade das Wechselgeld zählte.

Seine Worte überraschten mich. „Ja, kann man schon sagen...“ begann ich zögernd, meine Gedanken noch bei Noah und ihrem strahlenden Lächeln, das sie im Wasser trug. „Ich meine, wir haben uns ja auch eine Weile nicht mehr gesehen…“

Aber bevor ich weiterreden konnte, unterbrach Rae mich. „Sag mal, Gracie…“ Seine Stimme war nun schärfer, fast drängend. „Magst du eigentlich Mädchen?“

Ich erstarrte. Diese Frage hatte ich nicht erwartet, und ich konnte kaum glauben, dass er sie wirklich gestellt hatte. „Inwiefern?“ fragte ich unsicher, meine Arme schützend vor der Brust verschränkt. Plötzlich fühlte ich mich unwohl in meinem Bikini, als wäre ich entblößt, aber nicht nur äußerlich – auch innerlich.

Rae drehte sich zu mir und schaute mich direkt an, seine Augen schienen etwas in mir zu suchen. „Naja… du starrst Noah ständig an, bist immer in ihrer Nähe, und ihr haltet die ganze Zeit Händchen. Ist das normal? Machst du das auch mit deinen Freunden zu Hause?“

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. War das normal? Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob mein Verhalten anders war. Noah war meine Freundin, eine von den wenigen, mit denen ich mich so wohl fühlte. Aber Raes Worte ließen mich zum ersten Mal über meine Beziehung zu ihr nachdenken – über die Art, wie ich sie ansah, über das warme Gefühl, das sich in meinem Bauch ausbreitete, wenn sie in meiner Nähe war.

„Keine Sorge, ich werde dir schon nicht deine Schwärmerei zerstören,“ antwortete ich schließlich, versuchte zu lachen, doch meine Stimme klang unsicher und hohl. Raes Blick brannte sich in mein Inneres, als ob er versuchte, durch meine Fassade hindurchzusehen. Was wollte er von mir? Warum stellte er solche Fragen?

„Weißt du was? Ich geh zurück,“ sagte ich schließlich, meine Gedanken wirr und chaotisch. „Ich habe keinen Hunger mehr auf ein Eis.“ Ich wollte nur weg von diesem Gespräch, weg von den Fragen, die mich selbst beunruhigten.

Ehe ich jedoch einen Schritt machen konnte, hielt Rae mich am Arm fest. „Das ist nicht normal, Gracie. Das, was ihr macht, und das weißt du genauso gut wie ich. Also tu nichts, was du später bereuen könntest.“

Seine Worte ließen mich innehalten, und für einen Moment stand ich einfach nur da, unfähig, etwas zu sagen. Was meinte er damit? War das, was ich fühlte, wirklich so falsch? Konnte es sein, dass ich Noah auf eine Weise mochte, die nicht „normal“ war? Aber was bedeutete überhaupt normal? Diese Gedanken rasten durch meinen Kopf, und ich fühlte, wie etwas in mir kochte – Wut, Verwirrung, vielleicht auch Angst.

„Normal ist eine Illusion,“ fauchte ich schließlich und riss meinen Arm von ihm los. „Was für die Spinne normal ist, ist für die Fliege die Hölle.“ Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ging zurück zum Strand.

Wütend und verwirrt begann ich, mein Handtuch und meine Sachen zusammenzupacken. Ich wollte nur noch weg, bevor ich die Kontrolle über mich verlor. Diese ganze Situation war zu viel für mich – noch nie hatte mich jemand so direkt auf meine Gefühle angesprochen, und es beunruhigte mich zutiefst.

Rae hatte einen Nerv getroffen, den ich selbst nicht einmal wahrgenommen hatte. Hatte ich wirklich Gefühle für Noah, die über Freundschaft hinausgingen? Und wenn ja, was bedeutete das für mich? Diese Fragen wirbelten in meinem Kopf, während ich hektisch meine Sachen in meine Tasche stopfte.

„Rae soll an seinem Eis ersticken,“ murmelte ich vor mich hin, während ich meine Schuhe anzog und zum Weg aufbrach. Der Sand, der in meine Schuhe gelangte, fühlte sich jetzt noch unangenehmer an, als ob er mich daran hindern wollte, einfach davonzulaufen.

Im Hintergrund hörte ich das Lachen der Kinder und das ferne Rufen meines Namens, aber ich ignorierte es. Ich wollte nicht zurückschauen. Ich wollte einfach nur nach Hause, an einen Ort, an dem ich meine Gedanken ordnen konnte.

Als ich zu Hause ankam, lief ich direkt an meinem Dad vorbei, der mich erstaunt ansah. „Was machst du denn schon hier?“ rief er mir nach, doch ich antwortete nicht.

Bei der Treppe nahm ich immer zwei Stufen auf einmal, und schloss mich in Amalias Zimmer ein. Dort war ich vor der Welt sicher – zumindest für den Moment. Ich war außer Atem, nicht nur vom Laufen, sondern auch von den Emotionen, die in mir tobten. Die Tasche landete achtlos in der Ecke, und ich ließ mich auf Amalias schmalem Bett nieder. Ich starrte die Decke an und versuchte verzweifelt, die letzten Minuten zu verarbeiten.

Was war gerade passiert? Warum hatte Raes Frage mich so aus der Fassung gebracht? Ich hatte mich nie zuvor mit meiner Sexualität auseinandergesetzt. Natürlich hatte ich mich nie besonders zu Jungs hingezogen gefühlt, aber ich hatte das nie hinterfragt. Es schien normal, keine Schwärmereien zu haben – dachte ich zumindest.

Aber Raes Worte hatten eine Tür geöffnet, durch die ich nicht gehen wollte. „Magst du Mädchen?“ Die Frage hallte in meinem Kopf wider, wurde immer lauter und lauter, bis ich sie nicht mehr ignorieren konnte.

Meine Gedanken wanderten zurück zu Noah. An die Momente, in denen ich ihr Lachen gehört hatte, und wie mein Herz dabei einen kleinen Sprung gemacht hatte. An die Male, als sie mich aus Spaß festhielt, unsere Hände sich berührten, und wie sich dann dieses seltsame Kribbeln in meinem Bauch ausbreitete. War das alles normal gewesen? Oder hatte Rae recht – und ich war tatsächlich anders, als ich bisher angenommen hatte?

Mein Blick fiel auf die Wand, an der Amalia und ich Erinnerungen festgehalten hatten – Tickets von Ausflügen, Fotos von gemeinsamen Momenten, kleine Zettel mit Sprüchen, die uns zum Lachen gebracht hatten. Eines der Bilder erregte meine Aufmerksamkeit: ein Polaroid von letzter Woche. Wir hatten es im Garten meines Hauses gemacht, kurz bevor wir uns zum Strand aufmachten.

Rae stand vorne, weil er die längsten Arme hatte und somit das Bild machen musste. Neben ihm Noah, dann ich, und letztendlich Amalia. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie wir alle gelacht hatten, während Rae versuchte, das Bild zu schießen. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich daran dachte.

Ich löste das Bild vorsichtig von der Wand und betrachtete es genauer. Dann schob ich meine Finger über die anderen abgebildeten Personen, bis nur noch Noah zu sehen war. Sie hatte ihre Haare an dem Tag nach hinten gebunden und trug ein weißes Schulterkleid. Sie sah so unschuldig aus, ihr Lächeln war offen und strahlend, ihre Augen leuchteten vor Freude, und ihre kleine, gerunzelte Nase gab ihr etwas Liebenswertes.

Und da traf es mich mit einer Klarheit, die mich überwältigte. Wie ein Blitzschlag, der die Dunkelheit durchbricht, erkannte ich plötzlich, dass es nicht nur Zufall war, dass ich in Noahs Nähe immer so nervös und aufgeregt war. Es war nicht einfach nur Freundschaft, was ich für sie empfand – es war mehr. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich Noah wirklich mochte. Vielleicht sogar mehr als das.

Rae hatte recht. Aber die Wahrheit zu akzeptieren war nicht einfach. Es fühlte sich an, als würde sich die Welt um mich herum verschieben, als wäre alles, was ich über mich selbst geglaubt hatte, auf den Kopf gestellt worden. Hatte ich mich all die Jahre selbst belogen? Oder hatte ich einfach nie wirklich darüber nachgedacht, wer ich war und was ich fühlte?

Noah war der Grund, warum mein Herz schneller schlug, warum ich mich so unwohl fühlte, wenn sie mir zu nahe kam, aber gleichzeitig ihre Nähe suchte. Sie war der Grund, warum ich jetzt hier lag und versuchte, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen.

Ein leises Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Hastig schob ich das Foto unter das Kopfkissen und versuchte, die Tränen von meinem Gesicht zu wischen.

„Herein,“ brachte ich heiser hervor, obwohl ich wusste, dass es meine Gefühle kaum verbergen würde.

Die Tür öffnete sich leise, und der dunkle Schopf meines Vaters erschien. Er trat ins Zimmer und sah mich durch seine runden Brillengläser besorgt an. „Ich wollte nur wissen, ob—“ Er unterbrach sich selbst, als er meine verweinten Augen bemerkte. „Hast du geweint?“

Sein Mitgefühl war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Alles, was ich bis zu diesem Moment zurückgehalten hatte, brach plötzlich aus mir heraus, und ich begann zu schluchzen. Hektisch kam er auf mich zu und setzte sich neben mich aufs Bett, zog mich in eine Umarmung. Sein Klopfen auf meinem Rücken war unsicher, wie jemand, der nicht recht weiß, was er tun soll, aber es tat gut, einfach gehalten zu werden.

„Bin ich komisch, Papa?“ fragte ich zwischen den Tränen hervor. Ich hatte erwartet, dass er eine Million Fragen stellen würde, aber er sagte nichts, hörte einfach nur zu.

Für einen Moment hielt er inne, bevor er leise antwortete: „Nein, Gracie. Du bist nicht komisch.“ Seine Stimme war sanft und beruhigend. „Du bist genau richtig, so wie du bist.“

Seine Worte brachten mir eine seltsame Art von Trost, die ich in diesem Moment so dringend brauchte. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Schulter und ließ die Tränen weiterfließen, bis die Erschöpfung mich übermannte. Und irgendwie, tief in mir, begann ich zu glauben, dass mein Vater recht hatte.

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